Donnerstag, 29. September 2022

Musik im Kopf


"Hast du schon wieder Musik im Kopf?" fragt der Mann mit missmutigem Blick auf meinen rechten wippenden Fuß, als wir auf unserem Sofa lümmeln, uns einen Film reinziehen und aber die dort dargestellte Situation alles andere als musikalisch anmutet.
"Ja hab ich."
"Du machst mich nervös!"

Meine neueste Entdeckung des obigen Tracks dank Streaming vor einigen Tagen ging mir sofort ins Ohr, ins Blut und in die Beine. Der Mann kann dieser Musik nichts abgewinnen, sie triggert seinen Tinnitus und nervt ihn ob seiner Hyperakusis. Ich selbst bin ja nun auch mit so einigem "geschlagen", aber glücklicherweise weder mit Tinnitus noch der damit oft verbundenen Hyperakusis. Wenn, dann leide ich eher unter selektiver Hörschwäche ;)
Insofern könnte ich mir diesen Track stundenlang reinziehen, natürlich in entsprechender Lautstärke, weil, leise geht bei SO einer Musik nun wirklich nicht. Wenn das gerade nicht möglich ist, weil wir ja auch noch ein gemeinsames Leben miteinander führen, dann spielt diese Musik unablässig in meinem Kopf. Ich kann da nichts dafür, ich wurde so geboren!
Nicht umsonst sag ich ja immer, dass meine Blutkörperchen aus Kaffeebohnen und die Blutplättchen aus Musiknoten bestehen. 

Es ist die Musik, die mir derzeit hilft, das eine oder andere so lange ausblenden zu können, bis einen die Realität wieder einholt. Ich weiß gar nicht, ob ich Menschen bewundern oder bemitleiden soll, die es schaffen, sich täglich oder wenigstens regelmäßig mit Nachrichten zu versorgen. 
Eine Schulfreundin, die ich in der vergangenen Woche nach ewig langer Zeit wiedersah, meinte, sie müsse sich das regelmäßig anschauen bzw. anhören, weil sie sich vorbereiten wolle.
Ja nur... Vorbereiten auf was? Ist es nur (m)ein Gefühl oder haben wir aktuell wirklich eine der unbeständigsten Zeiten? Was bleibt, was ändert sich, was kommt, wie wirds?
Jeden Tag neue, andere, ähnliche, auch wieder zurückgenommene Meldungen - muss man da nicht irre werden im Kopf?
Als die Havarie der Nordstream-Leitungen bekannt wurde, sagte ich zum Mann: "Und du wirst sehen, sie werdens den Russen in die Schuhe schieben."
Erste Meldungen gehen mittlerweile tatsächlich in diese Richtung - verbunden mit der Aussage, dass beide Leitungen irreparabel beschädigt seien. Was der Russe von dieser Zerstörung haben soll, erschließt sich mir noch nicht. Gas abzustellen genügte ja auch, um die Versorgung zu kappen und die Abhängigkeit deutlich zu machen.. Eher könnte ich mir die ganz andere Richtung vorstellen; zum einen, um bestehende europäische Konflikte zu vertiefen; zum anderen, um "die drohende Gefahr" etwaiger diplomatischer Lösungen zur Wiederaufnahme der Versorgung vorsorglich gleich ganz vom Tisch zu fegen. Wie war denn das zum Beispiel mit dem Irak-Krieg? Amerika und England wollten diesen Krieg unbedingt, und hatte sich Powell nicht später entschuldigt dafür, dass dieser Krieg auf Lügen aufgebaut gewesen war?
Waren die Amerikaner nicht von Anfang an gegen dieses Leitungssystem?
Und: Wem nutzt es wirklich, wenn Nordstream 1 und 2 nicht mehr betrieben werden können?
Wem nutzt es, wenn Europa instabil wirkt und wird?
Was mir zum Beispiel nicht so bewusst war, ist, dass das Land Niedersachsen auf so reichen Erdgasvorkommen sitzt, dass damit Deutschland gut ein Jahrzehnt lang versorgt werden könnte. Zeit also, um dieses Erdgas zu fördern und zu nutzen, währenddessen an der alternativen Energie gearbeitet werden kann?
Die Wege freizumachen für zum Beispiel Wasserstoff: Fördermittel freigeben, Genehmigungsverfahren vereinfachen bzw. verkürzen. Denn wenn Jahre verschenkt werden, um Geplantes überhaupt erstmal genehmigt zu bekommen, neue Systeme aber ebenso Jahre brauchen, um gebaut zu werden, dann wirds irgendwann knapp..
Wobei ich ja auch immer irgendwie schmunzeln muss: Wie sie doch alle schreien nach der erneuerbaren Energie - und wie schwierig die Umsetzung dahingehend ist, als dass die Energie aus Sonne und Wind, die sich bis dato noch nicht speichern lässt, aus dem Norden beispielsweise ja auch in den Süden geleitet werden müsste/ könnte, die Menschen jedoch die damit verbundene Trasse, ob nun ober- oder unterirdisch, aber nicht haben wollen. Und Windräder wollen sie auch keine in ihrer Nähe.
Dazu hatte ich unlängst übrigens gelesen, dass die Windkraft selbst allein durch die Errichtung von Windrädern abnimmt - und damit weniger Energie gewonnen wird als zu Beginn des Ganzen. Also ist dieser grüne Weg auf lange Sicht auch keine Perspektive?
Warum man also auf einer so unsicheren Basis die Atomkraftwerke stilllegt, erschließt sich mir da auch nicht. Ich bin nicht für Grün und hab die auch nicht gewählt, aber diesen Beschluss haben auch nicht die Grünen gefällt, sondern die Schwarzen. Die Grünen wollen nur weiter dran festhalten, aber ich frage mich, ob das in der aktuellen Situation das Richtige ist. 
Diese ganze Energieproblematik kostet einen so dermaßen Haufen Asche, dass einem schwindlig davon wird - und dann befeuern wir das alles noch, indem wir überteuerte Energie aus Nachbarländern, Asien und Amerika beziehen, die im Übrigen auch bloß keine grüne ist. Für den Übergang, heißt es - aber wie lange soll dieser Übergang andauern? Könnte man diesen Übergang nicht auch "einfacher" haben, wenn man beispielsweise die Laufzeit der AKWs limitiert verlängert, bis wir selber eigene Alternativen geschaffen haben?

