Donnerstag, 7. April 2016

Eins Komma Sieben Promille






Vor einigen Nächten konnte ich nicht schlafen, zappte mich durch die Programme, bis ich schlussendlich bei einer Reportage über Kinder in Russland hängenblieb. Kinder aus Gegenden irgendwo auf dem Land, wie vergessene Gegenden.
Kinder, die eingesperrt wurden, weil sie stahlen. Äpfel, Tomaten - um sie zu verkaufen für Alkohol.
Kinder, die eingesperrt wurden, weil sie Obst und Gemüse stahlen, um sich ein Hemd zu kaufen - weil die Mutter schwer krank und der Vater entweder tot oder abgehauen war.
Eingesperrt für mindestens ein Jahr oder länger.
Sie stehen morgens auf, sie bekommen Unterricht und zu essen, um alles andere, wie Sauberkeit, Ordnung, Geschirr abwaschen, Gänge und Zimmer wischen, müssen sie sich selbst kümmern. Wenn sie dann noch Zeit haben, spielen sie Fußball.
Ich hatte nicht den Eindruck, dass man sich tatsächlich um sie kümmerte.
Ich hatte eher den Eindruck, dass sie sich um sich selbst kümmerten.
Niemand fragte, was in ihnen vorging, was sie bewogen hatte zu stehlen oder auch gewalttätig geworden zu sein.
Irgendwo in der Mitte der Reportage begann ich mich zu fragen: "Ist Russland hart zu seinen Kindern? Ist es zu hart? Es sind noch so kleine dabei, keine acht oder neun Jahre alt."
Hilft es ihnen, weggesperrt und sich selbst überlassen zu werden?
Einer weint vor der Kamera: "Ich will nach Hause zu meiner Mama."
Er hat noch keinen Besuch von ihr bekommen und schon einige Monate eingesperrt.
Die Mutter, die sie in ihrem Zuhause filmen, hebt die Schultern, sie sieht müde aus, resigniert. Ihr fehlt das Geld, ihren Sohn zu besuchen.
"Vielleicht ist es ja gut so wie es ist", sagt sie, "damit er lernt, auf den rechten Weg zu kommen."

Einer von ihnen ist in meinem Kopf geblieben.
Tolja.
Tolja, der Junge mit den großen, irgendwie sehnsüchtigen Augen. Der Dreizehn- oder Vierzehnjährige, der von sich sagte: "Am Anfang habe ich hier mit niemandem gesprochen. Aber ich habe gemerkt, dass man dann hier nicht überleben kann. Also habe ich irgendwann angefangen, mit ihnen zu sprechen."
Tolja, der Junge, von dem die anderen sagten: "Am Anfang schlief der gar nicht. Erst wenn alle anderen schliefen, dann schlief auch er. Aber das ist wohl so, wenn man jemanden umgebracht hat."
Und ich denke: "Umgebracht? Mit dreizehn? Mit Absicht?"
Sein Vater vor der Kamera, der seinen Sohn nicht besucht und auf die Briefe des Sohnes nicht antwortet. Der den Brief in der Hand hält und sagt: "Jetzt schreibt er. So gut, so gebildet."
Ein armes Zuhause, ein verwahrloster Hof. Der Vater, der indirekt zugibt, seine Frau geschlagen zu haben, weil sie ihm kein Essen kochen wollte, wenn er abends heimkam. Die ihn verließ und ihm das Baby überließ etwa in der Tonart: "Kümmer dich doch selber um das Balg."
Die fortging, eine neue Familie gründete, zwei Töchter bekam und ihren Sohn nicht bei sich haben wollte. Die in die Kamera schaute und erzählte, wie ihre vierjährige Tochter sich vor ihrem Sohn das T-Shirt auszog und sie den Jungen daraufhin wegschickte mit den Worten: "Du kannst hier nicht mehr herkommen. Geh weg, ich brauche dich nicht."
Tolja beginnt zu stehlen, alle gemeinsam in einer Bande von Kindern und Jugendlichen. Wird jedoch gemeinsam mit einem Freund zu Unrecht von der Polizei aufgegriffen und verprügelt. Wofür sie sich am Dritten rächen wollen. Und ihn schlussendlich erschlagen - mit einem Ziegelstein.
Der am Ende der Reportage in die Kamera lächelt und sagt: "Ich weiß nicht, ob ich ein besserer Mensch werde, wenn ich hier rauskomme. Vielleicht. Ich werde es versuchen. Aber ich weiß nicht, ob ich das schaffe." Und dann lächelt er.
Im Abspann ist zu lesen, dass 91 % dieser Kinder wieder ins Gefängnis (zurück)kommen werden - als Erwachsene.

