Dienstag, 20. Dezember 2022

Von M zu L

 Im Januar 2014 haben der Mann und ich beschlossen, dass wir zusammenziehen. Nach all der Zeit, all den Höhen und Tiefen, den On-and-Offs unserer Beziehung haben wir entschieden, dass wir nunmehr einen Schritt weiter gehen müssten. Uns trennten etwas über vierhundert Kilometer - und wir waren beide an einen Punkt gekommen, wo wir müde geworden waren. Im Job beide voll beansprucht, jeder mit seinem Alltag - wir wussten: Wir müssen JETZT etwas entscheiden, ansonsten werden wir uns verlieren, weil uns nach gut 7 Jahren Fernbeziehung die Energie ausging. 

Habe ich diese Entscheidung bereut? 
Nein. Ich denke, sie war wichtig für mich und auch für ihn - und auch für meine Söhne. Das einzige, was mir immer nachhing, war die Trennung von den beiden. Ich bin jetzt keine Übermama, die auf ihren Kindern hockt und nicht loslassen kann oder will. Aber ich wollte, dass es ihnen gut ging. Ich wollte, dass sie sich ihre Wünsche und ihre Träume erfüllten - und ich wünschte mir für sie, dass jemand in ihrer Nähe war, wenn es ihnen gerade nicht gut ging. Dass jemand greifbar war, wenn sie es brauchen würden. 

M ist eine Stadt, in die ich mich sehr, sehr schnell eingelebt habe. Mich persönlich hat das wirklich überrascht: M ist eigentlich bekannt für Schickimicki, für sehen-und-gesehen-werden, für den schönen Schein nach außen, während es im Inneren modert. Das ist nicht meine Welt. Mich interessiert nicht, was jemand an Hab & Gut besitzt und welches Label er spazieren führt. Das beeindruckt mich nicht. Bussi Bussi und falsches Getue widern mich an, genauso wie diese Mädels mit ihren Taschen in der Armbeuge.
Was mich fasziniert und interessiert, sind Menschen, keine Darsteller. 
Nichtsdestotrotz ging es mit M und mir wirklich rasant. Ich gewöhnte mich in Nullkommanix ans U-Bahn-Fahren, obwohl Enge und Gedränge schwierig sind für mich. Nach Japan sollte ich da vermutlich nicht auswandern wollen ;) 
Es gibt so einige Ecken, in die ich mich verliebte - und die ich auch vermissen werde.
Aber es war immer klar: Ich werde nicht für immer in M bleiben, auch nicht dort begraben werden. Es war immer klar, dass ich notfalls auch allein wieder weggehen würde.

Das Jahr 2022 hat so einiges an Überraschungen für mich bereitgehalten. Die eine war der Antrag vom Mann - und dass wir dann auch wirklich geheiratet haben. 
Die andere - für mich große - Überraschung war, dass wir eine Wohnung gefunden haben und im März umziehen werden. Und zwar nicht innerhalb von M - sondern zurück nach L.
Anfangs konnte ich wirklich nicht glauben, dass der Mann dazu bereit sein würde. Ich war mir sicher, dass er spätestens dann, bevor es wirklich ernst würde, einen Rückzieher machen und genug Gründe finden würde, nicht wegzugehen. 
Aber auch er überrascht mich immer wieder - auch nach so vielen Jahren noch.
Bei unserem vorletzten Besuch in L haben wir uns gemeinsam ein paar Wohnungen angeschaut - und uns für eine von diesen entschieden. Sie hat alles, was uns wichtig war (na gut, nicht ganz, ich vermisse mein Mal-Schreib-Musik-Zimmer, also ein Zimmer ganz für mich allein). Sie liegt in einem der beliebtesten Stadtviertel in L, wir können fußläufig zur Mama oder auch auf einen Kaffee in die Innenstadt, ich habe einen entspannten Weg ins Office - und wenn der Mann seine sportlichen Anfälle bekommt, kann er sich im angrenzenden riesengroßen Park austoben nach Lust & Laune. Und ich kann jederzeit meine Söhne sehen oder sie zu mir einladen, wenn sie es möchten. 

