Donnerstag, 6. März 2025

Addict.


Musik. Musik zieht mich runter und hebt mich wieder auf. Musik bringt mich zum Weinen und zum Tanzen. Und ganz oft verursacht sie Gänsehaut auf meinen Armen, auf meinen Beinen, auf meinem Rücken bis hoch zum Haaransatz. Immer aber, wirklich immer bringt sie mich zum Träumen. Dann kann ich die Augen schließen, kann mich völlig wegdenken, irgendwohin, wo ich vielleicht gerade sein wollen würde. Am Meer vielleicht. Im Sand sitzen,  die Arme um die Knie geschlungen, neben uns eine Flasche Wein, ein Pizzakarton vielleicht. Wir würden reden und dabei auf das Meer oder in den Himmel über uns schauen, ein wenig besorgt vielleicht der Möwen wegen. Vielleicht würden wir aber auch zulassen, dass sie uns das letzte Stück Pizza aus dem Karton klauen und dieses kreischend in Sicherheit bringen.

Es sind diese ersten milden Sonnentage, es ist die Musik, die diese Bilder in meinem Kopf entstehen lassen. Bilder, die mehr Kraft besitzen als die aktuelle Realität, in der ich nicht am Meer im warmen Sand sitze, sondern überlege, ob ich mich aufrecht setze oder doch lieber liegenbleibe. Die aktuelle Realität, in der ich mir ein Ei koche und es dann doch erkalten lasse, weil mir das Aufessen unüberwindbar erscheint.
Es tut so gut, sich irgendwohin träumen zu können. Der Realität zu entfliehen, der man ohnehin nicht entkommen kann. Nicht der, die mir aus den Nachrichten entgegenschlägt. Nicht der, die mir in der Storyline der Menschen entgegenspringt, denen ich beispielsweise auf Instagram folge. Nicht der, mit der ich mich im Alltag auseinandersetzen muss und von der ich auch nach dem zwischenzeitlich dritten Gespräch mit meinem Chef nicht einordnen kann, wo ich mich künftig sehen soll. Sehen kann. Sehen darf. 
Nicht der Realität, die dem Wahlsonntag folgt. Wenn ich darüber nachdenke, wem ich meine Stimme gab, hätte ich mir jetzt nichts vorzuwerfen, denn an der aktuellen Konstellation war meine Stimme nicht beteiligt. Aber wen interessiert das, die Karten werden eh ganz woanders gemischt. 
Wenn ich mir also Bilder in meinen Kopf zaubere, denen ich nur allzu gern folge, dann flüchte ich bewusst vor dieser Realität, wenigstens für den Moment. Anders, glaube ich, könnte ich es nicht ertragen. Ich kann nicht wie andere jeden Tag irgendwelche Reels oder Memes teilen, die die aktuelle weltpolitische Lage kritisieren, sezieren, an die Menschen appellieren. Auch wenn man es vielleicht müsste, will ich mich nicht jeden Tag, jeden Augenblick damit auseinandersetzen. 

Vor einiger Zeit nahm jemand meine Hände in die seinen, schaute sich die Innenflächen an und strich über Linien. Sagte: "Du wirst vielleicht nicht sooooo alt, aber du wirst schon alt werden. Und deine Lebenskraft wird eher langsam verlöschen."
Das mag jetzt Auslegungssache sein, aber ich empfand das spontan als durchaus positiv: "Oh das klingt beruhigend! Dann weiß ich zumindest, dass ich nicht mit dem Flugzeug abstürze oder von jemandem abgemurkst werde."
"Nun", lautete die nachdenkliche Antwort, die mich - zugegeben - seither begleitet, "das sagt aber auch nichts darüber aus, WIE man dieses Leben zu Ende leben muss."
Muss ich darüber nachdenken? Will ich darüber nachdenken? Jeden Tag, jeden Augenblick? Was macht das dann mit mir und fangen die Dinge nicht immer zuallererst bei einem selbst an?
Was machte das dann mit meiner (Sehn-)Sucht nach dem Leben?

Also lege ich mich wieder zurück, schließe meine Augen, lausche dem Song, denke an nichts und fühle dennoch ganz arg viel für den Moment.