Montag, 3. November 2014

Bin aus den Nachtsorgen gekrochen wie ein Vogel aus dem Ei

"Bin aus den Nachtsorgen gekrochen wie ein Vogel aus dem Ei.
Hab die Schale durchbrochen und spaziere nun frei."

Ich weiß nicht mehr, wie das Buch hieß, in dem ich diese Zeilen las, ich weiß nur, dass es unglaubliche dreißig Jahre her ist, dass ich sie las. Manchmal muss ich ja schon ein bisschen über mich lachen: Es gibt Dinge, die kann ich mir von jetzt auf gleich nicht merken, schnipp, weg sind sie. Anderes hingegen, das nicht mal tieferen Sinn haben muss, bleibt auf immer und ewig hinter der Stirn.
Ich hab Momente, da fühlt sich die Schicht um mich herum wie ein Panzer an, nichts "Böses" kommt da durch, prallt ab und verliert sich.
Und ich hab Momente, da lege ich unbewusst diesen Panzer ab, fühle ich mich durchströmt von Eindrücken, Wahrnehmungen, gegen die ich mich nicht wirklich wehren kann - und sie tun mir weh und reißen mich um.
Therapeuten oder Philosophen würden jetzt den Finger heben, lächeln und sagen: "Der Herbstblues - ganz klarer Fall!" Vielleicht hätten sie recht, vielleicht auch nicht? Dinge kommen, Dinge gehen, so auch die Stimmungen und die Wahrnehmungen, ob Frühling, Sommer, Herbst oder Winter.
Als ich noch ein wenig jünger war, empfand ich mich als wesentlich... ja... robuster vielleicht. Jetzt überlege ich manchmal, ob das einfach auch "nur" eine Leichtigkeit der Jugend ist oder war, weil man einerseits zu wenig sah und wusste und über die Eventualitäten im Leben eben dann doch hinweggetänzelt ist wie ein Schmetterling. Zumindest hatte mir diese Eigenschaft mal eine Freundin bescheinigt, aber das ist gut zehn Jahre her und ich bin nicht sicher, ob sie heute noch dasselbe von mir sagen würde.
Ich meine, am Samstag fühlte ich mich noch so wohl. Alles war gut, alles war rund. Am Abend sortierten wir die Kleiderschränke neu. Warum nicht alles mehr reinpasst, weiß ich gar nicht, aber irgendwie genügte mein wundervoller antiker Kleiderschrank für meine Sachen nicht mehr; die gelben Seiten räumten mir großzügig dafür Platz in seinem ein dann sah er mir interessiert dabei zu, wie ich ein Kleidungsstück nach dem anderen ablegte (doch, man kann ins Schwitzen kommen, wenn man die Musik aufdreht, die Klamotten von Schrank A nach Schrank B sortiert und dabei noch singt und tanzt). Und von einem Moment auf den anderen findet man sich in Diskussionen wieder, für die allein eine whatsapp Nachricht vom Sohnemann genügte...
Der Samstag Abend war im Arsch, kann man ruhig so sagen, und der Sonntag still und ruhig, ein vorsichtiges Miteinander.
Monatelang hab ich mich zerrissen gefühlt in den Wünschen, mit den gelben Seiten zu leben und aber irgendwie auch mein Leben mit meinen Jungs zu teilen. Mehr oder weniger. Sie müssen ja nicht mit mir in meinem Haushalt leben, aber so weit weg... Das ist die bekannte Konsequenz, wenn man eine Fernbeziehung eingeht. Mir war das immer bewusst, doch als dann die Zeit gekommen war, fühlte ich auch, wie schwer es mir fiel. Dennoch sind wir diesen Schritt gegangen, meine Söhne und ich, und ich sage nicht, dass ich diese Entscheidung bereue. Nein, das tu ich nicht. Letztlich denke ich eher, dass es schon auch eine Entscheidung war, die längst getroffen hätte sein sollen.
Gestern Abend lag ich auf dem Sofa, die Beine von mir gestreckt, im TV lief ein Polizeiruf: Frau trennt sich von Mann, drei gemeinsame Kinder, das jüngste kaum ein Jahr. Mann unternimmt letzten Anlauf zur Versöhnung, erkennt aber auch, dass Frau bereits einen anderen Mann liebt.
Er bringt sie um. Sie und zwei der drei Kinder.
Ich sehe das und denke: Bei allem, das ich selber im Scheidungswahn erlebt habe, kann ich wirklich froh sein, dass mein Ex diesen letzten, mehrmals angedrohten Schritt dann doch nicht gegangen ist.
In der Zeit der Ehe hatte ich - das muss ich so zugeben - nicht wirklich viel Zeit für meine Söhne. Ja, ich hab sie viel geknuddelt, geknutscht, auf dem Schoß gehabt, aber vor allem habe ich immer unter Stress und Druck gelebt. Und in Angst. Das Leben war eine minutiös geplante "Angelegenheit", alles musste möglichst reibungslos laufen, vor allem wollte er dabei nicht gefordert sein.
In diesen Jahren habe ich vor allem begriffen, unter welchem Druck meine eigene Mutter früher stand und dass bestimmte Situationen und Reaktionen nicht bedeuteten, dass sie mich nicht liebte, sondern dass sie einfach keine Zeit und keine Kraft hatte.
