Freitag, 14. Oktober 2011

Fernweh



Als ich heute Abend heimkehrte, glaubte ich zunächst, ich würde die Einkaufstaschen abstellen und dann scheintot in die Ecke kippen - so müde war ich. Nun weiß ich gar nicht, liegts an der neuen Sportart oder auch nicht - jedenfalls kehrte nach nur wenigen Minuten Pause neue Kraft, neue Energie zurück. Der Wunsch, mir das Haar zurechtzumachen, die Wimpern zu tuschen und hinaus in die Welt zu laufen, einzutauchen in die Großstadtlichter, die mich blenden und wo ich mit einem Lachen die Hand hebe, um den Blick zu schützen...
Mir war danach, den Schal um den Hals zu schlingen, mich einzukuscheln in den Mantel und meine Sehnsucht hinaus in die Welt zu tragen... Die Sehnsucht danach, ganz einfache, simple Dinge zu tun und mich wohl und glücklich dabei zu fühlen...

die vielen verschiedenen Menschen um mich herum, die mich weder sehen noch beachten...
die Autos, wie sie ihre Fahrer von einem Termin zum anderen bringen...
die Enge der Gassen...
die Bewegungen, in denen wir keine Zeit haben zu verharren...
das Murmeln der vielen tausend Gespräche um mich herum...
manche Menschen sitzen da in Ruhe  und trinken Kaffee oder lesen etwas...
andere laufen zur Bahn oder noch schnell in den Supermarkt...
und mittendrin ich... das Ganze beobachtend mit einem anderen, meinem ganz eigenen Blickwinkel...
nur betrachten...
hören...
fühlen...
riechen...
genießen...
Seither sind über zwei Stunden vergangen und inzwischen... möchte ich den Mantel nicht mehr überstreifen, möchte ich nicht mehr hinaus in die Welt. Sondern möchte ich weiter auf dem Fußboden liegen, auf dem Bauch, der Musik lauschen, die mich nach der Anspannung dieser Woche hinunter auf den Boden holt, die mich berieselt und in mir alles zum Erklingen bringt; möchte ich die Wärme genießen, den Gedanken nachhängen - in dem Bewusstsein, dass es eigentlich schade ist um diesen weiteren Freitagabend, der ungenutzt verstreicht.. Ungenutzt... Wie viel Zeit lassen wir ungenutzt verstreichen? Wie viel Raum lassen wir zuweilen ungenutzt? Wie viele Möglichkeiten verschenken wir an jedem einzelnen Tag?
Mein Kopf ist gerade voll... Übervoll. Mein Herz ist gerade voll... Übervoll. Alles quillt über, alles ist zum Bersten angefüllt mit Liebe, Sehnsucht, Fernweh... Nein, die Musik ist nicht schuld daran. Die Musik erinnert mich nur. An all das, was ich fühle, was ich denke, was ich wünsche. Wenn ich jetzt hinaus in das Nachtleben tauche, ist dies nur ein kurzer Moment, ein Ausriss dessen, was ich eigentlich wirklich möchte...
Fort von hier. Weg von hier. Hinaus in die Welt und in Jeans und groben Schuhen mit anderen Menschen, die vielleicht nicht einmal meine Sprache sprechen, an einem Feuer sitzen. Hineinschauen. Das Essen teilen. Das Wasser teilen. Völlig auf den Moment konzentriert sein, im Jetzt und Hier... Dankbarkeit empfinden für das, was mir gegeben wird. Dankbarkeit empfinden für den Augenblick der Ruhe, der Harmonie, des Miteinanders, auch wenn gerade niemand spricht... Ich mag es so, wenn Menschen einander die Hände reichen und einander halten. Ich mag es, wenn Menschen sich ein Teil des Kindes in ihnen bewahren können... Kindliche Freude. Dankbarkeit. Zutrauen. Vertrauen. Begeisterung...