Wir haben den Zuschlag bekommen, obwohl die Wohnung von einem anderen Paar reserviert worden war. Das muss aber wohl schon länger her sein - und jetzt haben wir sie genommen und bekommen. 
Preiswert ist sie nicht, das muss man sagen. Aber auch hier hat mich der Mann überrascht, als er zu mir sagte: "Du hast nie wirklich schön gewohnt, ich hab nie wirklich schön gewohnt. Wir haben unser ganzes Leben lang viel gearbeitet und sollten uns jetzt einfach mal etwas gönnen."
Zurück in M, kündigte der Mann die dortige Wohnung, den dortigen zusätzlichen Tiefgaragenstellplatz, fand in Nullkommanix einen Nachmieter, entwickelte Pläne und Ideen, dass selbst ich kaum hinterher kam. Und natürlich sind wir auch fast sofort in einen Ehekrach gestrandet, weil jeder von uns seine Ideen und Vorstellungen einbringen will, die - klar - nicht zu den Ideen und Vorstellungen des anderen passten.
"Wir könnens auch lassen und hierbleiben", hat der Mann gefaucht.
"Wir werden uns schon noch einig", hab ich geantwortet, "aber nicht dahingehend, dass alles nur nach deinem Kopf geht."
"Aber auch nicht nur nach deinem!"
"Natürlich nicht", habe ich breit gegrinst.

Am Freitag kommt er nach L, am Montag fahren wir zur Wohnung, geben den unterschriebenen Mietvertrag ab, messen alle Räume nochmal genau aus.
Auf unserer virtuellen Liste stehen bereits eine Menge Dinge, die wir brauchen werden.
Auf Instagram haben wir einige Dinge im Speicher, die uns inspirieren.

Früher war es ja immer so: Ich habe ungefähr einen Tag vor dem Umzug alles zusammengepackt, am Umzugstag alles transportieren lassen und dann bis in die frühen Morgenstunden so lange geräumt und geputzt, bis ich todmüde ins Bett fallen konnte, irgendwann später wieder aufstand und alles an seinem Platz fand: Vom Kaffeelöffel und Kaffeebecher bis zur Zahnbürste war alles an seinem Platz. So liebte ich das!
Dass das hier eine ganz andere Nummer werden wird, ist mir bewusst. 
Fest steht für mich nur, dass es bei mir und mit mir keine Kisten geben wird, die ungeöffnet irgendwo rumstehen. Der Mann kann sowas - ich nicht. Das stört mein ästhetisches Auge *kreisch*
Insofern steht auch fest, dass zwar alles schnell seinen Platz bekommen wird - aber es steht auch fest, dass wir für das Gestalten unseres neuen Zuhauses etwas mehr Zeit brauchen werden. Es muss reifen - mit all den Ideen, die wir jetzt schon haben. 
Im März ist es soweit, dann gehen wir weg von M zurück nach L und ich denke, dass wir im Juni vielleicht oder auch erst im Juli oder August unsere Einzugsparty feiern werden. 
Aber Fakt ist vor allem: Wir freuen uns beide wahnsinnig auf diesen Schritt - auch wenn ich es irgendwie noch immer nicht glauben kann - und im Gegenzug der Mann langsam Muffensausen bekommt und auch schon erste Anwandlungen von "Wollen wir nicht vielleicht doch hier in M bleiben?"

Nein, wollen wir nicht :)

Montag, 19. Dezember 2022

Wolkig mit der Aussicht auf Wattebällchen

 Wäre alles nach Plan verlaufen, würde ich heute Abend in M meine Tasche packen und mich morgen früh auf den Weg nach L machen.

In der Realität aber bin ich von L beim letzten Mal gar nicht erst weggefahren. Sondern buchstäblich im wahrsten Sinne des Wortes einfach liegengeblieben - mit Blick zum Fenster hinaus. Dort ist quasi das Leben an mir vorübergezogen: Sonne, Sturm, Nebel, Regen, Schnee. Begleitet von kannenweise Tee jeden Tag, Fieber, Mörder-Halsweh und Husten.
Und ja, es ist Corona. Hat der Sohn aus der Klinik mit nach Hause gebracht. Ausgerechnet derjenige, der sich übervorsichtig verhält. Der Coronapatienten nur im Vollschutz betreuen darf - und auch abseits der Coronapatienten empfindlich darauf geachtet hat, nichts ohne frische Handschuhe zu berühren und sowieso niemandem näher als notwendig zu kommen. Das Bubbelchen.
Woher er dann trotzdem die Infektion bekam, kann er sich partout nicht erklären.
Jedenfalls meine ist von ihm und begann nachts buchstäblich von einem Moment auf den anderen mit ordentlichem Schüttelfrost. 