So viele Gedanken und Fragen, aber auch so vieles im Konjunktiv - worauf soll man sich nun vorbereiten? 

   Quelle: Cartoon Madness - Clemens Ottawa

Manchmal, da liegen der Mann und ich nachts Nase an Nase, halten uns an den Händen und flüstern leise über dies und jenes. Über das Heute, über das Jetzt und Hier. Manchmal atmen wir tief ein ob der schweren Gedanken, aber manchmal lachen wir einfach auch. Ist es nicht der Humor, der verhindert, dass einem der Kragen platzt? Und ist es nicht der Humor, mit dem sich alles irgendwie leichter er/tragen lässt? Jedenfalls hin und wieder?
Letzte Nacht lagen wir wieder so beieinander, und ich schwör, ich liebe diese vertrauten, stillen Momente. 
Vertraut und still bis zu jenem Moment, in dem er rügte, dass ich seiner Meinung nach immer noch zu wenig trinke.
"Die drei Tassen Tee heut Abend sind nicht genug."
"Ich hatte noch zwei große Käffchen tagsüber."
"Das machts Kraut auch nicht fett."
"Es könnten auch drei gewesen sein!"
"Das! Reicht! Nicht! Bei deiner Körpermasse..."
Was er dann noch sagte, verstand ich nicht mehr; das ging unter in meinem herzhaften Gelächter,  unter dem ich fast vom Laken gesprungen wäre. 
"Hast du jetzt echt KörperMASSE gesagt?" kreischte ich begeistert.
"Du weißt doch, wie ich das meine! Du mein Rosenblatt."
"Hast du jetzt etwa RosenPFERD zu mir gesagt??" Ich kam aus dem Lachen echt überhaupt nicht mehr raus.
"BLATT! Ich sagte: RosenBLATT!"
"Ach soooo! Na ja MASSE und PFERD liegen ja nun auch nicht soooo weit auseinander!"