In den letzten Monaten oder auch Jahren habe ich vieles gesehen und vieles gehört. Vieles, das mich lähmt, das mir den Hals zuschnürt, das mir die Energie auszehrt. Die Zeit ist voll von Eindrücken wie diese, dass die Menschen lügen, betrügen, nicht beachten, nicht berühren. Wir Menschen neigen doch irgendwie dazu, uns mehr auf das Negative zu konzentrieren. Auf das, was uns fehlt. Und verwehren uns damit den Blick auf das, was so wunderbar ist in unserem Leben. Im Jetzt und Hier. Eigentlich... ist das auch ok. Wir können schließlich nicht dauergrinsend und dauerglücklich durch die Welt laufen und glauben, alles sei immer nur schön. Jedoch auf Dauer negativ denken, fühlen... das macht mich irgendwie krank. Zuviel Negatives, das meinen Raum füllt - und das zerrt und zehrt an mir. Ich wünsch mir momentan ein bisschen mehr Positives. Ein bisschen mehr Bewusstsein in uns für das, was wir an Schönem haben. Ein bisschen mehr Gelassenheit und Nachsicht, ein bisschen mehr Einsicht, dass sich nicht alles sofort und jetzt und hier erfüllen lässt - und die Erkenntnis, dass vor allem in dem Weg, den wir gehen, die Erfüllung liegt...
Und darum will ich raus. Fort. Gehen. Innen und außen. Und mich mit Menschen umgeben, die gerade in sich ruhen. Die Glück empfinden, auch wenn ihr Leben unvollkommen scheinen mag. Die den Augenblick wahrnehmen und ihn bewusst erleben. 
Heute Abend beim Einkauf, beim Herauslösen des Einkaufswagens stand ein alter Mann neben mir. Sein Gesicht war klein und ausgesprochen faltig - aber er hatte klare hellblaue, strahlende Augen. "Es wird schon so zeitig dunkel", sprach er mich an. Ich wandte mich ihm zu und schaute ihm in diese wundervollen blauen Augen, in denen noch so vieles stand, so viel Freude am Leben, gleich einem Funkeln, das erst erlöschen würde, wenn sich diese Augen für immer schließen würden, und ich sagte zu ihm: "Warten wir doch einfach nur bis morgen früh" und er lächelte mich an, ich lächelte ihn an - und dann kramte er in seinen Taschen und steckte sich vergnügt sein Pfeifchen an...

2 Kommentare:

Veneficias hat gesagt…

Manchmal muss man einmal kurz weg um zu wissen wo man bleiben möchte. Muss allem die Möglichkeit geben auch einmal aus einem anderen Blickwinkel betrachtet zu werden.
Mich plagt weniger das Fernweh, in alle meinen Tag- und Nachtträumen schleicht sich das Heimweh ein. Dominiert und beschwert alle meine Gedanken und auch dann, gefangen in dem ganzen Schwermut geht bei einem unvorhergesehenen Lächeln, einer netten Geste, einer helfenden Hand, einer herzlichen Umarmung plötzlich die Sonne auf.
Wir sind die Krieger des Alltags, denen man leider die richtigen Waffen weg genommen hat...

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Ja das ist es ja... Manchmal muss man gehen, nur um wiederkommen zu können... Vielleicht nicht nur, um zu wissen, wohin man gehört - sondern vor allem, um sich daran zu erinnern, DASS man dorthin gehört...
Heimweh empfinde auch ich. Heimweh nicht nur nach dem Meer, dem Zuhause, sondern auch Heimweh nach dem eigenen Ich... Wie schnell geschieht es, dass wir Schritt halten wollen in einer Zeit, die derart schnell läuft, dass wir kaum zum Atmen kommen; dass wir uns einfügen wollen oder müssen - und uns damit ein ungewolltes Ich überstreifen wie eine zweite Haut, von der wir manchmal nicht mehr spüren, ob es noch unsere eigene ist... DANN möchte ich mich herauslösen... Innerlich und äußerlich fortgehen, um mich selbst wiederzufinden...