Ja Hase, die Zeit schreitet voran. Wie schon bei Deinem Bruder habe ich auch bei Dir dieses Mal nicht den punktgenauen Geburtstagsgruß setzen können - aber dafür war ich ja an Deinem Tag auch bei Dir :) Überhaupt: Grad warst Du noch der kleine Wissbegierige, der auf und unter die Tische und um die Autos herum kroch, der alles wissen und erkunden wollte, der kaum aufhörte, Fragen zu stellen und sich nicht damit zufrieden gab, wenn er nicht alles beantwortet fand.
Und jetzt bist Du einen Meter vierundneunzig groß, schaust auf mich herunter, meist mit einem schiefen Lächeln, manchmal unsicher, manchmal abwartend, meistens genervt, und alles, das nicht zu Deinen Interessen zählt, muss man Dir mindestens zweimal sagen. Gerne auch mal dreimal ;)
Und ganz oft kann ich drauf wetten, dass Du beschwörst, nie nicht auch nur ein einziges Wort vom Gesagten gehört zu haben, wenn man Dich dann nochmal an etwas erinnert.
Für jemanden wie Dich ist es ein Segen, dass wir im digitalen Zeitalter leben: Es gibt kaum etwas Wichtiges, das sich nicht digital und damit ohne großen Aufwand erledigen lässt, gerne auch von mir in Deinem Namen. Sei es die Steuererklärung, seien es einst die Bewerbungen gewesen oder die An- und wieder Abmeldungen beim Amt. Ich weiß, dass ich Dir da zuviel abnehme. Manchmal überrascht Du mich dann aber auch. So wie im vergangenen Jahr, als Dein 1. Jahr Befristung sich dem Ende neigte und ich Dich fragte, ob Du bei Deinem Arbeitgeber nicht mal nachfragen könntest oder so. Und Du winktest ab: "Ach Mutsch, hab ich doch alles schon geklärt, schon vor zwei Monaten."
Es ist ja nicht so, dass ich Dir das nicht zutraue. Ich weiß, dass Du alles allein machen kannst.
Mich hat nur vor allem überrascht, dass Du ganz von allein dran gedacht und alles geregelt hattest. Denn so verpeilt Du oft bist, so sehr lebst Du ganz oft auch in Deiner eigenen Welt. Und so schnöde Alltagsgeschichten gehören da vermutlich nicht wirklich rein ;) Ach wenn Du wüsstest, wie sehr ich mich in Dir wiederkenne... So wie Du heute bist, haargenau so war ich, bevor Du und Dein Bruder auf die Welt gekommen sind. Genau genommen habe ich erst mit Euch und vor allem mit Dir begonnen, das Leben in die Hand zu nehmen.
Mich mit Ämtern, Behörden und Ärzten auseinanderzusetzen, mich manchmal auch mit ihnen zu streiten. Nicht alles einfach so hinzunehmen.
Mit Euch habe ich gelernt, mich im Leben durchzusetzen - und ich kann Dir sagen: Das war ein langer Weg!
Im Moment genieße ich noch immer die Zeit, wenn ich nach L komme, in unsere "alte" Wohnung.
Ich liebe es, für Euch etwas Schönes zu essen zuzubereiten, die Wäsche zu sortieren, hin und wieder etwas zu backen und vor allem Dir morgens ein Fresspaket mit auf den Weg zu geben, von dem Ihr anfangs immer etwas geschmunzelt habt: "Sollen wir auswandern?"
Überhaupt denke ich in letzter Zeit oft an die früheren Jahre. Wir drei in unserer kleinen Wohnung, in der es manchmal ganz ordentlich zuging, wenn Ihr Euch mit Matchbox’ beworfen oder Euch wenigstens verbal um die Ohren gehauen habt, dass die Heide nur so rauchte. (An dieser Stelle lobe ich mir auch dieses Tagebuch hier, so kann ich immer mal das eine oder andere nachlesen, lachen und mich sagen hören: "Ach ja, stimmt, so war das, hattsch schon ganz vergessen!")
Wir drei, wie wir morgens in der kleinen Küche an dem Holztisch saßen und über alles mögliche sprachen. So hatte ich mir das immer gewünscht: eine gemütliche Küche, an der alle sitzen, essen, trinken, erzählen...
Ich erinnere mich auch, dass ich manchmal ziemlich unnachgiebig sein konnte. Wie zum Beispiel an dem Tag, als es Lachs mit Nudeln gab und Du sagtest: "Äh ne, das mag ich nicht, das schmeckt mir nicht." Eigentlich ist das tatsächlich nicht weiter wild, denn aus Dir war schon längst ein guter Esser geworden - Sorgen musste ich mir da also nicht machen. Warum ich trotzdem darauf bestand, dass wenigstens probiert und was gegessen wurde, kann ich heute nicht mal sagen. Aber ich bestand darauf - und die Konsequenz ist, dass Du Fisch bis heute zutiefst verabscheust. Schon aus Prinzip vermutlich 😌
Wusstest Du eigentlich, dass Deine Oma mit mir mal genau dasselbe gemacht hat, als ich so um die elf, zwölf Jahre alt war? Damals sollte ich gefüllte Paprikaschoten essen - und ich mochte die gekochte Paprika überhaupt nicht. Oma ließ mich bis zum Nachmittag am Küchentisch sitzen, längst war natürlich alles kalt geworden (Mikrowellen gabs damals noch nicht), natürlich waren alle anderen schon vom Tisch aufgestanden, nur ich musste da sitzen und schob missmutig das Essen mit der Gabel auf dem Teller hin und her. Schob alles immer so zusammen, dass es aussah, als hätte ich was davon gegessen - aber natürlich hatte ich keinen einzigen Bissen davon runterbekommen. Irgendwann gab Oma auf und meinte: "Na los, steh auf."