Es sind solche Momente, die mir guttun.
Und es ist die Musik, die mir guttut.
Ich weiß, dass man nicht alles ignorieren, ausblenden oder wegtanzen kann. Dass das nur für begrenzte Momente so funktioniert. 
Mir ist bewusst, dass man sich auf ein anderes Leben einstimmen muss. Anders als das, was wir bisher kannten. Mir ist auch bewusst, dass der Mensch dem Überfluss so lange frönt, bis er dazu gezwungen ist, es anders zu handhaben. Dass er seinen Überfluss nicht freiwillig aufgibt. 
Aber ich denke an all jene Menschen, die eben nicht im Überfluss leben. Und wie ich es erst letztens zum Chef sagte: "Du musst da gar nicht nur an die Rentner oder Hartz IV-Empfänger denken. Wir sind auch schon längst angekommen bei den mittleren Einkommen, für die das Leben immer weniger bezahlbar wird."
Ich denke da an meinen Ältesten, der - und da könnte ich tatsächlich immer noch vor Freude im Kreis tanzen - Anfang September seinen unbefristeten Arbeitsvertrag bekommen hat. Ihr glaubt gar nicht, wie glücklich, dankbar und erleichtert ich bin. Von meinem Begeisterungsschrei müsste der Junge eigentlich einen Hörschaden erlitten haben; wenigstens entrang es ihm ein latent genervtes "Orrrrrr Mudders!"
Gefreut hat es ihn natürlich auch, aber das Igelchen mit seiner harten Außenschale kanns halt nicht mehr so zeigen. 
Aber selbst mit dem Einkommen aus dem nun unbefristeten Vollzeitjob wird er sein Leben nicht so ohne Weiteres allein finanzieren können, wenn er noch etwas mehr vom diesem Leben wünscht als zu schlafen, zu essen und zur Arbeit zu fahren. Auch deshalb hält er weiterhin fest am Nebenjob, egal was wir um ihn herum dazu sagen. Er weiß, dass er das auf lange Sicht nicht durchhalten kann, beispielsweise drei Wochen am Stück ohne auch nur einen einzigen Tag Pause durchzuarbeiten. 
Aber er sagt: "Solange ich das hinkriege, werde ich das machen müssen."

In den letzten Wochen bin ich immer öfter in verschiedenster Hinsicht an diesen Punkt gekommen, wo ich mir sage: "Entspann dich. Rankommen lassen. Du kannst nicht alles ändern und hast auch nicht alles in der Hand."
Und es ist vor allem die Musik, die mir dabei hilft, das auch so zu leben.
Ganz gleich, ob sie den Raum füllt oder nur in meinem Kopf spielt. 

Mittwoch, 21. September 2022

Auf Reisen

Warum das so ist, kann ich gar nicht begründen, aber sobald ich weiß, dass der Mann für ein paar Tage verreist, dann packe auch ich meine Taschen und ziehe von dannen: In der Wohnung allein in M fühl ich mich irgendwie.. unsicher. Totaler Blödsinn eigentlich, denn rings um mich herum wohnen zig Leute, und dass die Behausungen nicht grad lärmgedämmt sind, haben wir ja schon oft genug erfahren können. 
Ist er mal nur eine Nacht nicht da, schlage ich mein Nachtlager für gewöhnlich auf dem Sofa auf. Wie um bereit zu sein, im Notfall auf den Balkon zu stürzen und Alarm zu schlagen. Dank der baulichen Gegebenheiten kann man sicher sein, dass der Schrei Risse ins Betonwerk zu bringen vermag. Ein Schallpegel also, um mindestens die umliegenden Familien kerzengerade aus ihren Betten zu katapultieren.

Jedenfalls - geht er auf Reisen, geh ich es auch.
Und wohin ziehts mich, wenn ich kann? Natürlich nach Hause, ans Meer. Das dritte Mal in diesem Jahr - und ich weiß gar nicht, ob die Mama soviel Tochter verträgt? Immerhin hat es auch Jahre gegeben, in denen ich nicht ein einziges Mal dort sein konnte. (Wie ich das überstanden habe, weiß ich allerdings auch nicht ;))

