Dienstag, 6. Juni 2017

Of All the Things We've Made




"Für die seelische Gesundheit ist es wichtig, 
zu irgendeinem Zeitpunkt einen Abschluss zu finden - 
im Sinne von Akzeptanz, nicht im Sinne von Vergessen."


Über die Mediathek des SWR habe ich mir gestern die Sendung "Was einen nicht loslässt" angeschaut. Nachhaltig im Kopf geblieben ist mir nicht die Geschichte eines Mannes selbst - sondern wie er sich im Augenblick des Erzählens gefühlt haben mag. Sichtlich aufgewühlt, die Hände ineinander gelegt, die Finger, die krampfhaft umeinander schlingen, das Hemd großflächig durchgeschwitzt - der ganze Körper irgendwie in Aufruhr. Er soll nicht nur, er will auch von sich erzählen, sonst säße er nicht dort. Weil er aufmerksam machen will, weil er die Aufmerksamkeit Dritter sensibilisieren will, um insbesondere die zu schützen, die sich noch nicht wehren können. Die Kinder.
Missbraucht als Kind über Jahre hinweg hat er all das Geschehene so lange verdrängt, bis es 2013 in einem Dialog mit einem Freund mit aller Kraft herausbricht. Das, was immer da war, was immer auch im Kopf war und dennoch nie nach außen durfte.

Gute vier Jahre sind seit jenem Ausbruch und gleichzeitigem Zusammenbruch des Mannes vergangen. Vier Jahre Kopf- und Seelenarbeit, die bei weitem für ihn nicht ausreichen, um das, was er erlebte, zu verarbeiten. Aber er ist auf einem guten Weg, denke ich, während ich ihm zusehe. Weil er nicht stehengeblieben ist. Weil er kämpft. Und währenddessen einen Weg geht. Seinen Weg.
Ich schaue auf ihn und denke: Beinah genauso habe ich auch dagesessen, wenn ich erzählen musste. Und sollte. Und irgendwie auch wollte.

Wie ist es heute? Wie ist es, wenn Themen heute hochkommen oder wenn ich erzähle, ganz Belangloses, und dann kommt eins ins andere? Natürlich spüre ich, was das mit mir macht. Natürlich erinnere ich mich. Aber es hat sich.. verändert.
Nachhaltig im Kopf geblieben ist mir auch der obige Satz der beisitzenden Therapeutin über die seelische Gesundheit.
Worte, die ich in meiner Kopfarbeit in all den Jahren immer wieder gehört habe, die ich vielleicht damals so nicht wahrhaben wollte in Verbindung mit der Schmerzproblematik. Mich dabei immer wieder erinnernd an meine Neurologin, die ich bis heute insbesondere aufgrund ihrer Akzeptanz, ihrer Menschlichkeit und auch ihrer Ehrlichkeit "Ich weiß nicht mehr, wie ich Ihnen helfen kann. Sagen Sie es mir, ich mache alles, aber ich weiß einfach nicht weiter" sehr schätze. Und die schon 2006 zu mir sagte: "Das Problem ist, dass man nicht Ihr Blut unters Mikroskop legt und genau ablesen kann, was Ihnen fehlt. Man muss wissen, wonach man suchen soll."
Vieles, das einem dabei begegnet, sind Zufallsbefunde. Abweichungen von einer Norm, die nicht immer einen krankhaften Befund darstellen. Oder die unser Leben im Alltag beeinflussen. Wie zum Beispiel das Ding in meinem Kopf. Mein zweites Hirn, wie ich es manchmal scherzhaft nenne, seit es sich auf 4 x 5 x 2 Zentimeter ausdehnte und sich seither unverändert in meinem Kopf ausruht. Jeder Mensch ist sein eigenes Individuum, sage ich ja immer, sowohl in der Psyche als auch in der Physis, und während man anfangs noch etwas irritiert auf Abweichungen reagiert, gewöhnt man sich mit der Zeit an den Fakt und lernt, damit umzugehen.

