Mittwoch, 8. September 2021

Zeit der Sehnsucht

 

Es gab Tage, da hatte ich angenommen, der Sommer sei in diesem Jahr schon vorüber. Angekündigt mit den letzten herbstlich angehauchten nasskalten, trüben Tagen, die bei mir nicht auf die Stimmung drücken, sondern eher ein Gefühl des Aufatmens vermitteln. Befreit von der Hitze der Tage und der Nächte, die einen mehrmals am Tag das bisschen Stoff herunterreißen und unter einer kühlen Dusche aufatmen lassen.
Vorbei aber auch die Tage am Meer. Da, wo die Seele atmet.Ich weiß, ich hab das schon tausendfach gesagt und wiederhole mich immer und immer wieder - aber.. In Tagen wie diesen blättere ich mich durch die Vielzahl der Fotos, mit denen wir in diesem Sommer die Tage am Meer eingefangen haben. Sie sind in meinem Kopf, aber es hat nochmal eine andere Dimension, wenn ich sie mir anschauen kann, Stück für Stück. Die gefühlte Sorglosigkeit betrachte, mit der ich mich durch diese Tage treiben ließ.

"Veränderungen machen mir Angst", gestand der Mann mir vor einiger Zeit. Ich habe darauf nicht geantwortet, weil ich es schon seit Jahren weiß. Und dieses Jahr fühlt sich so an, als warteten mehrere Veränderungen auf ihn, auf mich, auf uns alle - und überwiegend jene, die ich kenne, betrachten diese Zeit mit Argwohn, mit Furcht, aber auch mit Hoffnung und immer noch Zuversicht. Kann es nur noch besser werden und nicht schlimmer? Was wartet auf uns, was erwartet uns?

Vor wenigen Tagen rief ich eine Freundin an, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren. Wir hatten uns länger nicht gehört, sie bei mir nichts lesen können, dafür ich bei ihr. Und sie hatte in einem ihrer letzten Posts ein Gefühl in einem Satz zusammengefasst: Wenn ich auf das Jahr zurückschaue, ist da nichts..
Nichts wirklich, kein Ereignis, an das man sich zurückerinnert und noch nach Jahren noch weiß, wann da etwas gewesen ist. Schon das letzte und auch dieses Jahr fühlt sich eher diffus als erlebt an - und mittlerweile fühlt es sich auch so an, als warte man nur noch darauf, dass dieser Schleier zerreißt und alles wieder klar und wirklich wird. Zum Anfassen wirklich..

Vor ein paar Tagen war Laschet in Erfurt. Dort oben auf der Tribüne stand er und ließ zu, dass jemand ganz ungeplant zu ihm auf die Bühne sprang. Ganz nah. Zu nah? Es war Herr Lauterbach, der umgehend twitterte, das bisschen Abstand zwischen den beiden sei in Zeiten wie diesen einfach unverantwortlich.
Wo ich darüber las, weiß ich nicht mehr, ich habe meinen Twitteraccount schon vor langer Zeit gelöscht. Aber ich las es und das erste, was ich dachte, war: "Dein Ernst jetzt, Karl? Hast du echt nichts anderes zu sagen, als auf einen Abstand hinzuweisen?"
Es ist Wahlkampf, na klar. Da wird jeder mit jedem möglichen Dreck beworfen, und sei der Haufen noch so klein. Hauptsache, er trifft. 
Dennoch. Ich fragte mich: Wo werden wir hinkommen? Wohin soll diese Reise gehen, wenn das erste, woran wir bei einer Begegnung denken, nicht mehr der Gedanke ist: "Ich freu mich so, dich zu sehen", sondern "Oh Gott, hoffentlich geimpft, hoffentlich nicht zu nah"?
Wenn ich jemanden nicht mehr herzlich umarmen darf, mir stattdessen ein Fuß oder ein Ellenbogen hingehalten wird? Wenn die unterschwellige Angst immer und immer wieder befeuert wird, niemanden mehr wirklich an sich heranzulassen? Wenn die, die sich wenigstens ein bisschen Nähe und Herzlichkeit bewahren wollen, als verantwortungslos angesehen werden?