Nach der Trennung und auch der Scheidung drei Jahre später habe ich vor allem immer eins versucht: meinen Kindern ein Leben zu ermöglichen, so frei, so unbeschadet und vor allem so leicht wie möglich. Nicht weil ich ein schlechtes Gewissen ob der Entscheidung zur Trennung hatte. Sondern weil sie seit der Trennung viel zu vieles sehen und mit durchstehen mussten, vor dem ich sie nicht schützen konnte. Wilde Verfolgungsjagden mit dem Jungen auf seinem Beifahrersitz, wieder und wieder, von meiner Arbeit bis zu meinem neuen Zuhause, weil er immer sehen wollte, ob ich allein war oder doch einen neuen Partner hatte. Tabletten und Alkohol: "Du willst zu deiner Mutter? Das kannst du natürlich machen. Ich beruhige mich schon irgendwie, ich schlaf einfach das ganze Wochenende." Den Arm, den er mir vor den Kindern so heftig auf den Rücken drehte, dass die Bänder in der Schulter unwiderruflich kaputt gingen, nur weil ich nicht der Meinung war wie er, dass die Ehe noch zu retten sei. Im Gegensatz zu ihm war ich völlig ruhig, ohne ein Wort, ohne eine Träne, vielleicht war es der Schock, während er austickte: "Junge, hast du das gesehen? Deine Mutter hat mich geschlagen, ich musste mich wehren" und der Junge schaut mich an: "Nein Vater, das habe ich nicht so gesehen."
Ich kann und ich will sie gar nicht alle erzählen, die Dinge, die vorgefallen sind, niemand weiß alles aus dieser Zeit, nur mein Ex und ich, doch bis heute fühle ich meine Schuld, dass meine Kinder nicht die Kindheit hatten, die jedes Kind haben sollte. Mir ist auch bewusst, dass sie mittlerweile in einem Alter sind, in dem sie Verantwortung für ihr Leben übernehmen können und müssen, dass sie auch in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen. Doch bedeutet das, dass ich von nun an nur noch mein Leben lebe, Geld für meine Wünsche zur Seite lege und nur dann hilfreich zur Seite steh, wenn gar nichts mehr geht?
Ich denke dann oft daran, wie ähnlich meine eigene Mutter und ich uns sind. Wie oft und wie sehr sie mir geholfen hat, gerade in der Zeit der Trennung, aus der ich nichts mitnahm als die Klamotten und das Bett fürs Kind. Mein Vater weiß so vieles nicht. "Sie sind erwachsen, sie müssen für sich selber sorgen", sagt er immer und hat ja auch nicht unrecht. Jedoch das Leben ist nicht immer nur einfach und geradlinig, und wie schnell vergisst der Mensch, dass auch er auf Hilfe angewiesen war, wenn er sich selbst stabilisiert hat? Warum vergisst der Mensch so schnell? Warum vergisst er, wessen Schulter er sich bedient hat, warum vergisst er, dass auch ihm oft genug geholfen worden ist? Warum neigt der Mensch dazu, immer mehr vor allem an sich und die eigenen Bedürfnisse zu denken?
Ich bin so nicht und ich kann so nicht.
Laut aktuellem Bafög-Bescheid, der nach - man glaubt es kaum - fünf Monaten Bearbeitungszeit endlich vorliegt, müsste ich Sohnemann 240 Euro monatlich zahlen. Der Vater ist raus, der verdient zu wenig. Rechne ich zusammen, was ich Junior monatlich zukommen lasse, komme ich auf nicht ganz 500 Euro. Mit dieser Summe liege ich bei genau dem, was unser Haushaltsplan schon vor fast einem Jahr ergeben hat: Für mich ist das in Ordnung. Und ich möchte nicht damit gequält werden, wo und an welcher Stelle sich noch etwas optimieren lässt, damit die knapp 500 Euro sich auf vielleicht 450 oder gar 400 Euro drücken lassen, weil, wir haben ja auch noch Träume und Wünsche. Ich möchte aber einfach nur zu dem Wort stehen, das ich insbesondere dem Jüngeren gab, als noch nicht daran zu denken war, dass er und sein Bruder eine WG gründen: "Ich bin für dich da und ich helfe dir - bis zu der Summe X ist es möglich. Wenn du noch mehr oder andere Wünsche hast, such dir eine Arbeit und verdien dir was dazu."
Aber ich habe ihm auch gesagt: "Such dir einen Nebenjob, damit du auch abgesichert bist. Wenn mir mal was passiert, stehst du von einem Tag auf den anderen ohne Geld da, zumindest für ein paar Wochen. So abhängig darfst du niemals von jemandem sein!"
"Dir passiert nichts, meine Seerose", hat er geantwortet, "über dir schwebt mein Schutzengel!"
Bislang hat er sich zwar mehrfach beworben, einen Nebenjob dennoch nicht begonnen. Ich rege mich nicht mehr darüber auf und rede auch nicht mehr rein: Wenn Wünsche Geld kosten, muss er halt sparen oder eines Tages eben doch arbeiten gehen. So einfach ist das für mich. Eigentlich.
Ich glaube, ich hocke immer noch in diesem Ei. Ich habs noch nicht geschafft, da herauszukriechen, und dabei will ich und muss ich: Das Leben ist doch zu schön, um traurig zu sein. Eigentlich.

