Dienstag, 31. Mai 2022

Backen für den inneren Frieden



"Für mich musst du das nicht machen, ich brauche keinen Kuchen", sagt der Mann hin und wieder, wenn er mir dabei zusieht, wie ich in Rezepten herumkrame oder mich zu etwas Neuem inspirieren lasse.
"Weiß ich", antworte ich dann meistens nur - und mache trotzdem weiter. Stelle mich in die Küche, ziehe die Kopfhörer auf und lasse mich treiben, drehe mich, wiege mich im Takt der Musik, singe manchmal mit, während ich das Equipment nach und nach aus den Schränken hole und mir die Zutaten bereitstelle.
"Außerdem ist es Genuss ohne Reue", sage ich dann beinah genau so oft und verweise auf kalorienbefreite Zutaten und die Vorliebe für Dinkel- oder Mandelmehl statt Weizen.
Vermutlich habe ich in meinem ganzen bisherigen Leben nicht so oft - oder besser gesagt: so regelmäßig - gebacken wie derzeit. Ich könnts ja genauso machen wie der Mann:  mich einfach aufs Rad schwingen oder joggen, bis der Hausarzt abwinkt. Zwar schwöre ich nach wie vor auf die dem Yoga sehr ähnlichen Übungen, die mir vor allem im Kampf gegen den Körperschmerz tatsächlich gute Dienste leisten. Aber den Kopf frei pustets mir aktuell während der schätzungsweise 50minütigen sportlichen Betätigung  mit musikalischer Untermalung eher nicht. Vielleicht brauchts dazu ja wirklich auch die frische Luft und so. Könnte mich also wie andere an die Isar legen und dort hin und her biegen. Anschließend vielleicht sogar gleich mal ins eiskalte Wasser springen. Der Mann nämlich beobachtet dort beim Joggen seit einiger Zeit ein Paar, beide vielleicht um die 70 - 80 Jahre alt, die den Mut dazu aufbringen. 
"Das könnte ich mir für uns auch vorstellen", sagt der Mann. "Ist auch gut für die Haut!"
"Das sind Apfelsinen auch", bügle ich seine neueste Idee kurzerhand ab und lege demonstrativ statt der bisherigen zwei großen Navelinas gleich zwei ganze Kilogramm davon in den wöchentlichen Einkaufskorb. Ich und eiskaltes Wasser! Wie lange kennt er mich? 

Als ich noch allein mit meinen Kindern lebte, da hing alles an mir: der Job, der Haushalt, jede Entscheidung für uns als Familie und für jeden einzelnen von uns. Jedes Kümmern bei Krankheit und verhassten Schulaufgaben. Jedes Kümmern bei aufgeschlagenen Knien oder Kummer. Jedes Kümmern um einen Kontostand, der den Kindern und mir ein warmes, behagliches Zuhause mit einem vernünftigen Essen auf dem Tisch irgendwie sicherte. Zu Beginn meines Singleseins war diese Aufgabe für mich vollkommen neu. Würde ich damals schon die Wege und deren Konsequenzen mal von A bis Z durchdacht haben, hätte ich vermutlich Angst (vor mir selbst) bekommen. So aber habe ich mich Anfang 2003 einfach hineingestürzt und habe.. einfach gemacht. Was anderes blieb mir auch gar nicht, denn nur eins war noch größer als die Angst vor dem Scheitern: zurückzugehen in das bisherige Leben. 
Seit Februar 2005 nun begleitet mich obendrein auch diese ominöse Schmerzerkrankung.
Und irgendwann, mit den Jahren, mit der Zeit... Da wurde ich irgendwie müde. Ich selbst hab das gar nicht so realisiert, mein Umfeld schon. (Heute, rückblickend, sehe ich das übrigens auch. Manche Fotos sind so gruselig, dass ich sie klammheimlich vernichte.) Mehr als nur einmal kam ich an diesen Punkt, wo ich mir leise wünschte, es würde nicht alles immer nur an mir allein hängen. Würde nicht immer nur ich gefordert sein. Dass mir jemand die Verantwortung abnimmt, die Aufgaben abnimmt, darum ging es mir nicht. Aber ich wünschte mir jemanden, wo man sich Aufgaben entweder auch mal teilen konnte oder aber mir das Miteinander Fluchten bieten würde. Diese kleinen Inseln meines Alltags, die mit der Blümchenwiese, auf die ich mich retten konnte. Diese Inseln, auf denen ich mich mental in der Sonne aalen, meinen Lieblingskaffee schlürfen, die Sonnenbrille auf der Nase balancieren und die Beine baumeln lassen konnte. Allein daraus kann ich unfassbar viel Energie ziehen, und in diesen bewegten Jahren war das.. eher ein seltenes Highlight. 
Das änderte sich, nachdem der Mann und ich uns nach dem vierten oder fünften Neustart beschlossen hatten: Jetzt versuchen wirs aber mal richtig - und ich dann irgendwann auch zu ihm zog. Das Leben pendelte sich ein in eine Gemütlichkeit, von der mich manchmal das Gefühl überkam, als würde es seicht und unaufgeregt an mir vorbeiplätschern. Dieses Gefühl jedoch hielt nur wenige Wochen oder maximal wenige Monate. Jetzt erlebte ich das, wonach ich mich in den Singlejahren gesehnt hatte - und dachte: Huch na ja.. Öhm.. Hoffentlich driften wir jetzt nicht ab in ein langweiliges Leben?

