Mittwoch, 27. April 2011

Die Katastrophe Tschernobyl

Gestern Abend, als die Kühle des sonnigen Tages in gefühlte arktische Kälte umschlug, entzündeten wir in unserem Urlaubsdomizil alle vorrätigen Kerzen, bereitete ich mir - natürlich - ein Kännchen lecker Milchkaffee, zogen wir uns dicke Socken an die Füße und zappten ein wenig durch die Programme.
Sicherlich - wir hätten auch "Mensch ärger dich nicht" oder "Canasta" oder auch "Backgammon" spielen können. Hätten wir! Hätten wir nicht all diese lustigen, zeitvertreibenden Spiele zu Haus gelassen.
"Wenn ich nicht an alles denken würde, aber ich kann eben auch nicht an alles denken!"
Diesen Vorwurf Posemuggel Schatzis lachte ich hinweg. Ich meine, er brauchte doch nur mal an den Ostseetrip im letzten Jahr denken, meine Freundin und ich, und nach dem Lesen des entsprechenden Blogeintrags "Aber nicht hier bei uns!" hatte er noch säuerlich kommentiert: "Typisch!"
Tja, und eigentlich kennen wir uns inzwischen auch lang genug, als dass er wissen müsste, dass eben auch ich nicht an alles denken konnte.
Egal wie, wir zappten uns munter rauf und runter und das Grinsen in Mund- und Augenwinkeln erstarrte leicht beim Hängenbleiben des gestrigen Fernsehprogramms, das im Angedenken an das Reaktorunglück vor 25 Jahren in Tschernobyl aufgestellt worden war.
Zahlen und Fakten hört man ja doch immer mal wieder, aber wenn dir so menschliche Schicksale vor Augen geführt werden... Die junge Russin, die den Deutschen heiratete, den sie während seiner Recherche über die Kriegszeiten in Russland kennen gelernt hatte, die neun Monate später an Brustkrebs erkrankte und ungefähr ein Jahr danach starb.
Der junge Russe, den man eines Tages tot im Wald fand, und der zeit seines jungen Lebens um die finanzielle Anerkennung gekämpft hatte, dass seine Krebserkrankung eine Folge des Tschernobyl-Unglücks gewesen war - und diese Entschädigung nie bekommen hatte.
Menschliche Schicksale berühren soviel mehr als das Auflisten nüchterner Zahlen und Fakten und ich persönlich empfand es als eher erschreckend, dass Tschernobyl bis heute ein Anziehungspunkt für Touristen und sonstige Besucher ist. Ich glaube, man kann sich überhaupt nicht vorstellen, was für ein Leid und Leiden mit diesem Reaktorunglück über die Menschen dort und auch anderswo gekommen ist. Schlimm finde ich auch, dass immer erst etwas passieren muss, damit es zu einem Umdenken führt. Ja wenn es denn auch ein Umdenken gäbe. Ich meine, was gab es damals für ein Geschrei und gleichzeitig die mediale Beschwichtigung "Deutschland bleibt davon unberührt". Ha ha. Ich weiß zumindest nicht mehr, wie schnell sich dieses Geschrei auch wieder beruhigt hat. Dasselbe erleben wir ja jetzt bei Fukushima. Ein paar Tage lang keine Nachrichtensendung, die nicht auskam ohne neue Bilder des Unglücks und ohne neue Kommentare, von denen man ohnehin nicht weiß, wie viel von dem wahr ist und wie viel geschönt oder auch geschürt. Und jetzt? Wer redet jetzt noch davon? Bewegt sich etwas außer dem Aufstieg der Grünen, von denen ich trotz alledem denke - und da könnt Ihr mich schelten, wie Ihr wollt - dass sich auch bei einer erneuten Rot-Grünen-Koalition nichts ändern wird an dem, wie es bisher war? Es geht immer nur ums Geld, und das wissen auch die Grünen. Es geht nur ums Geld und um die Macht. Nicht umsonst nämlich erfährt man in nächtlichen Reportagen, hübsch versteckt angesichts der Sendezeiten, dass mit der eingeführten Öko-Steuer die Finanzlöcher gestopft werden, die zum Beispiel der unsinnige Bau von Brücken, Tunneln und dem Bundestag in Berlin gerissen wurden. Wen kümmert es da schon, dass der Sarkophag in Tschernobyl brüchig geworden ist, dass das Geld für den neuen Sarkophag fehlt, vielleicht auch deshalb, weil die Ukraine, mega enttäuscht von Russland, lieber erst mal die eigene Unabhängigkeit versucht zu finanzieren bzw. aufrechtzuerhalten und auf Hilfe von außen hofft, als die Finanzmittel in den Sarkophag zu stecken.
Doch wenn man das alles mal zur Seite schiebt und sich darauf konzentriert, was dieses Unglück für die Menschen bedeutet und selbst nach 25 Jahren noch immer bedeutet, wenn man sich darauf konzentriert, dass es einiger hunderttausend Jahre bedarf, eh dieses Unglück wirklich überstanden ist, wenn man die menschlichen Schicksale betrachtet und auch betrachtet, dass jeden Tag in jedem Land so etwas geschehen kann, dass wir endlich lernen müssen, behutsam mit dem umzugehen, das wir in unseren Händen halten - dann wünschte ich mir, dass es mehr solcher Beiträge wie gestern Abend gibt, die die Menschen nicht vergessen lassen, welche Verantwortung sie tragen - und dass es diese Beiträge nicht nur anlässlich eines Jahrestages gibt, von denen man sich wünschte, es hätte diesen niemals gegeben. Jedenfalls ich... konnte letzte Nacht lange nicht einschlafen, weil ich vor meinen Augen die menschenleeren Städte inmitten der Sperrzone sah, die nie wieder bewohnt werden können; die missgestalteten Kinder, die OP-Narben am Hals der Menschen, die Augen der Krebskranken, die tief in den Höhlen liegen und den Glanz längst verloren haben - und ich daran denken musste, dass allein der Mensch dafür die Verantwortung trägt, dass eine einzige Fehlentscheidung eines hochrangigen Ingenieurs zu diesem Unglück geführt hat  -  dass sich niemals alle Eventualitäten im Voraus kalkulieren lassen. Naiv oder nicht - an dieser Stelle wünschte ich mir wirklich eine Welt, an der es einmal weniger um das verdammte Geld geht als um das kostbarste, das wir haben: unser aller wunderbares einziges Leben auf einem Planeten, von dem wir übrigens nicht weg können, wenn wir den ganz zerstört haben. Also... Carpe diem.

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