11 Kommentare:

Unknown hat gesagt…

Und da wunderst Du Dich, daß Du nicht mehr so unbeschwert bist wie der besagte Schmetterling, liebe Helma? Du hast eine Menge mitgemacht und Dir viele seelische und sogar körperliche Blessuren zugezogen... Das hinterlässt Spuren, da hat man ein ziemlich schweres Päckchen zu tragen, mit dem es sich nun mal eben nicht mehr immer so leicht herumflattern lässt. Und gerade das macht es noch bewundernswerter, daß Du bei alledem nicht das Wohl Deiner Jungs aus den Augen verlierst. Das hat nichts mit schlechtem Gewissen zu tun, sondern mit Liebe und Verantwortung.
Liebe Grüße von Felia, die Dich für eine Löwin hält...

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Felina, ich bin sehr dankbar für Deine Worte. Und ehrlich gesagt, habe ich es so rum noch nicht betrachtet. Oder vermutlich nicht bis zum Ende dieser Konsequenz gedacht.
Ich bejammere das Fehlen meiner Leichtigkeit und fühl mich andererseits nicht erst seit gestern erdrückt von Erlebtem. Zumindest weiß ich, dass ich mich heut langsamer "erhole" als noch vor ein paar Jahren. Dafür hat nicht jeder Verständnis (gehabt), es hat mich auch Beziehungen/ Bindungen gekostet. Es ist sehr einfach, Freunde/ Partner zu haben, wenn man sonnig durchs Leben flattert. Ich kann das. Es geht aber auch anders.
Manchmal möchte ich mir alles, wirklich alles von der Seele schreiben, damit ich endlich einen Haken dahinter setzen kann. Und dann mach ich es doch wieder nicht. Zum Schutz von Beteiligten und auch, weil ich mir denke: Irgendwann muss man doch auch so einen Punkt erreicht haben, wo man etwas hinter sich lässt.