Natürlich kamen dann auch wieder andere Zeiten. Berg hoch, Berg runter, das Leben in Achterbahnen, Schlängellinien und kleinen Parkbuchten links und rechts. Im Moment wünsche ich mir weder ein bewegteres noch ein ruhigeres Leben - sondern einfach eines, in dem die Menschen glücklich sind. Am allermeisten wünsche ich mir das von meinen Söhnen. 
Der eine hat seinen Schlaganfall überstanden und trainiert noch immer die Muskulatur, um die Lähmung im Gesicht zu überwinden. Wenigstens ist die Lähmung der Zunge zurückgegangen; ich denke, das ist ein gutes Zeichen. Auch wenn er sich als Souvenir aus der Klinik noch einen Keim mitgenommen hatte. Ich dachte noch an den Kinderarzt von früher, als sie noch klein waren. 
"Wenn Kinder zu mir kommen, denke ich immer, das ist alles ganz einfach, ich gebe dies und das. Aber bei Ihnen weiß ich, dass IMMER noch etwas hinterherkommt. Dass das bei Ihnen eben NICHT so einfach ist."
Daran dachte ich einmal mehr, als der Junge dank Medikamenten auch den Krankenhauskeim überstanden hatte - und gleich im Anschluss an Corona erkrankte.
Da dachte ich dann schon auch: Ey....
Und mein Großer? Der ist gesundheitlich fit wie ein Turnschuh, trotz Rauchen und wenig Essen, trotz der Doppelbelastung von Vollzeit- und Nebenjob. Aber dafür.. hängt seine Seele ordentlich durch. Er ist einfach zuviel allein, er weiß das und er fühlt das - nur ändern lässt es sich nicht. 


Zu Beginn des Mai habe ich sie mir beide noch eingepackt und mit an das Meer genommen. Nur für ein Wochenende und eigentlich, um meine Mama zu überraschen. Eigentlich hatte der Große gar nicht so recht Bock auf das alles, die weite Fahrt, der Aufwand - und das alles "nur" für eine Nacht? 
Mich selbst aber erinnerte dieser Trip an früher, als sie eben noch klein waren. Als ich Kind und Kegel in mein Wägelchen lud und sie mit ans Meer nahm. Er hat immer gefragt: "Sind wir bald da?" oder "Wie lange dauert das noch?" oder "Jetzt überhol den doch mal!" 
Inzwischen fragt er gar nichts mehr, er streckt sich einfach auf der Rückbank aus, hört Musik und daddelt, schläft nach der Nachtschicht auch mal ein Stündchen ein - aber sobald wir die Insel betreten, da schaut er mit blanken Augen in die Welt. 
Und nur einen Tag später, am Abend vor der Rückreise, da stand er vor seinen Großeltern, lächelnd, wehmütig, und er sagte: "Ich will hier nicht weg."
Dieser Satz geht mir seitdem immer wieder im Kopf herum. Ich weiß genau, was er und wie er sich gefühlt hat. Dass er dasselbe fühlte wie ich: die Erinnerung an eine Zeit, die für ihn eine bessere, eine entspanntere war. Eine Zeit des Miteinanders vor allem mit seinem Bruder, an dem er so hängt. Weil er mit diesem wiederum eine Zeit verbindet, in der sie vor allem sich hatten und wussten, dass sie einander hatten. Eine Zeit, in der die Eltern getrennte Wege gingen und Auseinandersetzungen dennoch kein Ende zu nehmen schienen.
Ich wusste das alles, noch bevor wir am vergangenen Wochenende sehr lange miteinander sprachen. 
Und all die Jahre war ich mir sicher, dass meine Söhne und vor allem er immer eins NICHT waren: Mitläufer, die aus einem Gruppenzwang heraus Dinge tun, die falsch (für sie) sind. 
Das hatten mir doch all die Jahre letztlich auch bewiesen.
Und dann musste ich in dem langen Gespräch mit ihm erkennen, dass die Einsamkeit, diese verdammte Einsamkeit Menschen dazu bringen kann, Prinzipien über den Haufen zu werfen. Nicht weil man um jeden Preis dazugehören will. Sondern weil man... einfach drauf scheißt. Weil einem ab irgendeinem Punkt alles irgendwie egal ist.
Das hat mich ziemlich.. erschüttert. 
Auch weil ich immer, wirklich immer stolz und froh war, gewisse Sorgen um und mit meinen Jungs nicht zu haben, nicht gehabt zu haben. 
Vergangene Woche habe ich ihn einfach reden lassen. Ihm einfach nur zugehört. Ich war zutiefst erschrocken, aber wiederum froh und dankbar, dass er mir überhaupt davon erzählte. Dass er mir versicherte, dass es keine Wiederholung geben würde - und der Kontakt zu jener Gruppe seither auch wieder eingeschlafen sei. Wie es halt zuvor ja auch gewesen war. Ich baue darauf, ich vertraue darauf. Das muss ich einfach.

Aber da, wo andere Menschen sich im Sport abrackern, auf der Bühne den Schweiß aus dem Körper tanzen oder singen - da stehe ich in meiner Küche, schaue nachdenklich zum Fenster hinaus und backe dem Mann den hundertzweiundzwanzigsten Kuchen.