Ich glaub, so ähnlich hatte ich das mit Dir auch gemacht - aber ich schwöre: Das war wirklich keine Absicht! Mir ist erst viel später mal aufgegangen, wie viel man aus der Kindheit heute doch macht, obwohl man sich einst geschworen hatte: "Wenn ICH mal Kinder hab, wird ALLES anders!"
Ha ha, ja ne! Wirds natürlich nicht :)
Und wenn Du nicht willst, dann willst Du auch nicht - und das ist echt richtig schwer, Dich von etwas anderem zu überzeugen. Ich habe, glaube ich, auch noch niemals erlebt, dass Du entgegen Deiner Überzeugung handelst. Wenn Du an einen Weg oder an eine Sache nicht glaubst, wenn Du diesem nicht vertraust oder gar weißt, dass es falsch wäre, dann machst Du es auch nicht.
Allerdings ist es auch relativ leicht, Dich zu verunsichern, leider, und dann wirds richtig schwierig.
So wie in der vergangenen Woche, als klar war, dass die Reparatur Deines kleinen Flitzers mehr kosten sollte als er noch wert ist - und wir uns nach Alternativen umgeschaut hatten. Ein denkbar schwieriger Zeitpunkt aktuell, aber manchmal lässt einem die Realität kaum eine oder auch gar keine Wahl.
Und wenn Dir jemand sagt, dass man ein Auto deutscher Marke nicht mit einem Kilometerstand von 90.000 kauft, auch dann nicht, wenn man den Verkäufer kennt, dann bekommt man Dich auch nicht mit guten Argumenten überzeugt. Allerdings, wenn das Budget nur begrenzt ist, solange man nicht in Ratenzahlung verfallen will, dann kann man zwar Vorstellungen haben, aber die Realität ist einem dann doch um einige Schritte voraus.
Probefahrten haben wir dennoch gemacht, Du warst vom einen oder anderen auch ganz angetan, aber die Randbedingungen stimmten letztlich nicht.
Bezeichnend der Moment: Der Verkäufer steigt ins Auto und will es zurück auf den Hof fahren, da fängt es an zu piepen. Ich kenne dieses Geräusch inzwischen und weiß, dass sich hier die Batterie verabschiedet hat. Du jedoch drehst Dich erschrocken um und rufst ihm zu: "Oh! Hab ich da jetzt was kaputtgemacht?" Ich schaue Dich entsetzt mit großen Augen an WAS REDEST DU DENN DA??, doch der Verkäufer winkt schon ab: "Ja ne, das liegt an der Sitzheizung, die zieht immer den Strom weg. Ist nicht Ihre Schuld!"
Und Du lächelst entspannt: "Na Gott sei Dank, ich fürchtete schon!"
"Wieso denkst du immer gleich, dass der Fehler bei dir lag?" frage ich Dich und Du sagst: "Na hätte doch sein können." Und ich sage: "Im Gegenteil, da siehst du mal, was für eine Möhre das ist und wie unvorbereitet der Verkäufer war!" Du jedoch siehst das anders, für Dich ist es Pech, keine Absicht - und ich hole tief Luft, dann sage ich: "Weißt du, was ich wirklich an dir liebe? Dass du immer an das Gute in den Menschen glaubst. Aber manchmal wollen sie einen tatsächlich einfach nur über den Tisch ziehen."
Manchmal betrachte ich Dich, wenn Du auf Deinem Bett liegst und surfst oder auf dem Balkon hockst und eine rauchst. Du vergisst IMMER, die Tür hinter Dir zu schließen. Das sind Dinge, die Dich eher nicht interessieren, auch wenn Du nicht IN der Wohnung rauchen wollen würdest. Der Gestank zieht dann trotzdem jedesmal bis überall hin, also mahne ich jedesmal neu: "Mach! Die! Tür! zu!"
Wie die neue Waschmaschine und auch der neue Trockner (ja, manchmal kommen wirklich ALLE Dinge auf einmal) funktionieren, interessiert Dich bis heute nicht. Machen ja Dein Bruder und ich.
Dafür bist Du jemand, auf den man sich tausendprozentig verlassen kann.
Wenn man Dich um Hilfe bittet, sagst Du niemals nein. Du bist ein Mensch, den man nachts anrufen könnte - Du würdest kommen und helfen. Du bist ein Mensch, der niemals seine Hilfe verweigern würde. Du bist ein Mensch, der mit allen mitfühlt, der überhaupt sehr feine Antennen besitzt - auch wenn Du diese zu Hause mittlerweile unter einer sehr stachlichen Hülle verbirgst. Du bist schon oft enttäuscht worden und heute.. glaubst Du an nichts mehr. Aber Du hast begonnen, Dich zu schützen.
Dich und Dein - wie Dein Bruder auch heute immer noch sagt - goldenes Herz.
Ich betrachte Dich und dann denke ich wirklich jedesmal, wie sehr ich Dir wünsche, dass Du eines Tages endlich ankommst. Dass Du genau die Freundin findest, die Du brauchst, um Dich glücklich zu fühlen. Die vielleicht auch mit Dir auf der Konsole zockt, die mit Dir einkaufen geht und Dich beim Shoppen berät. Die einfach DICH sieht, mit all dem Wunderbaren, das Dich ausmacht. Und die mit Dir genauso glücklich ist wie Du mit ihr ♥️
Ich wünsche Dir das so sehr und ganz von Herzen - und auch, wenn Du selbst diesen Gedanken längst losgelassen hast, ich selbst glaube wirklich daran, dass es Dir eines Tages gelingt. Es kann doch gar nicht sein, dass so ein wunderbarer Mensch wie Du allein bleiben soll.
Ich lieb Dich wirklich sehr,
Deine Mama