Mittwoch, 7. September 2022

Die Summe aller Dinge



Heute Abend bin ich müde. Nicht angestrengt müde, nicht ausgelaugt müde. Einfach nur müde.
Am liebsten würde ich mich schlafen legen, doch da gibt es noch einige Dinge, die ich erledigen möchte, bevor ich morgen wieder in den Süden zurückfahre. 
"Wie lange wird das noch so gehen?" hat der Mann mich am vergangenen Freitag gefragt, als wir am Abend in unseren Korbstühlen lagen, dem Sonnenuntergang zusahen, den Kopf zurückgelegt und die Arme um die Knie geschlungen. "Ich sehe dich entweder nur noch arbeiten oder schlafen."
Zunächst wusste ich nicht, was ich darauf antworten sollte. Er hatte recht, und ich war mir unsicher, ob er meine Antwort würde akzeptieren können. Glich ich vor Jahren eher noch einem offenen Buch, dem jede einzelne Zeile im Gesicht geschrieben schien, so hüte ich den Inhalt dieses Buches heute eher wie einen Schatz. 
Vor gut zwei Wochen, auf dem Rückweg von L nach M, da fühlte ich mich nicht gut. Es ging mir nicht gut. Und ich fragte mich, ob dies der Preis der vergangenen Wochen und Monate sei. Zuviel arbeiten, zu wenig schlafen, zu wenig Raum in meinem Kopf, zu viel um mich herum.
Ich nehme Stimmungen um mich herum wahr, fange sie auf, beschaue sie von mehreren Seiten, lege sie zur Seite oder nehme sie mit in den spärlichen Schlaf. Höre die Sorgen und Ängste, Zweifel und Sorgen, Frust und Neid, unerfüllte und erfüllte Bedürfnisse anderer. Das eine geht mir unter die Haut, das andere raubt mir die Geduld. Ich schaue auf die lange Reihe der Aufgaben, die mir zugetragen werden, und frage mich, ob ich je eines Tages zum Ende kommen werde. 
Ganz oft im wahrsten Sinne des Wortes laufe ich von einem Punkt zum anderen, bewege, bewältige, erledige, erschaffe, aber was.. macht das alles mit mir?
Gestern wurde meine Prokura notariell beurkundet - und mittlerweile bekomme ich Furcht vor mir selbst. Was, wenn ich all diesen Aufgaben überhaupt nicht gewachsen bin? Was, wenn ich den Erwartungen an mich überhaupt nicht gerecht werden kann? Was, wenn ich versage? Was, wenn ich scheitere?
Können wir  wirklich vertrauen oder habe ich doch falsch beraten? Habe ich selbst mich für den falschen Weg entschieden?
Wie bekommt man ihn hin, diesen Spagat, sich auf die Hochzeit des einen vorzubereiten, während parallel ein anderer darüber nachdenkt, dieses Leben nicht mehr zu können, nicht mehr zu wollen?
Wie bekommt man es hin, Menschen ganz sehr umarmen zu wollen, sie einfach nur festhalten zu wollen, die zur Dir sagen, dass sie in einem prognostizierten halben Jahr nicht mehr da sein sollen? Wie kann man mit ihnen bei einer Tasse Kaffee sitzen, über Gott und die Welt reden - und dieses Gefühl nicht loszuwerden, dass die Zeit wie feiner Sand zwischen den Fingern hindurchrieselt?

Wie viel ist zu viel?

"Ich frage mich, wie du das alles schaffst", hat mir jemand unlängst wiederholt gesagt. "Ich frage mich, wie du das alles aushältst und so ruhig dabei bleiben kannst. Und man sieht dir den Stress überhaupt nicht an. Ich wäre froh, sähe ich so aus wie du."

Diese Worte haben mich wirklich sehr, sehr gefreut, weil ich weiß, von wem sie kamen - und damit wusste, dass sie auch wirklich ernst gemeint waren.