Ich bin ungeimpft, nach wie vor. Und wenn mich jetzt hier wieder jemand mit Verbalscheiße bewerfen will - bitte sehr. 
Mit dem Mann habe ich mich immer wieder mal lange über das Thema unterhalten. Er hatte sich in einem Impfzentrum angemeldet. Eine Anmeldung, die nach einiger Zeit verfiel, weil er keinen Termin vereinbarte. Er beliest sich wie ich. Er hat weniger Furcht als ich und kann sich dennoch auch nicht dafür entscheiden. Und er versteht die meine.
Sechzehn Jahre. Fast siebzehn Jahre. 
Sechzehn Jahre Kampf gegen einen Schmerz im Körper, der mich so oft nicht schlafen ließ, nicht lange sitzen, nicht lange stehen, manchmal nicht atmen ließ. So lange, bis irgendwann neurologische Auffälligkeiten eintraten. Ein Leben wie mit Watte im Kopf. Wie untergetaucht unter Wasser, Geräusche nur von irgendwoher, alles ganz diffus. Ein Gangbild, als hätte ich schon morgens 3-8 im Tee. 
Und niemand, wirklich niemand, der Dir helfen kann. Was man bisher nur von anderen kennt, erfährt man selber: Dass da viel mehr Ignoranz und Gleichgültigkeit ist als Hilfe. Ein ewiger Kampf gegen Windmühlen, den man manchmal aufgeben möchte, weil man nicht mehr kann und nicht mehr will.
Da hilft Dir einfach niemand raus - stattdessen wird Dir immer wieder gesagt, Du hättest ja vielleicht doch ein psychisches Problem. Stressbedingt. Sozialbedingt. Was-weiß-ich-bedingt.
Als wär das nicht auch normal, dass man jenseits der 30 oder 40 einen Rucksack mit sich herumträgt, in dem nicht nur Schokoladenkekse liegen. 
Nach all dieser Zeit habe ich jetzt zwei Ärzte, die mich behandeln, und das erfolgreich. Ich bin fast wieder die Alte. Ich bin fast wieder die, die ich vor dem ganzen Irrsinn war. Und ja, ich habe verdammt nochmal Furcht davor, dass ich mir das wieder kaputtmache. Mit etwas, das weder erprobt noch erforscht noch hinsichtlich einer Langzeitwirkung bekannt ist. Da brauche ich nicht mal irgendwelche alternativen oder gar dubiosen Kanäle zu bedienen - sondern einfach nur den Mainstream-Medien zuzuhören. Nicht mal täglich, aber kontinuierlich. 
BTW: Ich lese bis heute nicht auf alternativen oder fragwürdigen Kanälen. 
Aber ich hinterfrage - bis heute. 
Und viel zu oft bleiben Fragen ohne Antworten.
Aber vielleicht will ich ja manches auch wieder zu genau wissen?
Ich weiß nur eins: Wenns schiefgeht, hilft mir kein Schwein. Kein einziges. Dann steh ich wieder ganz am Anfang, fange ganz von vorne an zu kämpfen. Nicht nur um Gesundheit, sondern auch um Akzeptanz. Noch mal sechzehn, siebzehn Jahre? Oder mehr oder weniger? 

An dieser Stelle hier hatte ich ein paar Zeilen mit meinen Gedanken zur aktuellen Situation geschrieben - und sie gerade alle wieder gelöscht. Es ist mir zu müßig und genau genommen ist es auch egal. Es ist egal, was ich denke - oder was andere Menschen denken. Wir ändern es nicht - auch nicht mit fragwürdigen Demos. Was (für mich) fehlt, ist der allgemeine Zusammenhalt. 
Menschen interessieren sich nicht dafür, warum sich jemand für die Impfung und der andere dagegen entscheidet. Alle wollen sie nur eins: raus aus dieser Situation. Und der eine macht den jeweils anderen dafür verantwortlich, dass das nicht geschieht. Es liegt aber nicht an Dir oder mir, wie lange wir in dieser Starre hängen. 
Die Stadt Rosenheim führte Ende August aufgrund ihrer Inzidenz eine Kontaktbeschränkung ein - ohne Rücksicht auf geimpft oder genesen. Sie zählten alle mit rein. Dieser Beschluss wurde dann eine Woche später wieder gekippt - mit Vorliegen der aktuellen Bayrischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung.
Und Jens Spahn äußerte vor kurzem im Hinblick auf das Testen folgendes: 