Am Ende der Reportage zieht sich für mich wie ein roter Faden durch: Alle Kinder haben eines gemeinsam - die mangelnde bzw. fehlende Liebe insbesondere der Mutter.
Ganz offensichtlich bildet sie in all den Schicksalen die Schlüsselfigur.
Rechtfertigt das Verstehen darum ihre Taten?
Es hilft der Mutter nicht, deren Junge erschlagen wurde.
Es wäre - wenn ich ehrlich sein soll - auch mir egal, wenn man einem meiner Söhne Gewalt antun würde.

Und dann denke ich an sie, meine Söhne.
Der eine hat mit 16 im Supermarkt gestohlen.
Der andere hat im Kaufhaus gestohlen und mit 14 gemeinsam mit einem Freund eine Flasche Alkohol geleert. Eine Einliterflasche, die sein Freund in eine Saftflasche umgefüllt und mit in die Schule gebracht hatte. Von dem die Lehrerin glaubte, sie trinken Waldmeisterlimonade.
Von dem mein Sohn später sagte: "Was das war, weiß ich nicht. Es war grün, hat wie Lakritze geschmeckt und in den Adern gebrannt."

Jeder von ihnen trank schlückchenweise innerhalb von drei Stunden ca. 500 ml Absinth, so stands im Klinikbericht. Beide lagen mit 1,6 und 1,7 Promille bewusstlos erst im Sportunterricht und dann in der Klinik, wo ich ihn das erste Mal sah, nachdem die Schule mich angerufen hatte und neben der Schulleitung auch die Polizei wartete.
Damals stand ich Kopf vor Sorge, ob auch das Jugendamt zu uns käme, was auf uns zukommen würde.

Und es kam nichts.
Deshalb nicht, weil im Alkohol keine Drogen waren.
Deshalb nicht, weil dieser Vorfall der einzige war, den Junior mir bot.
Dieses Kind, das mir damals und auch später sagte: "Ich war ein glückliches Kind. Ich hab alles gehabt, was ich wollte und was ich brauchte, und ich habe mich immer geliebt gefühlt."
Dieser junge Mann, der seinem Vater so ähnlich ist, äußerlich und auch in vielen Charakterzügen - auch wenn er mit seinem Vater nur wenig zu tun hatte.
Und der große Junge, der wiederum mir so ähnlich ist, äußerlich und auch in vielen Charakterzügen. Der seinem Bruder oft sagte: "Glaub bloß nicht, dass ich das deinetwegen mach! Ich mache das alles nur für die Mama!" Dieser große Junge mit dem noch größeren Herzen, der großen Seele, in der man wohnen kann, solange man ihn nicht enttäuscht, sein Vertrauen nicht enttäuscht.

Ich schaue auf meine Söhne und bin glücklich und dankbar, dass sie so sind wie sie sind.
Dass sie geworden sind, was sie eben sind - auch wenn sie beide irgendwie noch nach dem richtigen Platz in ihrem Leben suchen; der Platz, wo sie hin wollen, wo sie sein wollen. Beide so unterschiedlich wie sie nur sein können - der eine im Büro, der Gewalt völlig ablehnt; der andere, der inzwischen beim Bund ist, der Dienst an der Waffe sozusagen.
Es wäre zu einfach zu sagen: "Habt eure Kinder einfach lieb, seid gut zu euren Kindern, dann sind sie es auch zu anderen."
Dennoch komme ich nicht umhin, mich zu fragen, was aus einem Jungen wie Tolja geworden wäre, hätten ihm seine Eltern von Anfang an einfach nur Liebe entgegengebracht? Kein Mensch wird schlecht geboren - und er hatte so sehnsüchtige Augen. Litt so darunter, dass sein Vater ihm nicht schrieb und ihn nicht besuchte, weil seine Mutter ihn schon als Baby ablehnte.

Ich schaue auf mich selbst und habe erst vor einigen Jahren erkannt, wie essentiell die Liebe meiner Mutter für mich war und ist. Auch wenn alle immer dachten, ich sei ein Papakind. Heimlich habe ich ihre Schuhe angezogen, ihre Kleider. Ich wollte sein wie sie, nicht jammern, nicht klagen, ich wollte so sein wie sie - stark und sanft zugleich.
Und ich glaube, ich bin sehr viel mehr von ihr geprägt, habe sehr viel mehr von ihr, als es auf den ersten Blick scheinen mag.
Sie ist meine Schlüsselfigur.

