Donnerstag, 2. März 2017

Eine Nummer zu groß - Deogarh, Tag 12








In Indien kann man sich daran gewöhnen, dass man für eine Strecke von rund 120 Kilometern mindestens zwei Stunden mit einem Auto unterwegs ist. Gemessen an den vergangenen Tagen, an denen wir auch mal vier oder sechs Stunden unterwegs sind, finde ich das einen Klacks.
Aber ich beginne zu verstehen, warum der eine oder andere Inder davon träumt, mal in Europa über Autobahnen ohne Geschwindigkeitsbegrenzungen düsen zu dürfen.

In einer ehemaligen Palastanlage eines Maharadschas, dem Deogarh Mahal, beziehen wir ein Zimmer, das mir spontan gut gefällt. Herrn Blau weniger, und ich glaube, er ist fast erleichtert, dass die dortige Klimaanlage keine kalte Luft, dafür aber ein ungutes elektrisches Zischen und einen verdächtigen Geruch nach Kabelbrand von sich gibt. Was für uns bedeutet: umziehen in ein anderes Gemach. Ich schreibe bewusst "Gemach", denn was sie uns als Entschädigung anbieten, ist das ehemalige Schlafzimmer jenes Maharadschas. Und mir ist das viel zu groß. Ich fühle mich darin absolut verloren und mit diesen komischen kleinen Viechern, die laufen wie Echsen, aber Flügel haben und entsprechend durch die Luft flattern, erst recht nicht wohl. Das ist wie Mäuse oder Spinnen im Zimmer haben: Kriege ich raus, das Getier im Zimmer mithockt oder rumflitzt, gebe ich so lange keine Ruhe, bis das vor die Tür gesetzt wurde. Natürlich von Herrn Blau, nicht von mir, das ist ja klar.
Da bin ich ganz Mädchen!
So wie ich auch darauf bestehe, dass in der Nacht ein kleines Lämpchen brennen bleiben muss.
Erstens muss ich doch sehen, ob da noch so ein Tier gerannt oder geflogen kommt - und das kleine Nachtlicht hilft mir, mich nicht mehr ganz so verloren zu fühlen.

An diesem Nachmittag suchen wir uns in der Stadt, die etwa um die 700 Einwohner zählt (was in Indien vermutlich auch unter "Kleindorf" fallen dürfte), lediglich einen Stand mit Obst und Wasser. Melonen oder Pfirsiche oder so was in der Art suche ich allerdings vergeblich. Das Angebot beschränkt sich in mehr oder weniger allen Orten auf Äpfel, Bananen in Hülle und Fülle. Mit Glück kann man mal eine Melone oder eine Ananas oder auch Mandarinen erhaschen, aber wie gesagt: mit Glück.
"Wir verkaufen, was wir gerade ernten können", erklärt uns ein Inder und mich erinnert das an ganz früher, an meine Kindheit in der DDR. An die endlosen Auslagen mit den übergroßen Holzkisten, in denen lose die geernteten Äpfel und Birnen lagen. Und Kohl, Weißkohl. Im Sommer gabs noch Erdbeeren und Kirschen für die, die schnell genug waren und keinen eigenen Garten hatten, das wars dann.
Apfelsinen und Bananen gab es oft nur zu Weihnachten und dann ewig lange Schlangen am Obst- und Gemüsestand und rationierte Zuteilung. Gibt's ja auch genug Witze drüber ;) Tatsächlich aber finde ich schon bemerkenswert, dass wir früher im Osten weitaus weniger mit Allergien zu tun hatten. Weiß grad gar nicht, wie ich auf diese Assoziation komme.
An die frühe Zeit im Osten denke ich auch, wenn ich die Kinder in Indien sehe. Gerade am frühen Abend, als wir uns noch mal auf den Weg machen, eine Tempelanlage zu besuchen, sehen wir sie mit ihren Eltern auf den Feldern, Tomaten pflücken oder gießen oder einfach mit Freunden spielen. Und ich denke daran, wie das früher bei uns war und wie genügsam wir damals waren. Wie wir in der Modder spielten oder Räuber und Gendarm mit abgebrochenen Zweigen. Heute gibst Du Deinen Kindern ein Ersatz-Smartphone, weil das eigentliche in der Reparatur ist - und dann beklagen sie sich noch, weil der Ersatz ein viel zu kleines Display hat und sie "nicht richtig" spielen können :)
Dieses ausgelassene, unbedarfte Herumtoben fehlt mir heutzutage irgendwie im Gegensatz zu den Knirpsen, die noch im Sportwagen sitzen und schon mit Handy oder Tablet spielen und genau wissen, was sie wo drücken müssen. Auch wenn ich es andererseits wiederum gut finde, dass Kinder heutzutage die Möglichkeit haben, mit Computer & Co. aufzuwachsen, sich das verinnerlichen und das für später dann kein Problem mehr ist. Immerhin geht ja in der heutigen digitalen Welt kaum noch was analog.
Aber ich schweife schon wieder ab.

