Hier schläft schon alles, nur ich sitze noch im schwach beleuchteten Zimmer auf meinem Sofa, den Laptop auf den verschränkten Beinen. Die Musik auf den Ohren, aber das muss ich sicherlich nicht hinzufügen. So oft hatte ich schreiben wollen und es dann doch wieder verworfen. Keine Zeit. Keine Muße. Keine Stimmung. Irgendwie viel zu oft ein "kein".
So geht es mir nicht nur mit dem Schreiben.
Ich fühl mich, als habe ich mir selbst schon vor Wochen den Stecker gezogen und fahre nun auf "Halbmast". Fühle Unruhe in meinem Kopf und unter meiner Haut.
Grundsätzlich halte ich mich für recht anpassungsfähig. Kann mich rasch auf veränderte Situationen einstellen, kann auch gut damit umgehen. Und wenn mir etwas Angst macht, kann ich mich auf ein "Nachher" fokussieren. Kann mir sagen "Lass es herankommen. Schau es dir an. Mach was draus. Irgendwas geht immer."
Diese Überzeugung lebe ich noch immer. Jeden Tag neu. Aber womöglich sind es doch zuviele Veränderungen für mich in relativ kurzer Zeit?
Vor gut drei Jahren sagte mein Chef: "Ich verkaufe meine Firma und mache dich zur Prokuristin." Letzteres hielt ich so lange für einen Scherz, bis er Ernst machte. Den Verkaufsprozess durchliefen wir innerhalb einiger Monate. Das inhabergeführte Unternehmen wandelte zu einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, er übernahm für eine abgestimmte Zeit die Geschäftsführung und mir wurde die Prokura übertragen.
"Du hast dich weit unter Wert verkauft", hat der Mann in all der Zeit oft gesagt. "Du machst die ganze Arbeit und er bekommt das Geld."
Wir, der Mann und ich, sind vor eineinhalb Jahren von M nach L gezogen. Haben uns hier neu eingerichtet und während er mit dem Heimweh kämpft, kämpfe ich darum, dass er sich hier wohl fühlt.
Seit einem halben Jahr ist der Chef vertragsgerecht ausgeschieden - und auch er selber weiß, dass er schon lange davor aufgehört hat zu arbeiten. Aber irgendwie.. hatte es sich trotz allem beruhigend angefühlt zu wissen, dass er da war. Dass die Firma noch immer sein "Baby" war. Vielleicht will ich mir das gerade auch nur so schönreden, ich weiß es nicht, keine Ahnung. Der neue Geschäftsführer und ich - wir kämpfen. Nicht gegeneinander, sondern miteinander. Wir kämpfen für die Menschen, für die Firma und mit nicht eingehaltenen Absprachen.
"Du machst schon wieder die Arbeit deines Chefs und er bekommt das Geld", wiederholt der Mann sich, doch das hier ist anders. Der neue Chef lehnt sich nicht zurück, lässt mich nicht allein, lässt mich nicht hängen. Aber auch er ist nur ein Mensch, auch er hat begrenzte Ressourcen und einen extrem gut gefüllten Terminkalender. Der Verkauf ist auf den Tag genau zwei Jahre her. Wir haben inzwischen ein Controlling aufgebaut, das es zuvor nicht gab. Wir haben inzwischen ein Abrechnungssystem aufgebaut, das jeder Wirtschaftsprüfung standhält - und das es so zuvor auch nicht gab. Wir haben Mitarbeiter verloren, die wir schmerzlich vermissen und die aber nicht mehr warten wollten oder konnten, bis der "alte" Chef seinen Hut genommen haben würde. Das heißt, wir fahren seit über einem Jahr mit angezogener Handbremse, bis es raucht und qualmt. Wie der Markt aussieht, weiß jeder. Wie schwierig es ist, gutes Personal zu finden, weiß inzwischen auch jeder. Und mit einem Mal ist es uns gelungen, gleich fünf neue Mitarbeiter zu gewinnen, die im Zeitraum zwischen Oktober und kommenden Januar zu uns kommen. Wir haben unseren Mietvertrag gekündigt und bereiten aktuell unseren Umzug vor in ein etwas größeres Domizil. Der Preis ist wesentlich attraktiver als in der bisherigen Immobilie und zwischen Abstimmungen mit IT, Elektriker und Vermieter lese ich im Vertragsentwurf von einer Indexklausel. "Indexmiete heißt ja, dass die Miete auch mal günstiger werden kann", sagt der Vermieter und ich lächle. Wir wissen beide, dass die Realität eine ganz andere ist. Perspektivisch sind wir an einem langfristigen Mietverhältnis interessiert. Mit einem Indexmietvertrag sähe ich hier eine deutlich verkürzte Mietdauer. Also kann ich einen Deal aushandeln. Die Indexklausel wird ersetzt durch eine Mietbindung für mindestens zwei Jahre.
