Die Zeit, sie vergeht so irrsinnig schnell.
Gerade haben wir noch mit Herzklopfen das neue Jahr ersehnt, uns vorgestellt, was es an hoffentlich Gutem bereithalten würde, haben Pläne geschmiedet oder auf eine Zeit gehofft, die losgelöster wäre von Zweifeln, Ängsten. Auf eine Zeit, die Gutes mit sich bringen würde.
Gerade haben wir noch das erste zarte Grün in den Gärten und an den Bäumen in der Straße bewundert, die Mäntel gegen die Sommerkleider getauscht, im Meer gebadet, barfuß Muscheln und Steine gesammelt und über den weiten Horizont des Meeres geschaut, die Augen mit der Hand abgedeckt ob der Sonnenstrahlen. In der Sonne gelegen und in der Nacht die verbrannten Stellen auf der Haut mit leichter Creme abgedeckt.
Und hat man sich nur ein einziges Mal umgewendet, ist der Herbst schon herangekommen, hat die Bäume in goldrote Farben getaucht, für kurze Zeit nur, und jetzt rieseln sie Tag für Tag zu Boden.. Das Schnarren der Raben kündigt sie an, die kalte Zeit..
Und nun ist es beinah zum Greifen nah, das Ende dieses Jahres. Ein Jahr, von dem ich für mich noch nicht entschieden habe, wie es sich anfühlen soll.
"Geht es dir gut?" hat der Mann mich gestern Morgen gefragt.
Was soll ich darauf antworten?
Ich habe ein schönes, warmes Zuhause.
Ich habe einen Job; einen fordernden - aber einen guten.
Ich habe gesunde Kinder, soweit.
Ich bin selber gesund, soweit.
Was kann man anderes darauf antworten, als dass es einem gut ginge?
Und dennoch.. kann ich nachts kaum noch schlafen, drehe und wende ich mich hin und her, decke mich auf, decke mich zu, starre mit großen Augen in die Dunkelheit und versuche, all diese Gedanken aus meinem Kopf herauszubekommen, die mich am Schlaf hindern.
Eine Zeitlang habe ich mich gefragt, ob es am Älterwerden liegt, dass so viele Dinge mich sorgen. Doch wenn ich mich so umhöre.. Dann ist es längst keine Frage des Alters mehr.
Es hat mal eine Zeit gegeben, in der ich mir einen Raum für mich gewünscht habe. Ein kleines Hotelzimmer irgendwo in irgendeiner Stadt, die ich nicht kenne. Fremde Straßen, fremde Hausnummern, fremde Zimmer mit einem Bett darin nur für mich ganz allein. Einer Kommode, einem breiten Fensterbrett, auf dem ich mich niederlassen und hinausschauen könnte. Mich herauslösen aus dem Alltag und hineintauchen in eine fremde Welt, die meine Sinne inspiriert und mir Zeit und Raum nur für mich selbst ermöglicht.
Als ich den Song "Motel" für mich entdeckte, fühlte ich mich an längst vergangene Zeiten und längst verblichene Erinnerungen berührt. An Nächte in irgendwelchen Motels. An meine Sehnsucht, zu verreisen, die Tasche hinten auf dem Rücksitz mit nichts darin außer einigen Kleidern, ein paar Büchern und dem Strohhut.
Die Realität aber hier und jetzt ist, dass ich von früh bis abends arbeite und immer dann, wenn ich denke, endlich mal wieder etwas Luft am geschnürten Hals zu bekommen, neue Forderungen auf den Tisch bekomme. Den Deadlines und Terminen hinterherjage, weil dieses "was heute nicht wird, wird morgen" nicht das meine ist. Weil die Gleichgültigkeit anderer mich wahnsinnig macht.
Im Kopf all die Arbeit und all die privaten Sorgen, die mich bis unter die Haarwurzeln belasten, die ich hier aber nicht ausbreiten mag. Aber da ist dieses Gefühl... dass alles an mir zerrt und zehrt. Dass ich nicht mehr zur Ruhe finde, im Kopf nicht und in der Seele nicht. Und dabei zusehe, wie ich jeden Tag an meiner Mühe scheitere, versuchen zu wollen, dass es allen gut geht, dass alle gut zueinander sind..
Schon längere Zeit zittern meine Hände, vibriert mein ganzer Körper, die Herzfrequenz am Anschlag.
Ich weiß gar nicht, wie lange das her ist, dass es mir so ging, aber gestern Mittag hab ich mich im Büro im Badezimmer eingeschlossen und nur geweint. So richtig geweint wie früher als Kind.
Darüber sprechen kann ich nicht, weil ich gar nicht weiß, mit wem.
Den wenigen, denen ich im Büro vertraue, mag ich es nicht sagen. Wir haben alle unsere Sorgen, wir haben alle zu tun.
Der Mann hat mit sich zu tun.
Den wenigen, denen ich außerhalb des Büros vertraue, haben ganz andere, elementare Sorgen - da muss ich ihnen nicht mit meinen Luxusproblemen kommen.
Stattdessen höre ich mir die Sorgen und Probleme anderer an und denke mir, worüber beklage ich mich eigentlich..
In den letzten Wochen habe ich oft gemalt - aber ich spüre schon, bevor ich mich an meinen Maltisch setze, ob "es fließt oder nicht". Und da fließt irgendwie nichts mehr. Der Kopf ist blockiert, die Seele nicht frei. Ich habe Angst bekommen vor der Zukunft, wenn ich höre und sehe, was in der Welt passiert, was hier bei uns passiert. Ich frage mich, wohin ich gehen kann, um mich all dem zu entziehen - und wie ich es anstelle, dass der Mann und meine Kinder mit mir kommen.
Ich zucke zusammen, wenn ich höre und lese, wie Menschen miteinander sprechen, miteinander umgehen.
Mir wird das Herz schwer, wenn ich höre und sehe, wie innerhalb der Familie übereinander gesprochen und miteinander umgegangen wird.
Mir wird das Herz noch schwerer, wenn ich mich fragen muss, ob dieser eine Geburtstag der letzte Geburtstag sein wird, den wir feiern.
Ein kluger Mensch hat mal gesagt: "Wir brauchen viele Jahre, bis wir verstehen, wie kostbar Augenblicke sein können."
Und warum leben wir sie dann nicht?