Samstag, 27. Mai 2023

Der Morgen über der Stadt


Früh am Morgen.
Über der Stadt ruht noch ein wenig der Schleier der Nacht, es ist still hier. Es sind kaum Menschen anzutreffen, während ich über den Gehweg eile, die Hände in den Taschen vergraben, den Kopf meist Richtung Boden geneigt.
Links von mir, auf der anderen Straßenseite, steht der Mann vom kleinen Getränkeladen in der Tür.
Er sagt nichts, er schaut nur, er lächelt, er winkt zum Gruß. Vor mir, ihm schräg gegenüber, öffnet ein Paar seinen kleinen Geschenkeladen. Sie reden leise miteinander, während er bedächtig die Markise herunterlässt. Über die Straße hinweg rufen sie einander einen guten-Morgen-Gruß zu.
Es ist genau dieser Moment, der mich im Bruchteil dieser Sekunde zurückversetzt in eine Zeit, eine ganz lange Zeit vorher. Eine wohlvertraute Zeit mit in Zucker gewälzten Apfelstückchen. Mit der kleinen Küche ohne Warmwasseranschluss. Mit der Toilette im Hof. Mit der gestärkten Wäsche draußen auf der Leine, die mit einem langen Stock oben gehalten wird. Mit Märchenbüchern und Geschichten von Gnomen und ihren Bärten aus Preiselbeerstrauch. Mit dem Kaufmannsladen gegenüber der Haustür und den leckersten Spritzringen meiner kleinen Welt. 

Wäre ich für einen Moment auf diesem Gehweg stehengeblieben, würde ich für einen Moment lang die Augen geschlossen haben.. dann wäre ich wieder dort. Dann könnte ich es nicht nur fühlen, dann könnte ich es nicht nur riechen: Ich wäre dann wieder dort, damals, vor so langer Zeit, vor der niedrigen Gartenpforte, barfuss im T-Shirt und dem knielangen, blau-weiß geblümten Rock mit der weißen Borte. Die Haare zu Zöpfen gebunden. Ich könnte wieder die Unbeschwertheit fühlen, mit der ich im Kirschbaum herumkroch, Kartoffelkäfer in den Eimer sammelte und Zuckererbsen von den Sträuchern pflückte. Mit der ich mit nackten Füßen über staubige Feldwege lief, zurück zum Haus der Großmutter, die für das anschließende Bad ihre Zinkwanne auf den Küchentisch stellte und das Badewasser in einem Teekessel auf dem Kohleherd anheizte.

Einfach war es weiß Gott nicht, dieses Leben. Aber ich selbst.. Ich wusste nichts von der Ernsthaftigkeit, die auf einen wartet, wenn man erwachsen geworden ist. In meinem Kopf war die Blumenwiese so hoch und prächtig, dass ich mich hineinlegen konnte wie in ein Bett, und von da aus konnte ich in den Himmel schauen, über mir die Schwalben und die Resthitze des Sommertages.. In meiner Welt.. war alles irgendwie noch an seinem Platz, war der Raum gefüllt von bunten Blumen, dem Duft nach Sommer und eben.. nach Unbeschwertheit. Ich wusste da noch nichts von dieser unendlichen Traurigkeit, die man fühlt, wenn ein Kind auf diese Welt kommt ohne einen Herzschlag. Wenn man selbst eine Mama ist, dann kann man diesen unfassbaren Schmerz irgendwie erahnen. Irgendwie..
Und dennoch.. steht man letztlich nur daneben und weiß, dass man nie wirklich erfahren wird, wie sehr der andere Mensch leidet. Ich muss zugeben, ich hatte bis zu dem Moment, wo die Kleine auf die Welt kam, die Hoffnung, die Ärzte würde irren. Ich meine, das tun sie doch öfter mal, oder nicht? Es könnte doch auch jetzt so sein, oder nicht?
Nein. Sie haben nicht geirrt. Und das war dann der Moment, an dem ich den ganzen Abend lang geweint habe. Gemeinsam mit dem Mann. 

Gestern habe ich an der Straße gestanden und auf die Bahn gewartet. Die Hände in den Taschen vergraben, die Augen geschlossen und das Gesicht der Sonne zugewandt. Er hat mir gut getan, dieser Moment. Da war ich beinah wieder in jener Zeit meiner Großmutter. Und für einen Moment lang konnte ich irgendwie verstehen, warum Peter Pan nie erwachsen werden wollte.