Und mittendrin... sind wir seit Monaten involviert in die Bestrebungen unserer Mutter, uns mit einem anderen Tochterunternehmen zu verheiraten. Alles top secret bis zur vergangenen Woche. Gestern wurden wir gefragt, wie unsere Mitarbeiter diese Neuigkeit aufgenommen hätten. "Überwiegend positiv", hat der neue Chef geantwortet. Ja, es gibt positive Schwingungen. Es gibt jedoch auch andere. Und wenn ich gefragt werde, ob es vielleicht eine Art "anonymen Briefkasten" gäbe, dann wird mir einmal mehr bewusst, dass das Gros der Mitarbeiter gar nicht wagt, offen und ehrlich auszusprechen, was sie wirklich denken. Ich selbst habe mir schon einmal in größerer Runde den Mund verbrannt. Nicht weil ich etwas Falsches gesagt hätte. Und auch nicht den falschen Ton gewählt hätte. Nicht weil ich meine Diplomatie vergessen hätte. Gleichwohl... ist nicht jede Offenheit, nicht jede Wahrheit gewünscht. Das mussten sie nicht aussprechen - die Körpersprache war deutlich genug. Wird es mich den Hals kosten? Ich habe keine Ahnung. Wird die Fusion mich meinen Hals kosten? Auch dazu habe ich keine Ahnung. Kein Gefühl. Nicht Fisch, nicht Fleisch. Was kann ich denn eigentlich genau? Wer bin ich eigentlich? Werde ich überhaupt ernst genommen? Bin ich locker verzichtbar? Bin ich überhaupt jemand?
Tagsüber konnte ich diese Empfindungen ganz gut verdrängen. Es gibt ja einfach auch genug zu tun, das Alltagsgeschäft muss laufen. Aber diese Empfindungen quälen mich nachts in meinen Träumen - wenn ich denn überhaupt schlafen kann. Schau ich auf die Uhr, ist es grad schon wieder halb zwei Uhr morgens - und in meinem Kopf dreht sich alles hin und her, rauf und runter. Was wird kommen, was wird nicht kommen? Was wird passieren, was wird nicht passieren?
In ungewissen Situationen konnte ich immer dann, wenn mich etwas quälte und bedrückte, auf mein Lebensprinzip vertrauen, dass alles, was mit mir geschieht, am Ende immer seinen Sinn machen würde. Allein aus der aktuellen Retrospektive heraus weiß ich, dass tatsächlich alles, wirklich alles in meinem Leben seinen Sinn hatte. Dass es genau so und nicht anders kommen durfte. Nicht anders gewesen sein durfte. Dass ich so oft in meinem Leben unverschämtes Glück hatte. Vielleicht auch, weil ich mir früher nie solche Gedanken gemacht habe wie inzwischen. Vielleicht, weil ich mein Leben mit einer gewissen Unbedarftheit angepackt habe: Mach einfach und guck dann mal.
Ich hatte nie einen Plan von irgendwas. Ich hatte nie ein Karriereziel. Für mich selbst war ich immer die, die im Hintergrund agiert und die sich da auch ganz wohl fühlt. Sicher vor allem. Die in zweiter oder dritter Reihe steht. Nie vorn. Da wollte ich auch gar nicht hin, da wollte ich gar nicht sein. Jetzt bin ich aber da vorne und hadere mit mir und mit allem. Zweifle an mir selbst und zerfleische mich in den schlaflosen Nächten. In meinem Leben bin ich nicht oft enttäuscht worden - jedoch die wenigen Male sehr, sehr nachhaltig. So sehr, dass ich heute niemandem mehr vertraue. Auf schöne Worte gebe ich schon sehr lange gar nichts mehr, auch nichts auf die schönen Worte aus meiner Vergangenheit. Ich glaube nichts mehr davon.
Dieser uralte, ewig quälende Zweifel am eigenen Wert. Ich dachte, ich hätte das endlich mal überwunden, aber.. Ich sag Euch was: Das sieht nur von außen so aus.