Was doppelt schön war: Ich konnte alle beide Söhne mit einpacken. Das erinnerte an die spontanen Zeiten von einst, als sie noch klein waren. Nur wir drei, zwei Taschen Klamotten, fünf Rucksäcke Spielzeug, Bücher und so. Mit dem digitalen Zeitalter veränderten sich zwar die Beschäftigungsutensilien, jedoch nicht die Menge der mitzunehmenden Sachen. Fünf Geräte, fünf Kabel zum Aufladen, fünf Kabel zum Koppeln, Ladegeräte, Akkus, diverse Spiele (als man(n) noch nicht online zockte), Plüschtiere, Lieblingskissen - ich staunte immer wieder.
Ich staunte also vergangene Samstagnacht wiederholt nicht schlecht, als der Ältere angeschlurft kam, während der Jüngere und ich bereits am vollgepackten Auto warteten - und der Ältere immer noch nen ganzen Arm voll mitbrachte.
"Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?" fragte ich entgeistert. Drei ganze Kissen wollte er noch mitnehmen. 
Ohne die ginge es nicht, meinte er.
Solche Allüren kenne ich ja durchaus vom Mann auch: Er kann nur auf seinem Kissen schlafen, ein ergonomisch geformtes Dingsda mit Einsinkfunktion, das die Halswirbelsäule stützt und die Schulter schont. 
Vorbei sind die wilden nackten, halt(er)losen und vor allem spontanen Zeiten! 
Hoch lebe die geriatrische Ära der Stützstrumpf- und Franzbranntweinfraktion!
Aber äh, ne, ich merke, ich schweife ab.
Was wolltsch sagen, ach so, ja, der Junge also mit den drei Kissen.
Und was soll ich noch sagen: Alle drei Kissen liegen hier sorgsam aufgestapelt VOR seinem Bett. Sein holdes Haupt bettet er hingegen auf das von der Oma bereitgelegte Kissen. 
(Aktuell muss man sich aber tatsächlich hüten, ihn anzusprechen; erst recht, wenn man Kritik üben will: Seit er vor ungefähr drei Wochen nun endlich beschlossen hat, das Rauchen aufgeben zu wollen - und der Junge hat wirklich extrem viel geraucht! - kann von einer Zündschnur nicht mehr die Rede sein: Man zündet die Bombe quasi direkt und sofort.)
Die Oma wiederum staunte auch nicht schlecht, als sie uns morgens gegen drei Uhr an der Haustür empfing - und unser Gepäck anmuten ließ, man würde länger als 6 Tage bleiben wollen.

Seither sind 4 Tage vergangen. Der Papa liegt seit drei Tagen mit Fieber im Bett, mag nicht aufstehen, nicht essen. Mehrfach getestet und für negativ befunden, fristet er nun trotzdem sein abgeschiedenes Dasein mit Blick auf das noch grüne Laub vor dem Fenster und dem Fencheltee auf dem Nachtschrank.
Der Jüngere schwächelt inzwischen auch und der Ältere erholt sich nur langsam, aber stetig von der Dauerbelastung eines Vollzeit- und eines Nebenjobs. 
Was die Mama und mich gestern spontan entschließen ließ: Wir fahren beide in die nächstgrößere Stadt und gehen bummeln.
Das stellte ich mir so ganz entspannt vor bei Sonnenschein, Käffchen in der Sonne, ausgestreckten Beinen. Vermutlich dachte sich die Mama ähnliches, sie wirkte aufgekratzt und vergnügt. Keiner da, der jammert, man könne nicht mehr laufen oder hätte schlichtweg die Nase voll und wolle wieder heim. Keiner, der misstrauisch die Kreditkarte beäugte, die möglicherweise da und dort gezückt würde.
Sowas entspannt ja auch mich, weil beispielsweise der Mann keine zehn Minuten braucht, um zu befinden, dass die Stadt viel zu voll ist, viel zu viele Menschen in seinen Tanzbereich eindringen und ihn sowieso auch die TascheninderArmbeuge-Mädels ankotzen, die gerne zu dritt oder viert nebeneinanderlaufen, schnattern, nicht gucken und einfach voraussetzen, dass man ihnen aus dem Weg geht, als dass vielleicht auch mal die Platz machen könnten, wenn sie schon den kompletten Gehweg einnehmen. (Nebenbei: DIE nerven mich auch. Vermutlich wissen die nicht mal, wie man Knigge schreibt.) 
Insofern war das gestern ein mega entspannter Tag bei Sonnenschein, Käffchen, ausgestreckten Beinen - und ohne Männer mit genervtem Gesichtsausdruck.
Da konnte ich schon auch mal geflissentlich darüber hinwegsehen, dass die Mama oftmals beherzt und spontan und vor allem viel zu zeitig von außen den Vorhang zur Seite riss, mich in meiner ganzen ungebügelten Dreifaltigkeit bloßlegte und fröhlich rief: "Na? Wie siehts aus? Passts?"