3 Kommentare:

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Das mit den russischen Kindern finde ich schrecklich - in Rumänien war es ja ähnlich oder sogar noch schlimmer.
Um so besser liest sich das mit deinen beiden.
Meiner hat sich als Junge auch so allerhand geleistet.
Sage mal, die Mail hast du bekommen?

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Clara, ich fand es irgendwie bedrückend. Es ist ja nicht so, dass man nicht darum weiß, gelesen hat man doch immer mal davon. Es aber so... live und in Farbe vor Augen zu haben, wirklich "mitgenommen" zu werden in diese Welt, das ist dann doch etwas ganz anderes.
Zwischendrin fragte ich mich, ob wir hier zu verzärtelt sind, wenn wir immer alles verstehen und begründen wollen, wenn wir Straftäter psychologisch begutachten und betreuen wollen. Wie oft sagt hier jemand: "Man sollte die einfach mal in den Steinbruch schicken, das ist viel wirksamer als Therapeutengetätschel."
Aber dann... die 91 % "Rückfallquote" sprechen - zumindest bei den Kindern - dagegen. Gerade bei den kleineren... Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie das gewesen wäre, hätten sie meine eingesperrt.

Ja, Deine Mail habe ich bekommen, musste ich aber zweimal lesen - und habe inzwischen darauf geantwortet!

Goldi hat gesagt…

Puh, ohne wieder einen langen Text zu schreiben, ist es ziemlich schwer die richtigen, wenigen Worte zu finden, also beziehe ich mich auf Deine Antwort und werde sicher wieder zu lang.

Ja, es ist übelst bedrückend und ich glaube nicht, dass es falsch ist Kindern, eine liebevolle, achtsame und respektevolle Zeit zu geben und sie in gewisser Weise behütet aufwachsen zu lassen. Klar gibt es auch da die extreme wie die sogenannten Helicoptereltern.

Menschen werden unter anderem zu dem, was die Eltern aus ihnen machen oder eben nicht machen. Woher soll ein Kind respekt- und liebevollen Umgang lernen, wenn nicht durch seine engste Umgebung und sein Elternhaus? Wie soll es selbstbewusst später entscheiden, wenn es niemals gelernt hat, Selbstbewusstsein ist, wie zwischen falsch und richtig wählen, wenn die einzige Lösung immer nur Gewalt war?

Was aus diesen kleinen Menschen wird, für alle hoffe ich, dass in ihnen die Menschlichkeit und die Sehnsucht nach Liebe erhalten bleibt, sodass sie später genau dieses Gefühl an ihre Umwelt geben wollen und diese Welt, trotz aller schlechten Erfahrungen, entdecken und erleben wollen. Letztlich sprechen die 91% dagegen, aber wie auch sollen sie von heute auf morgen zu anderen Menschen werden, wenn sie kein Vorbild haben an dem sie sich zum Guten orientieren können?

Was die nicht vorhandene Liebe von Müttern anrichten kann? Viel, zu viel, zu viel Schmerz und Leid und doch werden die meisten dieser Kinder ihr Leben lang hoffen, dass ihre Mutter sie in den Arm nimmt und ihnen sagt und zeigt, dass sie liebenswert sind.

Zu Straftätern, tja, ich kenne die sogenannte "Opferseite" besser als ich es anderen wünschen würde. Dennoch, oder vielleicht gerade aus diesem Grund, sehe ich kein verzärteln darin zu sehen, warum der einzelne Täter so gehandelt hat und wie oder auch ob man ihm "helfen" kann.

Nein, die Taten werden dadurch nicht ungeschehen, aber wenn diese Erkenntnisse dazu genutzt werden Prävention zu betreiben und bei den Tätern entsprechende Behandlung oder eben auch dauerhafte Sicherheitsverwahrung daraus folgt ist es in meinen Augen richtig. Es ist einfacher sie in den Steinbruch zu stecken, sicher, dann sind sie aus den Augen und somit aus dem Sinn, aber es ändert nichts daran, dass jemand straffällig wird. Selbst die Einführung der Todesstrafe, wie man an den Fällen in den Staaten und deren Kriminalstatistik sieht, schreckt nicht ab.