Anonym hat gesagt…

Ach Helma, zeig mir mal denjenigen, auf dessen Schultern eine Menge Verantwortung lastet(e) und der weiterhin leicht wie ein Schmetterling durchs Leben flattert. Wenn du so jemanden gefunden hast, würde ich ihn sehr gerne mal treffen, um von ihm zu lernen. ;)

Und wenn ich ein bisschen böse wäre - was ich gerade bin [die Schaumbadepisode ;)] - dann würde ich sagen, dass vielen schmetterlingshaft durchs Leben flatternden Menschen der Tiefgang fehlt und sie vor allem um eines Sache kreisen: um sich selbst. Ich mag Schmetterlinge und schaue ihnen gerne und bewundernd nach, aber sie hinterlassen keinen bleibenden Eindruck bei mir. ;)

~ Clara P. ~ hat gesagt…

Liebe Helma, kann man Dinge aber nicht auch erst dann hinter sich lassen, wenn man sie auch wirklich zu Ende gefühlt hat? Da reicht es eben nicht zu sagen "es muss jetzt genug sein" - Gefühle hören auf sowas nicht.

Vielleicht wäre es hilfreich, wenn Du einen ganz fremden Blog aufmachst, wo keiner weiss wer Du bist und Dir da alles von der Seele schreibst? Ein Ort, der Dir ganz allein gehört und an dem Du das Erlebte einfach rauslassen kannst wie es Dir passt? Möglicherweise würde es helfen, ich könnte es mir jedenfalls vorstellen.

Und ja - der Mensch vergisst zu schnell, wo er selbst mal stand und wie hart es dort war. Wie wichtig es war, dort Hilfe zu bekommen und anzunehmen. Das vergessen ganz viele Menschen, leider.

Ich wünsche Dir, dass das Licht die Schatten erhellt und dass sich die für Dich und Deine Kinder besten Lösungswege ergeben.

Lg
Clara

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Miss April, ich denke absolut wie Du. Insofern erschreckt es mich manchmal doch immer noch, dass Menschen nicht "bei Dir" sein wollen, wenn Du nicht gerade leichtfüßig durchs Leben tänzelst. Was wir als interessant und tiefgehend empfinden, ist für andere einfach nur anstrengend. Das ist es sicherlich auch, aber solange man immer noch wieder aufsteht und weiter... fliegt? Manchmal fliegt man, manchmal klebt man fest am Boden. So ist wohl das Leben.
An mir habe ich festgestellt, dass es "raus" muss, dass ich mich selbst "erleichtern", mich "frei machen" muss, dann stell ich mich auch wieder gerade auf die Beine. Solange ich das nicht mache, krebse ich am Boden rum.
Und da ich ja heute nun doch etwas rausgelassen hab... besteht also Hoffnung für heute. Oder morgen. ;)

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Clara, ich hatte haargenauso einen Versuch gestartet, bei blogigo "Mohnblumenfelder": Dieser wurde gefunden, wie und auf welchem Weg, weiß ich nicht, aber er wurde gefunden. Ist ja irgendwie auch logisch: Wenn man nicht will, dass man etwas finde, stelle man das doch auch nicht ins Netz.
Ich hatte dennoch diesen Weg gewählt, weil ich hier und auch damals im "Kieselstein" fühlte, wie wichtig mitunter eine Reaktion, eine Betrachtungsweise eines völlig Fremden, Unbeteiligten sein kann.
Die Mohnblumenfelder habe ich gelöscht, als mir gesagt wurde, dass und wer ihn gefunden hatte und was es mit ihm gemacht hatte. Seitdem... kann ich das nicht mehr aufschreiben.

Lascincoies hat gesagt…

Es haben schon einige kommentiert, aber ich mag nicht alles lesen, bin jetzt grad in Fahrt; entschuldige also, falls ich was wiederhole.