Für heute haben wir beschlossen, ans Meer zu fahren.
Wenn die Jungen ausgeschlafen haben.
Ja, es ist 12:43 Uhr - und ich höre erste Stimmen von nebenan ;)

Mittwoch, 7. September 2022

Die Summe aller Dinge



Heute Abend bin ich müde. Nicht angestrengt müde, nicht ausgelaugt müde. Einfach nur müde.
Am liebsten würde ich mich schlafen legen, doch da gibt es noch einige Dinge, die ich erledigen möchte, bevor ich morgen wieder in den Süden zurückfahre. 
"Wie lange wird das noch so gehen?" hat der Mann mich am vergangenen Freitag gefragt, als wir am Abend in unseren Korbstühlen lagen, dem Sonnenuntergang zusahen, den Kopf zurückgelegt und die Arme um die Knie geschlungen. "Ich sehe dich entweder nur noch arbeiten oder schlafen."
Zunächst wusste ich nicht, was ich darauf antworten sollte. Er hatte recht, und ich war mir unsicher, ob er meine Antwort würde akzeptieren können. Glich ich vor Jahren eher noch einem offenen Buch, dem jede einzelne Zeile im Gesicht geschrieben schien, so hüte ich den Inhalt dieses Buches heute eher wie einen Schatz. 
Vor gut zwei Wochen, auf dem Rückweg von L nach M, da fühlte ich mich nicht gut. Es ging mir nicht gut. Und ich fragte mich, ob dies der Preis der vergangenen Wochen und Monate sei. Zuviel arbeiten, zu wenig schlafen, zu wenig Raum in meinem Kopf, zu viel um mich herum.
Ich nehme Stimmungen um mich herum wahr, fange sie auf, beschaue sie von mehreren Seiten, lege sie zur Seite oder nehme sie mit in den spärlichen Schlaf. Höre die Sorgen und Ängste, Zweifel und Sorgen, Frust und Neid, unerfüllte und erfüllte Bedürfnisse anderer. Das eine geht mir unter die Haut, das andere raubt mir die Geduld. Ich schaue auf die lange Reihe der Aufgaben, die mir zugetragen werden, und frage mich, ob ich je eines Tages zum Ende kommen werde. 
Ganz oft im wahrsten Sinne des Wortes laufe ich von einem Punkt zum anderen, bewege, bewältige, erledige, erschaffe, aber was.. macht das alles mit mir?
Gestern wurde meine Prokura notariell beurkundet - und mittlerweile bekomme ich Furcht vor mir selbst. Was, wenn ich all diesen Aufgaben überhaupt nicht gewachsen bin? Was, wenn ich den Erwartungen an mich überhaupt nicht gerecht werden kann? Was, wenn ich versage? Was, wenn ich scheitere?
Können wir  wirklich vertrauen oder habe ich doch falsch beraten? Habe ich selbst mich für den falschen Weg entschieden?
Wie bekommt man ihn hin, diesen Spagat, sich auf die Hochzeit des einen vorzubereiten, während parallel ein anderer darüber nachdenkt, dieses Leben nicht mehr zu können, nicht mehr zu wollen?
Wie bekommt man es hin, Menschen ganz sehr umarmen zu wollen, sie einfach nur festhalten zu wollen, die zur Dir sagen, dass sie in einem prognostizierten halben Jahr nicht mehr da sein sollen? Wie kann man mit ihnen bei einer Tasse Kaffee sitzen, über Gott und die Welt reden - und dieses Gefühl nicht loszuwerden, dass die Zeit wie feiner Sand zwischen den Fingern hindurchrieselt?

Wie viel ist zu viel?

"Ich frage mich, wie du das alles schaffst", hat mir jemand unlängst wiederholt gesagt. "Ich frage mich, wie du das alles aushältst und so ruhig dabei bleiben kannst. Und man sieht dir den Stress überhaupt nicht an. Ich wäre froh, sähe ich so aus wie du."

Diese Worte haben mich wirklich sehr, sehr gefreut, weil ich weiß, von wem sie kamen - und damit wusste, dass sie auch wirklich ernst gemeint waren.

