Donnerstag, 29. Juni 2023

I feel too much and drive too fast


Bist Du eigentlich auch ein Fan von Grey's Anatomy gewesen?
Und kannst Du Dich erinnern, dass die immer dann, wenns mal wieder richtig beschissen lief, in ihrer Butze getanzt haben wie die Blöden? Arme hoch, Beine abwechselnd hoch - sich so richtig die Seele freitanzen.
So habe ich heute Abend bei diesem Song hier getanzt, wild und völlig unkoordiniert, und dann habe ich mich aber trotzdem nicht wirklich besser gefühlt, sondern so sehr geweint, dass mir das Wasser buchstäblich zugleich aus den Augen und aus der Nase lief. 
Wir haben uns alle noch nicht erholt vom Schock über den Tod unseres ersten Enkelkindes. 
Ich habe mich aber auch noch immer nicht erholt vom Schock über die schweren Erkrankungen in meiner Familie und bei Menschen, an denen mein Herz so sehr hängt. 

Ist es nicht komisch, dass ich mich an unsere letzte Begegnung kaum erinnern kann, dafür aber unsere allererste Begegnung vor vielen Jahren in mein Gedächtnis gebrannt ist? Ich weiß sogar noch genau, was Du anhattest und wie Du Dein Haar trugst. Wir kannten einander überhaupt nicht zu jener Zeit, wir wussten überhaupt nichts voneinander - aber es war einer der schönsten Abende in meinem Leben. 
Vielleicht, weil es nicht so oft passiert, dass man jemandem begegnet, von dem man meint, man würde einander schon ewig kennen und sei nur mal eben kurz fort gewesen. Genau genommen.. passiert genau das ja.. eher selten. 





Mindestens genauso intensiv erinnere ich mich an unsere Trips nach Berlin, im Sommer und auch in den Vorweihnachtstagen. Soll ich Dir sagen, dass ich dieses Foto von unserem Trip nach Berlin so total liebe? Ich liebe es, daran zu denken, wie wir uns das größte Stück Torte schmecken ließen, das Starbucks zu bieten hatte. Voll fett Buttercreme und Schokolade, was soll der Geiz, so zart kommen wir ja doch eh nie wieder zusammen. 
Ich liebe den Moment, als Du meinetwegen in der Tiefgarage des Kaufhauses blank gezogen hast, weil Du nicht mehr hören konntest, wie sehr ich Deine Bluse bewunderte. 
Noch immer seh ich mich ängstlich an den Fensterriegel krallen, als Du auf meine Worte: "Also ich könnte das ja nicht, so mit dem Auto durch Berlin fahren, ich würde mich hier nie niemals zurechtfinden" unbekümmert antwortetest: "Ich war hier auch noch nie, ist für mich auch das erste Mal."
Ich liebe dieses Foto, weil es mich an diese unbeschwerte Zeit erinnert, die wir meistens hatten. 

Mindestens ebenso deutlich erinnere ich mich an unser Telefonat vor über einem Jahr. Seh mich noch immer dort liegen, in meinem Bett, nach links gewandt, den Kopf auf das Kissen gebettet und das Telefon zwischen Ohr und Kissen. Seh mich, wie ich die Augen geschlossen hatte, während wir miteinander sprachen, leise, flüsternd beinah. Mit sanften, zarten Worten hast Du die Träume in den Papierkorb zerknüllt, die wir seit Jahren in den wundervollsten Farben in unsere Köpfe malten. Kurioserweise hatte sich genau das irgendwie.. total richtig angefühlt. Es war Zeit, das Träumen zu beenden, das Träumen über Dinge, die sowieso - bei Tag betrachtet - keine reelle Chance bekommen hätten.
Du hast viel geredet an jenem Abend, vielleicht, weil niemand wusste, ob Du nach der Operation am Tag darauf noch würdest sprechen können.

