"Bin aus den Nachtsorgen gekrochen wie ein Vogel aus dem Ei.
Hab die Schale durchbrochen und spaziere nun frei."
Ich weiß nicht mehr, wie das Buch hieß, in dem ich diese Zeilen las, ich weiß nur, dass es unglaubliche dreißig Jahre her ist, dass ich sie las. Manchmal muss ich ja schon ein bisschen über mich lachen: Es gibt Dinge, die kann ich mir von jetzt auf gleich nicht merken, schnipp, weg sind sie. Anderes hingegen, das nicht mal tieferen Sinn haben muss, bleibt auf immer und ewig hinter der Stirn.
Ich hab Momente, da fühlt sich die Schicht um mich herum wie ein Panzer an, nichts "Böses" kommt da durch, prallt ab und verliert sich.
Und ich hab Momente, da lege ich unbewusst diesen Panzer ab, fühle ich mich durchströmt von Eindrücken, Wahrnehmungen, gegen die ich mich nicht wirklich wehren kann - und sie tun mir weh und reißen mich um.
Therapeuten oder Philosophen würden jetzt den Finger heben, lächeln und sagen: "Der Herbstblues - ganz klarer Fall!" Vielleicht hätten sie recht, vielleicht auch nicht? Dinge kommen, Dinge gehen, so auch die Stimmungen und die Wahrnehmungen, ob Frühling, Sommer, Herbst oder Winter.
Als ich noch ein wenig jünger war, empfand ich mich als wesentlich... ja... robuster vielleicht. Jetzt überlege ich manchmal, ob das einfach auch "nur" eine Leichtigkeit der Jugend ist oder war, weil man einerseits zu wenig sah und wusste und über die Eventualitäten im Leben eben dann doch hinweggetänzelt ist wie ein Schmetterling. Zumindest hatte mir diese Eigenschaft mal eine Freundin bescheinigt, aber das ist gut zehn Jahre her und ich bin nicht sicher, ob sie heute noch dasselbe von mir sagen würde.
Ich meine, am Samstag fühlte ich mich noch so wohl. Alles war gut, alles war rund. Am Abend sortierten wir die Kleiderschränke neu. Warum nicht alles mehr reinpasst, weiß ich gar nicht, aber irgendwie genügte mein wundervoller antiker Kleiderschrank für meine Sachen nicht mehr; die gelben Seiten räumten mir großzügig dafür Platz in seinem ein dann sah er mir interessiert dabei zu, wie ich ein Kleidungsstück nach dem anderen ablegte (doch, man kann ins Schwitzen kommen, wenn man die Musik aufdreht, die Klamotten von Schrank A nach Schrank B sortiert und dabei noch singt und tanzt). Und von einem Moment auf den anderen findet man sich in Diskussionen wieder, für die allein eine whatsapp Nachricht vom Sohnemann genügte...
Der Samstag Abend war im Arsch, kann man ruhig so sagen, und der Sonntag still und ruhig, ein vorsichtiges Miteinander.
Monatelang hab ich mich zerrissen gefühlt in den Wünschen, mit den gelben Seiten zu leben und aber irgendwie auch mein Leben mit meinen Jungs zu teilen. Mehr oder weniger. Sie müssen ja nicht mit mir in meinem Haushalt leben, aber so weit weg... Das ist die bekannte Konsequenz, wenn man eine Fernbeziehung eingeht. Mir war das immer bewusst, doch als dann die Zeit gekommen war, fühlte ich auch, wie schwer es mir fiel. Dennoch sind wir diesen Schritt gegangen, meine Söhne und ich, und ich sage nicht, dass ich diese Entscheidung bereue. Nein, das tu ich nicht. Letztlich denke ich eher, dass es schon auch eine Entscheidung war, die längst getroffen hätte sein sollen.
Gestern Abend lag ich auf dem Sofa, die Beine von mir gestreckt, im TV lief ein Polizeiruf: Frau trennt sich von Mann, drei gemeinsame Kinder, das jüngste kaum ein Jahr. Mann unternimmt letzten Anlauf zur Versöhnung, erkennt aber auch, dass Frau bereits einen anderen Mann liebt.
Er bringt sie um. Sie und zwei der drei Kinder.
Ich sehe das und denke: Bei allem, das ich selber im Scheidungswahn erlebt habe, kann ich wirklich froh sein, dass mein Ex diesen letzten, mehrmals angedrohten Schritt dann doch nicht gegangen ist.
In der Zeit der Ehe hatte ich - das muss ich so zugeben - nicht wirklich viel Zeit für meine Söhne. Ja, ich hab sie viel geknuddelt, geknutscht, auf dem Schoß gehabt, aber vor allem habe ich immer unter Stress und Druck gelebt. Und in Angst. Das Leben war eine minutiös geplante "Angelegenheit", alles musste möglichst reibungslos laufen, vor allem wollte er dabei nicht gefordert sein.
In diesen Jahren habe ich vor allem begriffen, unter welchem Druck meine eigene Mutter früher stand und dass bestimmte Situationen und Reaktionen nicht bedeuteten, dass sie mich nicht liebte, sondern dass sie einfach keine Zeit und keine Kraft hatte.