Du kannst viele Jahre, vielleicht eine gefühlte Ewigkeit, etwas mit Dir herumtragen. Etwas, das Dich nicht loszulassen vermag. Oder etwas, von dem DU nicht loszulassen vermagst.
Nicht wirklich. Nie wirklich.
Und dann genügt ein einziges Bild, das Du siehst; ein einziges Wort, das Du liest - und auch wenn es Dich schmerzlich berührt, so ahnst Du dennoch fast im selben Augenblick: Genau das war es, das Dir gefehlt hat. Die Konsequenz aus dem, was Du siehst.. macht Dich endlich frei.
Du bist frei - nicht nur im Außen, sondern endlich auch im Innen. 
Du hast verstanden, einer für Dich wirklich großen Lüge aufgesessen gewesen zu sein - und nun kannst Du loslassen.
Und das Bedeutsamste an dieser Erkenntnis: Heute schmerzt es nicht mehr.
Ab heute bist Du einfach endlich nur frei.

Und so sitze ich heute Abend hier, in der vollkommen dunklen Küche meiner Wohnung in L, mit der Musik in den Ohren - und plötzlich wird mir bewusst: Es gibt kein Zuviel. Alles, was ich brauche, habe ich hier in meinen Händen, in meinem Kopf - und in meinem Leben. Ich muss nur gut umgehen mit dem, was ich habe. Hoffentlich bekomme ich das auch hin.

Freitag, 2. September 2022

Das kleine Licht der Geborgenheit


Solange ich zurückdenken kann, habe ich Angst vor der Dunkelheit.
Vielleicht könnte ich ergründen, woher das kommt, jedoch erspare ich mir das. Gut möglich, dass ich mit dem, das ich erfahre, gar nicht umgehen kann.

Letzte Nacht lag ich eine Weile noch wach. Ich dachte an meine Großmutter, bei der ich jeden Sommer meine Ferien verbrachte. Die Großmutter, bei der ich Kartoffelkäfer von den Blättern sammelte, Frösche im Teich fing, nur um mir diese genauer anzuschauen und anschließend wieder freizulassen, auf Bäumen herumkletterte oder mit ihr in den kleinen Kaufmannsladen gegenüber ging, um Spritzringe einzukaufen. 
Als ich noch ganz klein war, schlief ich zwischen ihr und dem Opa.
Als ich etwas älter wurde, schlief ich auf dem kleinen Sofa in der guten Stube, Tür an Tür zum Schlafzimmer der Großeltern.
Nur selten vorbeifahrende Autos warfen ihre Lichtkegel an die gemusterte Tapete, malten ihre Fratzen an die Wand. 
"Ich lass die kleine Lampe auf meinem Nachttisch an und die Tür einen Spalt breit offen", versprach die Großmutter - und hielt sich auch jede Nacht daran. Dann lag ich auf diesem kleinen Sofa und solange ich nicht einzuschlafen vermochte, schaute ich auf den schwachen Schein dieser kleinen Lampe mit diesem wundervoll warmen Licht. Es schenkte mir Sicherheit. Und es schenkte mir Geborgenheit. Ich fühlte mich so unfassbar wohl und sicher mit diesem kleinen Lichtschein.
Bis heute liebe ich sanftes Licht. Indirektes Licht. Und denke, dass es irgendwie doch auch interessant ist, woher wir so manche Eigenarten haben...

In unserem Badezimmer habe ich irgendwann eine Bodenvase aus Glas aufgestellt, sie mit Muscheln aus Dänemark befüllt und dazwischen eine Lichterkette verteilt, so eine mit kleinen milchigen Gläsern und einem wunderbar sanften Licht. Der Mann hat diese Lichterkette an einen Bewegungsmelder angedockt, so dass wir nachts nirgendwo mehr Licht machen müssen, wenn wir das Bett verlassen und in das Badezimmer tappen.
Und ich.. ich liebe ganz sehr diesen Moment, wenn ich das Badezimmer verlasse, das unserem Schlafzimmer direkt gegenüber liegt, die Tür einen Spalt geöffnet lasse und mich in mein Bett zurücklege. Dann schaue ich so lange auf die Badezimmertür, spüre die Behaglichkeit, die dieser Anblick der Fliesen und der Waschmaschine in diesem sanften Licht in mir auslöst - und wenn das Licht erlischt, schließe ich die Augen.
Dann fühle ich mich wohl, dann fühle ich mich sicher. Dann fühle ich mich unbesiegbar..

In den Zeiten wie diesen, die wir aktuell haben, wünschte ich, jeder hätte irgendwie (s)ein Licht, auf das er schauen kann - und das ihm Zuversicht, Geborgenheit vermittelt - und dieses Gefühl, dass vielleicht ganz bestimmt doch eines Tages alles wieder gut wird.