Konntest Du. 
Bis auf dass alle Deine Haare weg und unzählige Klammern in die Haut getackert waren, warst Du... warst Du einfach wieder da. Für Dich hätte ich mir aus Solidarität tatsächlich auch den Kopf geschoren, es tatsächlich ernsthaft erwogen - aber irgendwie war ich dann doch auch erleichtert, dass Du das bei weitem gar nicht von mir erwartet hast. Ich meine, ich wurde mit einem Eierkopf geboren und das hat sich leider auch bis heute immer noch nicht verwachsen. S is halt nur Haar über diese Eierei gewachsen.
Bei unserem ersten Wiedersehen danach in Deinem Zuhause hast Du mich derart mit Koffein versorgt, dass ich fast schon argwöhnte, dass hier Restbestände zu entsorgen seien, bevor sie bitter würden. 
An unser vorerst letztes Wiedersehen erinnere ich nur noch den Augenblick auf der Bank bei Deinem Lieblingsbäcker, höre ich Dich reden wie Du immer gesprochen hast und wie vertraut der Klang Deiner Stimme auf mich wirkte.
Du sehnst Dich nach Alltag, nach Normalität, vielleicht sogar nach wild rumliegenden Socken in Deinem minimalistischen, wunderbar aufgeräumten Zuhause, sofern die das einzige sein würden, die Dir das Leben schwermachten. 
Dieser Alltag war so nah, zum Greifen nah schon - und jetzt ist alles so ganz anders gekommen.
Ich habe es gelesen, während ich gerade dabei war, mich auf den Weg zum Supermarkt zu machen.
Ich habe es gelesen und nicht sofort begreifen können. Las Deine Zeilen mehrmals. Wieder. Und wieder. Und wieder. Konnte mich nicht mehr auf den Weg zum Supermarkt besinnen, fand einfach den Weg nicht mehr. Wusste nicht mehr, was ich einzukaufen hatte, wusste nicht mehr, wo das Brot liegt, wo die Milch steht. In meinem Kopf war einfach nur noch Leere. Aber in meinem Bauch, da war so viel mehr los. Wer braucht schon Milch, wer braucht schon Brot? Wie sehr wollte ich alles einfach nur stehen- und liegenlassen, wie sehr wollte ich einfach nur zu Dir fahren und Dich in die Arme nehmen. Einfach nur festhalten. 
Aber im Moment kannst Du das nicht und im Moment willst Du das nicht, hat mir Dein Mann geschrieben - und ich kann das so wahnsinnig nachempfinden. 

Ständig schleiche ich um mein Telefon herum, nehme es ebenso oft in die Hand und lege es dann doch wieder zur Seite. Ich will nicht ignorant sein und meine Bedürfnisse über Deine stellen. 

I feel too much and I drive too fast.

Es hat mehr als eine dieser Zeiten gegeben, in denen Du Deinen Hut genommen hast. So oft ich das verflucht habe, so sehr habe ich jede Zeit abgewartet, bis Du wieder da warst. 
Und genauso... mach ich das jetzt auch.. Und vielleicht.. versuche ich bis dahin das ja mit dem Raustanzen nochmal. 

I feel too much and I drive too fast.

Das Leben ist so richtig beschissen grad. Im Film wärs jetzt die richtige Stelle für ein Happy End. Oder wenigstens so was in der Art. Das wünsche ich mir nicht für mich. Ich wünsche es mir so sehr für Dich. Und für M. Für die Kinder und für meine Familie. Ich weiß, ist ne Menge. 
Zum ersten und zum letzten Mal eine höhere Institution, so sie es denn gibt, habe ich 2016 angefleht, damals auf dem Rückweg von Delhi nach München. Drei Wochen Indien - und ausgerechnet auf die letzten Meter erwischt es mich dann doch noch, so eine fiese Magen-Darm-Geschichte und hohem Fieber. Ja und dann quälst Du Dich da auf so ner blöden Bordtoilette, alles ruckelt und dann erzählt der Pilot was von unerwarteten Turbulenzen und dass sich alle anschnallen sollen. 
Ich sags noch mal: Bord-toi-let-te. Heruntergelassene Hosen, weil... na ja Du weißt.
Das war dann wirklich so ein Moment, wo ich mal eben kurz die Augen schloss und inniglich flehte: "Lieber Gott... wenn es dich wirklich gibt.. dann lass mich BITTE nicht so unwürdig ums Leben kommen!"

Du siehst.. Ich bin hier. Hier in meinem alten Zimmer in Leipzig. 
Was es auch immer da draußen gibt, ich hoffe, es hilft..