Sonntag, 12. Juli 2015

Love Within



Vor gut einer Woche fuhr ich nach L. Jedesmal begleitet mich vor allem eins: die Musik.
Für mich persönlich ist es das bisher beste Projekt Tinas. 
Für diesen Titel braucht man Geduld... und Muße.
Ich hatte Gänsehaut, und mir ging es umso tiefer unter die Haut, wenn ich dabei an meinen Jungen dachte. Den Jungen, dem momentan der Schlaf abgeht. Die Konzentration. Und inzwischen auch die körperliche Kraft. Die Muskelkraft, die man ihm gar nicht ansah und für die ich ihn auch bewunderte.
Inzwischen ist er k.o., wenn er nur ein Sixpack Tee oder Wasser heimträgt, nach vielleicht 100 Metern Fußweg. Die Anfälle von Müdigkeit, die ganz plötzlich auftreten und nach wenigen Minuten komplett vorüber sind.
"Passiert das denn auch beim Autofahren?" habe ich ihn am Freitag gefragt.
"Ja auch dann", antwortete er, "aber bis jetzt hab ich es immer noch geschafft. Ich weiß nicht, was das ist. Das jedenfalls ist noch nicht lange."
Mir ging das durch und durch.
"Du fragst Montagmorgen den Arzt danach, und wenn er dich krank schreibt, dann tu es. Krankgeschrieben zu sein, das ist kein Problem. Alles andere aber wäre eins."
"Ja mach ich. Ich finde es ja selber komisch, was da grad so abgeht."
Nach zehn Tagen Medikament ist noch keine Besserung spürbar, und das ist okay laut Beipackzettel und laut Arzt. Er nimmt sie regelmäßig, zuverlässig. Das einzig Konstante im Moment. Er spürt selbst, dass hier etwas mit ihm passiert, dass etwas so ganz anders ist als es noch vor wenigen Wochen war. Möglicherweise ist hierin der Antrieb begründet, sein Medikament nicht zu vergessen. Er, von dem meine Freundin sagt: "Er ist noch so verträumt und in seinem Wesen noch ein Kind, dem viel zu wenig Achtung und Anerkennung geschenkt wurde."
Ihre Worte beschäftigen mich wieder und wieder. 
Manchmal, wenn ich durch die Straßen laufe oder auch im Supermarkt, dann achte ich vermehrt darauf, wie Menschen miteinander umgehen. Erwachsene mit Kindern, Kinder unter Kindern.
Manchmal, wenn ich Nachrichten schaue, höre ich den Wortlaut wütender Wohlstandsmenschen über Griechenland und Flüchtlingspolitik.
Manchmal lese ich vom endlosen Kampf der Männer und Frauen um die Anerkennung ihrer gleichgeschlechtlichen Liebe. Dass sie auch um die Anerkennung ihrer Ehe kämpfen, steht für mich symbolisch für diesen Kampf um die Anerkennung ihrer Liebe: Die Gesellschaft hat inzwischen akzeptiert, dass ein Mann einen Mann lieben kann, eine Frau ihre Frau. Jeder, der sich liebt, darf heiraten, der Mann seinen Mann, die Frau ihre Frau - nicht nachvollziehbar, warum diese Ehe nicht genauso gleichberechtigt ist wie alle anderen Ehen auch. Liebe ist doch... Liebe.
Manchmal, wenn ich einer Freundin zuhöre, nehme ich ihre Reaktionen auf ihr Umfeld wahr, umarme sie herzlich zum Abschied und sage: "Sei ihm nicht so böse. Er hat es gut gemeint, auch wenn er es nicht gut gemacht hat." 
Manchmal lese ich in Blogs wiederkehrende Klagen über Mitmenschen, über Freunde, Partner, Kollegen. Klagen darüber, was sie tun - oder eben nicht tun.