Nach der Trennung und auch der Scheidung drei Jahre später habe ich vor allem immer eins versucht: meinen Kindern ein Leben zu ermöglichen, so frei, so unbeschadet und vor allem so leicht wie möglich. Nicht weil ich ein schlechtes Gewissen ob der Entscheidung zur Trennung hatte. Sondern weil sie seit der Trennung viel zu vieles sehen und mit durchstehen mussten, vor dem ich sie nicht schützen konnte. Wilde Verfolgungsjagden mit dem Jungen auf seinem Beifahrersitz, wieder und wieder, von meiner Arbeit bis zu meinem neuen Zuhause, weil er immer sehen wollte, ob ich allein war oder doch einen neuen Partner hatte. Tabletten und Alkohol: "Du willst zu deiner Mutter? Das kannst du natürlich machen. Ich beruhige mich schon irgendwie, ich schlaf einfach das ganze Wochenende." Den Arm, den er mir vor den Kindern so heftig auf den Rücken drehte, dass die Bänder in der Schulter unwiderruflich kaputt gingen, nur weil ich nicht der Meinung war wie er, dass die Ehe noch zu retten sei. Im Gegensatz zu ihm war ich völlig ruhig, ohne ein Wort, ohne eine Träne, vielleicht war es der Schock, während er austickte: "Junge, hast du das gesehen? Deine Mutter hat mich geschlagen, ich musste mich wehren" und der Junge schaut mich an: "Nein Vater, das habe ich nicht so gesehen."
Ich kann und ich will sie gar nicht alle erzählen, die Dinge, die vorgefallen sind, niemand weiß alles aus dieser Zeit, nur mein Ex und ich, doch bis heute fühle ich meine Schuld, dass meine Kinder nicht die Kindheit hatten, die jedes Kind haben sollte. Mir ist auch bewusst, dass sie mittlerweile in einem Alter sind, in dem sie Verantwortung für ihr Leben übernehmen können und müssen, dass sie auch in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen. Doch bedeutet das, dass ich von nun an nur noch mein Leben lebe, Geld für meine Wünsche zur Seite lege und nur dann hilfreich zur Seite steh, wenn gar nichts mehr geht?
Ich denke dann oft daran, wie ähnlich meine eigene Mutter und ich uns sind. Wie oft und wie sehr sie mir geholfen hat, gerade in der Zeit der Trennung, aus der ich nichts mitnahm als die Klamotten und das Bett fürs Kind. Mein Vater weiß so vieles nicht. "Sie sind erwachsen, sie müssen für sich selber sorgen", sagt er immer und hat ja auch nicht unrecht. Jedoch das Leben ist nicht immer nur einfach und geradlinig, und wie schnell vergisst der Mensch, dass auch er auf Hilfe angewiesen war, wenn er sich selbst stabilisiert hat? Warum vergisst der Mensch so schnell? Warum vergisst er, wessen Schulter er sich bedient hat, warum vergisst er, dass auch ihm oft genug geholfen worden ist? Warum neigt der Mensch dazu, immer mehr vor allem an sich und die eigenen Bedürfnisse zu denken?
Ich bin so nicht und ich kann so nicht.
Laut aktuellem Bafög-Bescheid, der nach - man glaubt es kaum - fünf Monaten Bearbeitungszeit endlich vorliegt, müsste ich Sohnemann 240 Euro monatlich zahlen. Der Vater ist raus, der verdient zu wenig. Rechne ich zusammen, was ich Junior monatlich zukommen lasse, komme ich auf nicht ganz 500 Euro. Mit dieser Summe liege ich bei genau dem, was unser Haushaltsplan schon vor fast einem Jahr ergeben hat: Für mich ist das in Ordnung. Und ich möchte nicht damit gequält werden, wo und an welcher Stelle sich noch etwas optimieren lässt, damit die knapp 500 Euro sich auf vielleicht 450 oder gar 400 Euro drücken lassen, weil, wir haben ja auch noch Träume und Wünsche. Ich möchte aber einfach nur zu dem Wort stehen, das ich insbesondere dem Jüngeren gab, als noch nicht daran zu denken war, dass er und sein Bruder eine WG gründen: "Ich bin für dich da und ich helfe dir - bis zu der Summe X ist es möglich. Wenn du noch mehr oder andere Wünsche hast, such dir eine Arbeit und verdien dir was dazu."
Aber ich habe ihm auch gesagt: "Such dir einen Nebenjob, damit du auch abgesichert bist. Wenn mir mal was passiert, stehst du von einem Tag auf den anderen ohne Geld da, zumindest für ein paar Wochen. So abhängig darfst du niemals von jemandem sein!"
"Dir passiert nichts, meine Seerose", hat er geantwortet, "über dir schwebt mein Schutzengel!"
Bislang hat er sich zwar mehrfach beworben, einen Nebenjob dennoch nicht begonnen. Ich rege mich nicht mehr darüber auf und rede auch nicht mehr rein: Wenn Wünsche Geld kosten, muss er halt sparen oder eines Tages eben doch arbeiten gehen. So einfach ist das für mich. Eigentlich.
Ich glaube, ich hocke immer noch in diesem Ei. Ich habs noch nicht geschafft, da herauszukriechen, und dabei will ich und muss ich: Das Leben ist doch zu schön, um traurig zu sein. Eigentlich.