„Am Ende messen wir dann Inzidenzen von geschützten Menschen, die keinen Aussagewert haben, mit denen wir aber dann nie aus dieser Pandemie kommen. Außerdem muss Impfen ja auch noch einen Unterschied machen. Warum soll ich mich impfen lassen, wenn sich trotz Schutz um mich herum nichts verändert?“
Wenn man da mal zwischen den Zeilen liest.... Und eben nicht nur da. 

Fun Fact: Ich wollte heute Abend mal die aktuelle Inzidenz von M nachlesen. Auf der offiziellen Seite von M fand ich den Wert 56,4 - cool: Vor fünf Tagen lag er noch bei 70. Auf ner anderen Seite fand ich den Wert 79,5 und dazu die Aussage, die Inzidenz in M würde einen gewaltigen Sprung nach oben gemacht haben. Tja nun. Zwei Seiten mit zwei Werten für ein und denselben Kalendertag. Kann ich mir jetzt den aussuchen, der mir besser gefällt? Meine Freundin meinte: "Mach doch Schnick-Schnack-Schnuck" und ich antwortete "Ich glaub, das haben schon andere für mich gemacht." 

Vor etwa drei Wochen war ich bei meinem Rheumadoc. Er überlegte, ob er zusätzlich zu den Spritzen doch wieder vorübergehend Cortison in niedrigerer Dosis hinzufügt. Und sagte: "Ich geh doch mal davon aus, Sie sind inzwischen durchgeimpft."
Und ich antwortete: "Nein, das bin ich nicht. Ich konnte mich noch nicht dazu durchringen."
Meine Entscheidung versteht er nicht und ich hab noch immer im Ohr, wie er sagte: "Eins sag ich Ihnen: Sie als Rheumatikerin kommen nicht so einfach davon, wenn Sie sich infizieren."
Natürlich gibt mir das zu denken. Allein wissen tut er es nicht. Er vermutet es. Aber er weiß es genauso wenig wie er nicht sagen kann, ob und welche Wirkung die Impfung auf meinen Körper hat. 
Hinzu kommt aber auch, was irgendwie ganz oft unter den Tisch fällt: In 1,6 Jahren Infektionsgeschehen haben der Mann und ich uns verhalten wie sonst auch in Erkältungszeiten: Hygiene, kein Umarmen Dritter, wenn mindestens einer von beiden erkältet ist. Man hört doch nicht mit Umsicht, Vorsicht und auch Rücksicht auf, nur weil man sich gegen eine Impfung entscheidet?
Konsequenz jedenfalls ist, dass der Doc Cortison nicht dazugibt. Weil Cortison das Immunsystem unterdrückt und meinen Körper damit zu einem offenen Tor für alle möglichen Erreger macht.
Das verstehe ich. Und das akzeptiere ich. Kann ich, weil ich noch die Spritzen habe, die das alles wesentlich erträglicher und besser machen als ohne. 

Der Mann und ich haben in diesem Jahr schon gewählt, per Briefwahl. Es wird sich zeigen, wie es ausgeht. Und was dem dann folgt. Ich denke, da kommt eine Menge Veränderung auf uns zu. 
Da sind eine Menge Ideen von verschiedenen Leuten, auch viele Ideen, von denen man sich fragt, wer das alles bezahlen soll - und eigentlich weiß man die Antwort darauf schon. 
Für alles aber brauchts vor allem eins: eine florierende Wirtschaft. 

Der Mann hat Angst vor Veränderungen.
Ich manchmal auch. 

Ich hab Sehnsucht. Sehnsucht nach Meer. Ich wär jetzt gerne wieder dort. Einfach so. Dastehen. Am Ufer. Augen schließen. Für einen Moment einmal mehr aus dem Gedankenkarrussel aussteigen. Die Augen wieder öffnen. Durchatmen. Weitermachen.