Die meisten Menschen haben Dinge erlebt, die ihnen das Leben schwer machen. Ganz unterschiedliche Dinge in unterschiedlicher Intensität und unterschiedlicher Ausprägung.
"Es mag sein, dass Sie es heute verstehen. Aber das ändert ja nichts daran, was es mit Ihnen gemacht hat, als Sie Kind waren."
Jeder versucht auf seine Weise zu verarbeiten, zu bearbeiten. Einheitlich wird es im Grunde erst, wenn er sich der Hilfe bedient. Weil wir ja alle irgendwie nach Mustern reagieren, auch wenn unser Erlebtes sich grundsätzlich unterscheidet.
Und ich gebe Dir, Waage, recht, wenn Du sagst, dass es viel Kraft und Mut braucht, den oder die Korken zu ziehen und die Dinge herauszulassen, anzusehen, anzunehmen. Aber gerade Du müsstest (vielleicht) wissen, dass ich mich genau all dem gestellt habe. Mit Hilfe und auch ohne Hilfe. All dem gestellt, was gesagt, was getan oder auch nicht gesagt und nicht getan wurde.
Wir kennen uns seit 2005 und ich bin nicht sicher, ob Du es wissen müsstest oder aber mich vielleicht doch nicht wirklich kennst (woran ja auch irgendwie was dran ist ;)): Aber gerade DU solltest zumindest wissen, dass ich mich gestellt habe. Dass ich bearbeitet habe - und dass ich phasenweise auf dem Zahnfleisch gekrochen bin dafür und deshalb.
Was macht Dich also so sicher, dass ich meine/n Korken nicht gezogen hätte?
Was macht Dich sicher zu glauben, dass ich meinen Abschluss nicht gefunden, meinen Frieden mit dem einen oder anderen nicht gemacht hätte?
Was macht Dich so sicher zu glauben, Du würdest mich kennen, wenn Du zugleich kürzlich so überrascht warst, dass ich beispielsweise meine Furcht nach dem Unfall 2006 längst überwunden habe und inzwischen mit einer Geschwindigkeit über die Straßen jage, die Deiner so ähnlich ist und die Du mir aber nicht zugetraut hattest? Bis vor kurzem glaubtest Du, ich sei noch immer gefangen in dem Misstrauen gegenüber der Technik, die mich im August 2006 so verließ, und dabei bin ich längst sehr viel weiter... Meiner Seelenarbeit traust Du gleiches nicht zu?

Ich weiß bis heute nicht, warum mir seit Februar 2005 mein Körper linksseitig unablässig schmerzt - und seit diesem Jahr beide Hände. Niemand kann es mir sagen, niemand weiß es.
Du aber auch nicht.
Niemand kann mir helfen - jedenfalls bis jetzt nicht.
Aber bitte sagt mir nicht, ich hätte all die Jahre nichts bzw. nicht das Richtige getan und würde noch immer nur mir selber im Wege stehen.
Wie verletzend und frustrierend das sein kann, versteht am Ende auch nur ein Betroffener, der sich jahrelang quält und müht, Wege zu finden. Lösungen zu finden und ähnlich nicht oder kaum vorankommt wie ein Tinnituspatient.
Die Therapien bescheinigten mir, stark genug zu sein, reflektiert genug zu sein, interessiert genug zu sein. Offen genug zu sein.
Das Biofeedback bescheinigte mir, in mir selbst ruhen zu können, mich selbst zur Ruhe bringen zu können.
"Ich hätte es nicht gedacht, aber sehen Sie selbst, hier die Kurven: Sie können es sogar sehr gut."
Ich selbst stelle an mir fest, dass ich inzwischen auf- und hochgewühlte Dinge betrachten und wieder zurücklegen kann. Sie sind da, natürlich sind sie da und sie bleiben es auch. Das habe ich akzeptiert, schon vor langer Zeit, und ich habe es auch angenommen. Das bedeutet nicht, dass es nicht immer noch Momente gibt, in denen das, was hochkommt, mir die Tränen in die Augen treibt. Aber es entmutigt mich nicht mehr. Es schwächt mich nicht (mehr). Ich habe nichts vergessen - aber ich kann heute damit leben. Und muss es auch nicht ständig thematisieren.
Ich habe Methoden gefunden, mit denen es mir besser geht, vor allem auch physisch.
Nicht nur, was den Sport betrifft.
Ich kann neben Dir stehen und mich dennoch in meine eigene Welt zurückziehen. Mich auf meine Wiese denken und mich in die Blumen legen, wenn mir alles zuviel wird.
Ich kann noch immer hoffen, träumen, wünschen, glauben.
Ich kann immer noch leben.

Schmerztherapie, Waage, besagt am Ende nichts anderes als das.

Aber geholfen hat mir leider nichts davon. Gar nichts. Egal, wie viel besser es mir heute geht und was immer ich auch angegangen bin: Der Schmerz ist da, seit 12 Jahren jeden Tag, jede Nacht, jede einzelne Sekunde. Er ist das einzig Konstante der letzten 12 Jahre.
Also sage mir bitte nach all den Jahren und all der Arbeit nicht, ich müsse nur den Korken ziehen.

1 Kommentar:

Nelly aus Sachsen hat gesagt…

Danke für diesen Text