Donnerstag, 17. September 2015

Mitten unter uns

Wir leben ja in einem Rechtsstaat, jedenfalls möchten wir das glauben. Bislang hat der Liebste bei Kenntnisnahme von abstrusen Gerichtsverhandlungen und -entscheidungen in Amerika den Kopf geschüttelt und gesagt: "Ich weiß schon, warum ich da nicht hin will."
Gestern Abend haben wir eine Reportage angeschaut, die leider durch den Liebsten vorzeitig beendet wurde (fuck you, Championsleague!).
Unter anderem wurde hier ein junger Mann porträtiert: Jung, gesund, ausgebildeter Polizist und schwul. Warum ich letzteres hinzufüge, erkläre ich gleich noch.
Dieser junge Mann wurde zu sechs Jahren Haft verurteilt. Vorgeworfen wurde ihm folgendes: An einem Tag X erwarb er in einem kleinen Laden (ich nehme an, ohne Überwachungskamera, aber ich verweise hier nochmals auf das vorzeitige Ende der Sendung) ein Sixpack und noch irgend ne Kleinigkeit, und als es an das Bezahlen ging, wurde die junge Verkäuferin mit Pfefferspray attackiert und die Waren sowie etwa ein Zehntel aus der Kasse entwendet. Die junge Frau rettete sich aus dem Laden und rief um Hilfe. Just zu dieser Zeit anwesend: ein Polizist und zwei junge Männer, vielleicht die Söhne. Der Dieb konnte nicht gestellt werden, der entkam mit seinem blauen Auto.
Der Tatbestand war klar, die Beweislage allerdings ließ kräftig zu wünschen übrig: Von allen anwesenden Zeugen, also vier, wurden unterschiedliche Angaben zum Kennzeichen des Fluchtfahrzeugs gemacht. Man war sich einzig in der Farbe einig: dass es blau war.
Warum man jetzt auf jenen jungen Polizisten aufmerksam wurde, entzieht sich meiner Kenntnis (vielleicht kam das ja noch im anderen Teil der Reportage, den ich eben nicht... na Ihr wisst schon) - Fakt ist: Man wurde auf ihn aufmerksam.
Die Gegenüberstellung ergab: Die Verkäuferin erkannte in ihm den Tatverdächtigen, die anderen drei Zeugen konnten dies nicht bestätigen.
Die labortechnische Untersuchung ergab: keine Rückstände von Pfefferspray auf seinen Händen oder der Kleidung, auch keine Faserspuren seiner Kleidung. Argument des Richters: "Dann haben Sie eben ein nicht fusselndes T-Shirt getragen." Jeder, der sich zwar nicht mit der labor- und biochemischen Analyse auskennt, aber ausreichende Sendungen wie "Autopsie" oder "Anwälte der Toten" geschaut hat, weiß, dass das praktisch unmöglich ist. Dieb und Verkäuferin haben nach der Pfeffersprayattacke miteinander gerangelt - und das alles ohne jegliche Spuren?
Das vermutlich schwerwiegendste Argument in dieser Verhandlung (oder soll man sagen: Indizienprozess?): In der ersten Vernehmung wurde dem jungen Mann eine U-Haft angedroht, würde er nicht gestehen. Dann müsse er bis zum Zeitpunkt der Anklage hinter Gittern. Der junge Mann lächelt in die Kamera, es ist ein resigniertes Lächeln: "Was glauben Sie denn, was einem als Polizist hinter Gittern passiert, der auch noch schwul ist? Glauben Sie mir, in dem Moment hätte ich so ziemlich alles unterschrieben - allein aus Angst."
Zwar hat er anschließend dieses Geständnis zurückgenommen - geholfen hat es ihm nicht mehr.
Aus meiner - zugegeben laienhaften - Sicht spricht für ihn, dass drei Zeugen ihn NICHT als Täter identifiziert haben. Dass die Angaben aller zum Kennzeichen widersprüchlich waren. Dass es auch keine Seltenheit ist, dass Opfer oder Zeugen Täter fälschlicherweise "wiedererkannt" werden. Würden sie ihn alle wiedererkannt haben, OK. Doch nur eine von vieren hat ihn wiedererkannt, sagt sie.
Und nun wurde er in einem Prozess zu  6 Jahren verurteilt, seine Chance auf Wiederaufnahme des Verfahrens gleich Null.
Und ich sitze da auf meinem Sofa und starre fassungslos auf den Bildschirm, in ein Gesicht eines Mannes, der um sein Recht kämpft, um Gerechtigkeit und dessen Zukunft fraglich ist. Ein junger Mensch, dessen Zukunft - gelinde gesagt - im Arsch ist, zumindest die Zukunft, die er sich irgendwann mal für sich vorgestellt hat. weil die Justiz keine Fehler zugeben kann und will, solange sie nicht muss. Und wenn sie muss, wie in einem anderen Fall, dann zahlt sie 25 Euro pro Tag Entschädigung. Für ein versautes Leben ohne (momentan) echte Perspektive.
Man weiß um solche Dinge, auch, dass Recht haben und Recht bekommen zweierlei Dinge sind. Nicht selbstverständlich - leider.
Es ist dennoch was anderes, wenn einem das so bildlich bewusst gemacht wird. Wenn diese Unterschiede ein Gesicht bekommen, ein echtes.