Was mir in den letzten wenigen Wochen mehr und mehr auffällt: Du hast die Chance für einen ersten Eindruck, aber du bekommst keine Chance für einen zweiten. Kommunikation, Austausch fällt vollkommen flach, wird völlig vernachlässigt. Wer dem gesellschaftlichen Status nicht entspricht, wird verurteilt, gestempelt, in Schubladen geschoben, Klappe zu, fertig und aus. Die Mühe, jemandem aufzuhelfen, macht man sich immer weniger. Die Mühe, jemanden zu stützen, möchte man sich immer weniger machen. Man hat zu funktionieren - oder es ganz sein zu lassen.
Ich lese von der Herzlichkeit der Griechen untereinander und auch ihren Gästen gegenüber, von ihrem Zusammenhalt auch in der schwierigen Zeit und ich denke: So waren wir doch auch mal, wann ist es uns abgekommen - und warum?
Ich lese von der Selbstverständlichkeit anderer Völker, kranke oder behinderte Menschen in ihre Mitte zu integrieren und denke: Warum fällt uns das so schwer, so dass Eltern um die Anerkennung ihres Down-Kindes kämpfen müssen? Dass jahrzehntelange Aufklärungsarbeit überhaupt erst notwendig war und immer noch ist?
Ich höre meinen Jüngsten, der vor einigen Jahren sagte: "Ich bin so froh, dass ich hier geboren wurde und nicht in einem anderen Land, wo Krieg ist und wo ich Angst haben muss." Das ist kein Privileg. Es ist ein Geschenk. Wäre hier Krieg und Elend, würden wir doch alle hier fort wollen. Fort in die Sicherheit, in den Schutz. "Das sind doch nur Wirtschaftsflüchtlinge", höre ich hier und da. 
Wie viele sind von Ost nach West gegangen, damals, 1989, als die Mauer fiel?
Ist es wirklich etwas anderes, wenn man vom ursprünglich ärmeren Teil in den wohlständigeren geht, nur weil man im eigenen Land bleibt? Wären jene nicht auch noch weiter gegangen, im Fall eines Falles? Insbesondere dann, wenn hier auch noch Krieg getobt hätte?
Ich lese seit einiger Zeit im Blog von Ptachen, die Geschichte mit Sabine, und während sie jener jungen Frau so einige Posts widmet, lese ich etwas Entscheidendes nicht heraus: dass sie selbst auch mit Sabine spricht. Dass sie sich mit ihr auseinandersetzt über das, das sie stört; über das, das nicht optimal läuft. Sie spricht mit allen anderen, sie schreibt "uns" in ihren Posts - aber sie spricht nicht mit Sabine. Und ist jetzt sauer, dass Sabine letztlich genau dasselbe tut, indem sie mit jedem anderen über das Ptachen spricht. Oder habe ich jene entscheidenden Artikel verpasst? Ob sich die Situation längst hätte klären, Missverständnisse hätten beigelegt werden können? Das ist nicht sicher. Aber sicher ist: Man hätte es versuchen können. Und das vermisse ich beim Lesen dieser Posts.
Ich vermisse es im Alltag.
Ich vermisse es im Umgang mit anderen Menschen: aufeinander zugehen, sich wirklich interessieren, wirklich... da sein. Nicht nur von Chancen zu reden, sondern wirklich auch Chancen zu geben.
Hilfe zu geben. Unterstützung geben. Anerkennung zeigen.
Liebe geben. Die Liebe, die wir alle in uns tragen, wenn wir so völlig nackt und unbedarft auf die Welt kommen.




Heute Nachmittag lagen wir im wohl größten Park der Stadt.
Ermattet von der Radtour in der Hitze und vom Federballspiel, bei dem ich mit der Begeisterung eines Kindes die Bälle zu treffen versuchte.
Um anschließend im Gras zu liegen, müde und entspannt zugleich.
Herrlich blauer Himmel, an dem kleine weiße Wattewolken dahintrieben.
Das sind die Momente, aus denen ich immer wieder neu meine Energie ziehe, dem Tag zu begegnen. Dem Alltag. Den Sorgen. Den Menschen. Niemand ist unfehlbar. Doch die wenigsten denken daran. Die wenigsten wollen es sehen.
Die meisten vergessen, woher sie kommen.


2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Danke für diesen Beitrag. Ich stimme Dir vollkommen zu (auch ohne Ptchen zu kennen, ich nehme es als ein Beispiel für vieles).
Leider scheint Kommunikation, Offenheit, selbst gesunder Menschenverstand in unserer Gesellschaft immer mehr abhanden zu kommen.

Alles Gute für Deinen Sohn, dass er bald wieder zu Kräften kommt, in jedweder Hinsicht. Deine Unterstützung und Liebe werden dazu beitragen.

Grüsse aus Südfrankreich
Regina

Annika hat gesagt…

Liebe Helma,
Ich wünsche deinem Kind, dass bald klar ist, was es eigentlich hat und ihm schnell geholfen wird. Dass es nichts schlimmes ist, nur son zeckenbiss oder so.

Der Rest: ein nachdenklicher Text. Werde ich auch gleich ganz nachdenklich.