Du kannst viele Jahre, vielleicht eine gefühlte Ewigkeit, etwas mit Dir herumtragen. Etwas, das Dich nicht loszulassen vermag. Oder etwas, von dem DU nicht loszulassen vermagst.
Nicht wirklich. Nie wirklich.
Und dann genügt ein einziges Bild, das Du siehst; ein einziges Wort, das Du liest - und auch wenn es Dich schmerzlich berührt, so ahnst Du dennoch fast im selben Augenblick: Genau das war es, das Dir gefehlt hat. Die Konsequenz aus dem, was Du siehst.. macht Dich endlich frei.
Du bist frei - nicht nur im Außen, sondern endlich auch im Innen. 
Du hast verstanden, einer für Dich wirklich großen Lüge aufgesessen gewesen zu sein - und nun kannst Du loslassen.
Und das Bedeutsamste an dieser Erkenntnis: Heute schmerzt es nicht mehr.
Ab heute bist Du einfach endlich nur frei.

Und so sitze ich heute Abend hier, in der vollkommen dunklen Küche meiner Wohnung in L, mit der Musik in den Ohren - und plötzlich wird mir bewusst: Es gibt kein Zuviel. Alles, was ich brauche, habe ich hier in meinen Händen, in meinem Kopf - und in meinem Leben. Ich muss nur gut umgehen mit dem, was ich habe. Hoffentlich bekomme ich das auch hin.

7 Kommentare:

allesgewollt hat gesagt…

Das wünsche ich dir von Herzen !
Man wird kein anderer Mensch - Nur wer nach vorne schaut, sieht, was auf einen zu kommt.
Und das allein ist genug !
Zurückschauen muss aufhören !

Herzliche Grüße, Angela

Dies und Jenes hat gesagt…

Ja du machst das richtig. Schau nach vorne. Sei stolz und genieße es und wenn es aus Gründen auch immer zu viel werden sollte, dann wirst du einen Lösung finden.
LG
Ursula

Andrea Karminrot hat gesagt…

Wie leicht es ist, dass der Kopf Zweifel sät. Dabei kann man doch wirklich Stolz sein auf das, was man geleistet hat. Leider kann ich meine Gedanken nicht mehr so gut verstecken. Der Kerl liest einfach in meinem Gesicht. Und doch bin ich froh, ihn an meiner Seite zu wissen.
Du wirst deinen Weg machen, da bin ich mir sicher!
Liebe Grüße
Andrea

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Angela, grundsätzlich hast Du absolut Recht: Zurückschauen ist nicht gut.
Ab und an mache ich das, um mir vor Augen zu führen, wie weit ich gekommen bin.
Aber ab und an eben auch, weil ich manches nicht aus dem Kopf bekommen konnte.
An sowas muss ich noch arbeiten.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Danke, Ursula :)

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Andrea, ja, Zweifel (an mir selbst) begleiten mich, seit ich ein Kind war. Heute weiß ich besser, was ich kann und was ich auch nicht kann - aber die Selbstzweifel werden nicht besser. Noch so ne Lebensaufgabe ;)

angelface hat gesagt…

die Selbstzweifel in einem
werden nicht besser" sagst du und ich sage dazu
es stimmt"..oft plagen sie uns auch - was ich sagen kann...
das sind wir im Inneren wenn sie irgendwann - von irgendwem in einem ausgelöst werden...
würden wir sie nicht fühlen können, sie nicht Bewusstsein schärfen lassen
wären wir blind - anderen und uns selbst gegenüber...
selbstvertrauen kann man nicht kaufen
das gibts nur durch eigene Arbeit im Kopf
Erkenntnisse denen wir uns nicht verschließen aus Angst etwas zu erkennen was uns nicht gefällt..
selbstzweifel machen uns aber auch stark und gesund , -
denn es gehört eine ganze Portion Mut dazu - sie zu-zugeben.
du schaffst das - du schaffst alles
was du willst...*
auch wenn es vielleicht dauert es zu erkennen

lieben Gruß angel