Es ist immer das gleiche Thema. Egal ob es dabei um die Kinder, die Verwandten, die eigenen Eltern geht.
Es gibt Familienmenschen und es gibt Menschen, die haben Familien. Familienmenschen verstehen sich als Teil eines Ganzen und stehen den eigenen Lieben in guten wie in schlechten Zeiten zur Seite. Egal womit. Geld, Zeit, Fürsorge, Liebe, was man halt geben kann. Diese Bereitschaft zu helfen wird nicht infrage gestellt, weil es Teil von uns selbst ist.

Menschen mit Familien hingegen sehen das Ganze etwas anders. Die sind in schwierigen Zeiten eher fähig, den eigenen Leuten den Rück hinzudrehen. "Nicht mein Problem", "die sind erwachsen", "selber gucken", "ich hab auch Sorgen und jammere nicht rum" etc.

Nervig wirds, wenn der Familienmensch vor die Wahl gestellt wird oder ständig angemöft, weil er hilfsbereit ist, manchmal bis zur Grenze der Aufopferung (was ich auch nicht gut finde).
Mein Ex störte sich daran, dass ich soviel Zeit bei meinen Eltern verbrachte, als bei uns eine akute Krise ausbrach. Er verstand nicht, warum ich mich mir 'derer" Probleme belasttete und er wollte insbesondere nichts davon hören. Ich sollte die Probleme bitte in Elternstadt lassen und nicht in unser Beziehungsleben reinziehen.

Wir sind nicht mehr zusammen.

Ich denke nicht, dass wir mit dem Alter schwächer werden, aber es fällt uns sicherlich schwerer, unbeschwert durchs Leben zu gehen. Einfach, weil wir den Rucksack voller guter und schlechter Erfahrungen haben und der zieht uns runter. Der gehört zu uns und den werden wir nicht mehr los. Aber wir können den ab und zu ablegen und barfuss am Strand tanzen.

Anonym hat gesagt…

Morgen Helma,
dass du so bist, wie du bist, ist doch vollkommen normal. Wen ich lese, was du alles mitgemacht hast, das prägt doch, das kannst du doch nicht vergessen. Sei froh, dass du keinen grösseren Knacks davon getragen hast (das war jetzt nicht böse gemeint ;-))
Wie ist eigentlich das Verhältnis deiner Söhne zu ihrem Erzeuger? Ist es "normal"? Haben sie eins? Wollen sie eins? Erinnern sie sich noch an diese Zeit?
Mein Sohn erinnert sich fast nicht mehr an unsere "schlimme" Zeit! Wir haben zwar auch immer versucht, dass er nichts mit bekommt. Aber ich hatte immer Angst, dass er davon geprägt würde.
Noch einen schönen Tag, obwohl es regnet.
Noemie