Wie fühlt sich Corona momentan für mich an? Wenn ich ehrlich sein soll, nicht anders als früher, wenn eine Virusgrippe ihre klebrigen Griffel nach mir ausstreckte. Damit möchte ich weder etwas relativieren noch verharmlosen. So fühlt sichs einfach an. Und mir sind zwei Dinge aufgefallen: Das Schmerzlevel ist in diesen Tagen deutlich niedriger als sonst. Und ich schwitze natürlich nach wie vor, grad als das Fieber so hoch war - aber ich habe null Schweißgeruch. Ich war immer sicher, dass ich jeden Tag ein Deo nutzen muss - ohne war überhaupt nicht denkbar für mich, auch wenn der Mann noch so beschwor: "Ich weiß gar nicht, was du hast, du riechst nicht!" ICH bildete mir ein, da wäre was; also habe ich jeden Tag Deo benutzt - und aktuell brauche ich das Null. 
Der Junge brauchte 1,5 Wochen, um wieder fit zu sein - bei mir sinds aktuell auch 1,5 Wochen und ich bin noch nicht ganz so weit wie er. Natürlich hab ich drüber nachgedacht, warum das so ist, unabhängig von dem Bewusstsein, dass ja jeder Mensch anders mit denselben Dingen umgeht.
Ich denke, dass es bei mir insbesondere an den Spritzen liegt, die ich mir seit ungefähr einem Jahr jede Woche setzen muss und die mein Immunsystem unterdrücken. Genau das Immunsystem, das ich jetzt eigentlich bräuchte. Stattdessen liegt es sozusagen in der Ecke und guckt mir knurrend wie ein widerwillig gebändigter Kettenhund zu, wie ich mich hier abmühe, meinen Feind quasi mit Wattebällchen zu bewerfen. 

Der Mann schrieb vor ein paar Tagen, es erinnere ihn an unsere früheren Zeiten - er sei dort, ich sei hier, er könne sich nicht um mich kümmern und es würde zwei oder drei Wochen dauern, bis wir uns wiedersehen. Damit wird er nun recht behalten. Wenn er zu Weihnachten nach L kommt, werden wir uns drei Wochen nicht gesehen haben. 
Dass wir uns also nichts schenken, stimmt damit auch in diesem Jahr nicht wirklich: Wenn ich bis dahin negativ bin, wird er mein Geschenk zu Weihnachten sein. Ich empfinde das umso mehr, wenn ich sehe, was aktuell in anderen Beziehungen um mich herum los ist - und warum. Betrachte irgendwie mit Wehmut, mit einer gewissen Traurigkeit, wie Menschen miteinander umgehen. Die aneinander hängen (bleiben), weil sie Angst vor dem Alleinsein haben, Angst vor einer ungewissen finanziellen Zukunft, aus Unsicherheit. Aus allem möglichen - aber am allerwenigsten aus Liebe. Liebe ist sicherlich nicht alles - aber sie sollte der wichtigste Grund sein, zusammen sein zu wollen. 

Das Jahr 2022 ist fast vorüber, fast geschafft. Viel ist passiert, ganz viel Schlimmes, viel Nachdenkenswertes - und für viele von uns auch viel Schönes. Meine Dankbarkeit dafür möchte ich nicht verlieren. Das, was wunderbar ist, möchte ich auch morgen noch sehen können, sehen dürfen - und wertschätzen. Auch im Jahr 2022 bin ich erschüttert vom Egoismus, der mich mehr oder weniger nah umgibt; von der Gleichgültigkeit und von Desinteresse an Dingen, die für bestimmte Menschen nicht uninteressant sein dürfen. Ich bin enttäuscht von manchen Menschen - und im Gegenzug positiv überrascht von anderen, auf die ich aktuell eher weniger gekommen wäre. So ist es wohl, dieses einzige Leben, das wir alle haben. 
Manchmal beißt man sich durch mit der Kraft eines Löwen - und manchmal kämpft man mit Wattebällchen.