Ich wusste, ich hatte heute Morgen einen Termin. Ich hatte mir das Datum gemerkt, jedoch nicht die Uhrzeit. Und mir diese blöderweise auch nicht notiert.
Ich empfinde es immer wieder als irre, dass in unserem Bewusstsein Dinge gespeichert sind, die so viele Jahre zurückliegen und wir haben dennoch den exakten Wortlaut im Kopf. Aber ein Datum von jetzt auf nachher zum Beispiel entfällt in mein persönliches Bermudadreieck...
Während der Wartezeit habe ich gelesen. Nachrichten, Blogs.
Ich habe gelesen vom Wunsch, Erinnerungen löschen zu können. Erinnerungen an Erfahrungen im Leben, die so viele Jahre zurück liegen - und trotzdem präsent bleiben.
Ob die Aussage, dass die Wissenschaft daran arbeite, gewisse Bereiche im Hirn, die für die Erinnerungen zuständig sind, so zu bearbeiten, dass man gewisse Erinnerungen löschen könne, eher zynisch gemeint war oder der Tatsache entspricht, kann ich jetzt nicht sagen.
Es erinnerte mich an jene Sitzung in der Schmerzklinik, in der die Ärztin zu mir sagte: "Es ist noch niemals in der Medizin gelungen, das Schmerzgedächtnis zu löschen. Man arbeitet daran, aber gelungen ist das noch niemals."
"Aber wozu bin ich dann hergekommen? Ich bin doch hergekommen, damit ich den Schmerz endlich loswerde."
"Das ist nicht das Ziel."
"Was ist dann das Ziel?"
"Dass Sie lernen, damit zu leben."
Ich wollte aufstehen und gehen. Ich wollte nicht akzeptieren und nicht hinnehmen. Ich wollte kämpfen und beweisen, dass ich es könnte.
Ich bin nicht aufgestanden und nicht gegangen.
Aber ich habe gekämpft - und verloren. Weil es mir nicht gelungen ist.
Nach wie vor lebe ich mit Schmerz in meinem linken Körper, aber ich habe mich in all den elf Jahren daran gewöhnt.
Er ist da und ich habe es akzeptiert.
Oder habe ich kapituliert?
Hätte ich mir gewünscht, einen Punkt in meinem Hirn zu finden, den man so bearbeiten kann, dass der Schmerz sich auflöste? Nicht mehr da wäre? Weil ich nicht mehr weiß, wie das ist, schmerzfrei zu leben, und mich aber erinnere, dass das wesentlich unbelasteter war?
Gibt es einen Punkt in meinem Hirn, der sich (und mich) an etwas erinnert, das längst vergangen ist?
Kann man diesen Punkt finden, selektieren, dezimieren?
Was macht das dann mit mir? Bin ich dann noch ich oder doch jemand anderes, weil man vielleicht... zuviel dezimierte?
Meine Mum hat geweint am Telefon, als man mir Medikamente verabreichte, unter denen ich echte Wortfindungsstörungen entwickelte und ein Gespräch völlig unmöglich wurde.
Das war im Sommer 2005 und der Moment, in dem ich beschloss, meinen Verstand zu retten.
Möchte ich meinen Kopf, mein Hirn "manipulieren" lassen, nur damit es nicht mehr schmerzt?
Damit der Körper nicht mehr schmerzt?
Damit die Seele nicht mehr schmerzt?
Haben mich im Gegenzug die Erinnerungen manipuliert?
Meinen Körper?
Meine Seele?
Welchen Preis wäre ich bereit zu zahlen, um wieder so sorglos und unbeschwert zu sein?
Ich weiß, dass jegliche Medikamente zentral wirken, also im Hirn. Dass jedes Medikament ein bestimmtes Areal im Hirn anspricht, damit ich mich besser fühle.
Ich nehme trotzdem keine, weil sie eh nicht helfen, und weil ich aber auch nie ein Zombie werden wollte.
Ich wollte ich selber bleiben - und heute frage ich mich: Wer bin ich denn überhaupt?
Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht so genau. Ich lache, ich lebe und ich liebe immer noch so gern wie früher - aber es ist trotzdem anders.
Die meisten Menschen ertrage ich nicht für eine längere Zeit - ich will mich dann zurückziehen, ich will allein sein oder wenigstens in Ruhe gelassen werden.
Die meisten Menschen erschrecken mich noch immer mit dem, was sie sagen, was sie tun - oder eben auch nicht.
An manchen Menschen verzweifle ich noch immer, was sie tun, wonach ihnen ist - ohne sich zu fragen, wie es dem anderen dabei geht. Ohne sich eine Vorstellung davon zu machen, was ihr Tun in einem anderen bewirkt.
Bin ich ein Misanthrop geworden deshalb?
Nein.
Ich glaube nicht.
Ich kann meine Erinnerungen nicht löschen, und ich habe mich gefragt, ob ich das auch wollte.
Ich denke nicht.
Ich bewerte nicht, ob das Erlebte mich zu einem guten oder weniger guten Menschen gemacht hat.
Ich erinnere mich an Filme, in denen das Hirn manipuliert wurde - aber die Natur lässt sich nicht betrügen. Ich befürchte, dass ein vager Verdacht, ein diffuses Gefühl dessen, was mal war, mich viel mehr um den Verstand bringen würde als die reale Erinnerung. So wie einem ein Name auf der Zunge liegt, doch man kommt nicht drauf.
Wäre ich dann noch wirklich ich - oder in Wahrheit genau der Zombie, der ich nie werden wollte?
Ja, man hätte dann die Chance für neue Erinnerungen. Aber wer sagt uns, dass es gute würden? Bessere als die "alten"? Wir wüssten doch dann nicht, wovor wir uns schützen müssten.
Ich lebe mit dem Erlebten und mit den Erinnerungen.
Ich lebe damit, dass es nie aufhört, wehzutun, aber dass man lernt, damit zu leben.
Und ganz ehrlich? Das Leben früher war nicht immer ein besseres. Ich habe sehr viel verloren - aber ich habe bis heute auch sehr, sehr viel Schönes bekommen. Fast alles würde ich immer wieder so machen.
...und der Termin heute... Der Doktor will ein Blutgefäß-Sono und einen Schädel-Scan.
"Ihre Reflexe sind überlebhaft, aber wenn das Zittern der Hand vom Stress wäre, warum dann einseitig?"
Könnte ich ihm das beantworten, hätte ich ihm nicht die Gelegenheit geschenkt, mich wegen der 15minütigen Verspätung anzumaulen.
Aber ich bin entspannt. Nicht gespielt entspannt, ich bin tatsächlich momentan die Ruhe selbst.
Wahrscheinlich ist das das einzige, in dem ich absolut authentisch bin.