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Noemie, ich finde mich auch nicht unnormal, doch ich hab es öfter erlebt, dass ich mich beinah dafür entschuldigen musste, dass mir eben auch nicht jeden Tag die Sonne aus dem dunkelsten Winkel scheint. Bzw. habe ich dann eben auch hinnehmen müssen, dass ich in solchen Momenten meist alleine geblieben bin. Daran habe ich mich inzwischen gewöhnt, so dass ich heute eher gern allein bin und mehrere Menschen auf einmal nur wenig ertrage. Bzw. nur dann, wenn ich jederzeit aufstehen und gehen kann ;)
Der Jüngere weiß weniger aus dieser Zeit, denn der war von Anfang an bei mir, er war noch klein und hat auch vom Vater nicht so viel "mitbekommen" wie der Ältere. Der Ältere wollte damals beim Vater bleiben. Er kämpft im Grunde von klein auf an um die Liebe und Anerkennung des Vaters (und für mich ist das doppelt schmerzhaft zu sehen, weil der Vater mit seinem Vater diesen Kampf genauso führte und es gerade deshalb besser wissen müsste!) und abgesehen davon, dass der Große sehr an der Familie hängt, dass er sehr harmoniebedürftig ist, ist es ihm bis heute wichtig, dass man auch dann, wenn man sich aus dem Weg geht, nicht im Streit getrennt hat. Nicht nur äußerlich, auch dem Wesen nach kommt er absolut nach mir.
Der Jüngere ist da ganz anders, der sieht seinen Vater mitunter monatelang nicht und kritisiert ihn auch offen. Das liegt aber sicherlich auch an der Beziehung des Vaters, denn die Freundin ist echt noch einen Zacken schärfer als er. Kann man sich fast nicht vorstellen, ist aber so.
Sie erzählen nur wenig und ich frage auch nicht - sie kommen von allein, wenn sie was sagen wollen. Aber es gab schon Momente, wo ich mit dem Großen mit dem Auto unterwegs war und dann rechts ranfahren wollte, weil ich dachte, ich muss heulen vor Wut, wie beide mit ihm umgegangen sind.
Auch deshalb war immer mein Bestreben, den Jungen da rauszuholen, ihm einen Raum geben zu können, wo er atmen kann, wo er er selbst sein kann. Solange mein Ex das Kindergeld für den Jungen bekam (bis letztes Jahr August wg Zweitausbildung), überzeugte der Vater ihn zu bleiben. Selbst mein Vater, der auf meinen Ex immer große Stücke hielt und irgendwie auch noch hält, sagte: "Pass mal auf, wenn der Junge kein Kindergeld mehr kriegt, fliegt er raus." So wars dann auch. Vorher hab ich den Jungen da nicht wegbekommen.

Anonym hat gesagt…

Liebe Helma, manchmal ist alles traurig und dunkel und manchmal ist alles voller Farbe und Licht.

Auf deinen Schultern lastet viel, die Schmetterlingsflügel sind ein bisschen eingeknickt, aber nicht gebrochen. Denn bald wird sanft Farbe und Licht am Horizont zurückkehren, der Schmetterling seine Flügel ausbreiten und dem immer heller werdenden Licht entgegenfliegen.

Du hast so viel geschafft in den harten Jahren die hinter dir liegen, manchmal braucht es eben zwischendurch eine Phase des sackenlassen, trauern und verarbeiten, um wieder neue Kraft, neue Zukunftsenergie schöpfen zu können. Nimm dir alle Zeit, die du dafür brauchst. Man kann nicht alles in der Vergangenheit erlebte einfach hinter sich lassen, sondern nur lernen damit umzugehen. Mal klappt es besser, mal weniger gut.

Ella

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Ella, ja, manchmal ist alles zum Verrücktwerden, und manchmal ist es auch einfach zuviel: Dann kann ich mit vielen Eindrücken nicht mehr so gut umgehen. In diesen Momenten möchte ich mich zurückziehen, mit mir allein sein.
So war ich früher gar nicht, ganz im Gegenteil. Ist es das Leben, das mich so geformt hat? Ist es die Last, die die Flügel drückt?
Eben das Erreichte, wie oft habe ich mir das vor Augen geführt und gesagt: "Allen zum Trotz - jetzt erst recht!" Heute bin ich viel kopfbestimmter als ich es je war, und doch glaube ich, dass ich immer noch ein Gefühlsmensch bin, der leidet wie ein Hund, wenn es zwischenmenschlich knarzt und kracht.
Bei Deinem Absatz über das Sackenlassen.. da dachte ich spontan an die Reha, wo ich vor ein paar Jahren war, und wo man mir sagte: "Verarbeiten ist zu lernen, das Erlebte in eine Kiste zu tun, möglichst eine Kiste mit sieben Schlössern. Und wenn sich diese Kiste öffnet, musst du wissen, wie du das, was da rauskommt, wieder zurücklegst und die Schlösser erneuerst."
Es ist wie Du sagst: Mal klappt es besser, mal weniger gut.
Manchmal will ich es so und manchmal schmerzt es, dass in der "mal weniger gut"-Phase eher niemand da ist. Oder da sein will. Oder da sein kann.
Heute.. geht es mir schon wieder besser. Das ist das einzige, worauf ich mich verlassen kann: Dass ich, wenn ich "abstürze", weiß, wann und wie ich wieder gerade stehe.