Pause jedenfalls machen wir auf unserem Weg an einem versteckt wirkenden Tempel, äußerlich gar nicht als solcher erkennbar; er wirkt eher wie eine Höhle, die in einen Fels geschlagen wurde. Es ist entsprechend duster darin. Und als der Inder eine Taschenlampe einschaltet, entdecke ich mein persönliches Grauen: die Decke über mir voller Fledermäuse, so weit das Auge reicht.
In meiner Phantasie, die tatsächlich grenzenlos sein kann, wenn sie will, tummeln sich innerhalb von Sekunden mehrere dieser Tierchen auf meiner Haarpracht, die ich an diesem Abend auch nicht zusammengebunden habe. Außerdem darf man jeden Tempel nur barfuß betreten, auch diesen hier - und gibt es für eine Frau ein größeres Grauen als Achtbeiner??
"Sorry, I have to leave!" und da bin ich auch weder umzustimmen noch aufzuhalten.
Mir doch egal, dass irgendwo tiefer drinnen in einer Schlucht noch eine Guru-Schlafstätte zu besichtigen wäre. Was interessiert mich, wo da jemand in die Decken pupst?? Und ganz echt mal: In Indien kann dir im Grunde jeder als Guru angepriesen werden und du als Tourist weißt sowieso nicht, ist das nun ein "echter" oder nicht.
Da warte ich lieber draußen in der Abendsonne, genieße die letzten Sonnenstrahlen - und offenbar sind wir inzwischen weit genug weg von der Wüste: Ist die Sonne weg, wird es spürbar kühler. So kühl, dass wir auf der Rückfahrt im offenen Jeep sogar frösteln. Dafür sehe ich zum ersten Mal in meinem Leben echte Flughunde aus relativer Nähe, die im Schwarm über uns hinwegziehen.
Die machen mir keine Angst - aber die sind auch hoch genug bzw. weit genug weg von mir ;)

Und hier ist auch dieser See, an dem wir auf eine unfassbar ruhige Wasseroberfläche schauen, tatsächlich zuschauen können, wie die Sonne untergeht, während Herr Blau sich Masala-Tee und ich mir meinen obligatorischen Kaffee genehmige, ich Kulturbanause.
Es ist ein so herrlicher Ort der Stille und Ruhe, dass wir stundenlang so da sitzen und einfach nur nichts tun könnten. Nicht reden, dafür schweigen, den eigenen Gedanken nachhängen und spüren, wie auch tief in uns drinnen alles zur Ruhe kommt. Hier denke und fühle ich nichts mehr außer dieser wunderbaren Stille und Ruhe in mir und um mich.
Bis wir mit einem recht jungen Inder ins Gespräch geraten und uns angeregt unterhalten. Einmal mehr stelle ich begeistert fest, dass ich tatsächlich englisch reden kann, wenn ich einmal meine Scheu abgelegt hab. Da kann ich beinah ins Erzählen geraten...
"Ah, you are divorced?" fragt er überrascht nach und während ich nach einer Erklärung suche von wegen viel zu früh geheiratet oder sowas, winkt Herr Blau ab und sagt auf deutsch zu mir: "Das ist hier auch nicht anders."
Des Inders Blicke wechseln zwischen Herrn Blau und mir, eher nur erstaunt und fragend, trotzdem: Irgendwie fühle ich mich mit einem Mal total unwohl und ich schaue weg und sage ebenfalls auf deutsch zu Herrn Blau: "Ich sollte einfach überhaupt nichts über uns erzählen." - "Ja besser ist das."

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