7 Kommentare:

~ Clara P. ~ hat gesagt…

Liebe Helma, in der vorletzten Welt der Wunder gab es einen aehnlichen Bericht, nur dass der wahre Taeter doch noch gefunden wurde und die Frage, warum sich Zeugen so oft irren. Es war spannend zu lesen, wie das Gehirn einen in die Irre fuehrt. Fuer den jungen Polizisten tut es mir echt leid, fuer mich stinkt das bis zum Himmel. Wo war das und warum glaubt man dieser Zeugin, wenn die anderen Zeugen ihre Version nicht bestaetigen? Unfassbar, aber die Justiz versagt so oft, weil Menschen Fehler machen und nicht dazu stehen. Der arme Mann...

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Clara - wirklich danke für diese Info! Mich hat dieses Schicksal doch echt beschäftigt seit gestern - und ich mir bereits geschworen, beim nächsten Mal das aktuelle TV-Programm bis zum Ende der Sendung zu verteidigen, koste es, was es wolle ;)
Wenn man den wahren Täter noch fand, dann dürfte zumindest eine berufliche Rehabilitation zuz erwarten sein. Also dass er seinen Job dann wieder aufnehmen konnte (sofern er es denn noch wollte).
Wo das war, weiß ich nicht mehr - und ihr hat man sicherlich geglaubt, weil sie von dem Angriff ja direkt betroffen war, mit ihm vorher gesprochen und ihm ins Gesicht geschaut hat. Dazu sein erstes Geständnis - zack, das wars.
Ja, ich hab auch schon mal einen Bericht darüber gesehen, wie schnell Zeugen und/ oder Opfer sich irren können, was da im Gehirn passiert und warum. Ihr kann man da keinen Vorwurf machen. Doch was ist mit "Im Zweifel für den Angeklagten"? Wenn so vieles dagegen sprach, dass er der Täter war? Trotzdem verurteilt, weil der Richter grad unpässlich war? Oder was auch immer?

~ Clara P. ~ hat gesagt…

Eine Freundin arbeitet bei Gericht und da bekomme ich einiges erzaehlt - da kann man nur hoffen, dass man niemals in Schwierigkeiten geraet. Ich weiss nicht, was dieser Richter sich gedacht hat, aber fuer mich klingt das nach Willkuer... und dass der Polizist schwul war, war vielleicht unterbewusst fuer den Richter ein Trigger? Wir koennen nur vermuten...

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

..das hoffe ich auch immer, aber grad gestern wieder bei diesem Fall - da sieht man eben auch, dass man eben auch völlig unverschuldet in so eine Situation kommen kann :(
Und ja, auch für mich klingt das nach Willkür. Dass man dieser so ausgeliefert ist, das ist doch erschreckend.

Fastdäne hat gesagt…

MOin, moin
war es eine echte seriöse Doku oder doch wieder die übliche gescripte Realität a'la Supernanny, auf Streife usw.? Klingt ein wenig nach Gerichtsshow. Letztlich sind aber solche "Fälle" ein Grund, warum ich nie Richter sein möchte. Ich muss dann entscheiden, ob überführt oder nicht. Das könnte ich nicht, will ich auch nicht

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Hey Fastdäne, nein, es war eine echte, seriöse Doku auf einem öffentlich-rechtlichen Sender. Solche Scriptserien schaue ich nicht.
Richter sein? Es ist ein hohes Maß an Verantwortung - ich könnte sie auch nicht tragen, weil ich noch zu sehr an das Gute glaube und ich beim geringsten Zweifel an der Schuld Skrupel hätte, jemanden zu verurteilen. Sowas lässt sich kaum wiedergutmachen.

Dances with Wolfes hat gesagt…

Rechtsstaat? Deutschland? Schon lange nicht mehr. Wie war das gerade aktuell mit dem Frauenarzt, der jahrelang seine Patientinnen heimlich ablichtete und das dann im Internet gegen Kinderpornos tauschte? Bewährung! Wegen mildernden Umstaenden - er hatte sich entschuldigt!
Ich bin selber vorbestraft in Deutschland. Ich habe etwas zugegeben, was ich nie gemacht hatte. Nur um im Deal mit dem Staatsanwalt einer Haftstrafe zu entgehen. Mein Anwalt riet mir (wohl richtigerweise) dazu. Der Sachverhalt war aeusserst kompliziert und der Anwalt meinte, da arbeitet sich weder Staatsanwalt noch Richter durch. Die sehen nur das Endergebnis und die vielen kleinen Indizien, die fuer mich sprachen, wuerden nie beachtet werden...