Die letzte Nacht des Jahres 2016. Menschen setzen sich Partyhütchen auf oder kleiden sich in ihr kleines Schwarzes. Stellen den Sekt kalt und das Essen auf den Tisch, geben sich "Diner for one" zum zwölfunddrölfzigsten Male oder drehen die Musik auf und werfen Papierschlangen und Konfetti.
Während wir in der glitzerkalten Nacht ein Ticket am Parkscheinautomaten zogen und auf einem der vielen freien Sitze im Wartebereich der chirurgischen Notaufnahme Platz nahmen. Wie alle kann ja schließlich jeder. Wir also anders.
Angesichts eines verbliebenen Akkustandes von lediglich 3 Prozent (
"Es waren doch grad noch 44?" - "Bei Kälte geht es zack runter, weißt du doch." - "Ich sag ja, Winter ist scheiße." - "Du sollst nicht immer fluchen." - "Du bist nicht mein Vaaaaa-ter.") beschränkte ich mich auf das Lesen einer angebotenen Zeitschrift aus dem Jahr 2011 und widerstand nur schwer der Versuchung, die letzten Groschen am Kaffeeautomaten neben mir einzulösen angesichts einer möglichen Verlängerung am Parkscheinautomat. Manchmal bin ich tatsächlich vernünftig.
Da war die junge Frau, äußerlich scheinbar unversehrt, aber verdammt blass um die Nase.
Da war die alte Dame mit dem blutigen Kinn. Beide in sich versunken, abwartend. Und eben allein. Oft denke ich in solchen Momenten an die Worte von
Ella, die mir vor langer Zeit mal in einem Kommentar antwortete, dass man sich einfach nur trauen müsste, sich an einen Tisch mit anderen, fremden Menschen zu setzen - und dass man oft genug positiv überrascht würde. Vielleicht aber ist der Tisch in einem Gasthaus eben auch etwas anderes als der Wartebereich einer Notaufnahme? Weil man ohnehin schon mit sich zu tun hat und auch keinen Wert auf Konversation mit Fremden legt - auch nicht an einem Silvesterabend?
Sie kamen (vermutlich) allein, sie warteten allein, sie gingen allein, still und grußlos.
Jeder für sich. Ob wohl jemand zu Hause auf sie wartete?
Ganz anders die fünf Menschen mit scheinbar rotgefrorenen Händen und einem offensichtlich ausreichenden Pegel an Alkohol - und einer Dose Sekt und Red Bull in der Hand.
"Muss das sein - mit Alkohol in der Hand in die Klinik?" flüsterte der Mann neben mir und ich kicherte: "Helau, es ist Silvester!"
Diese fünf Menschen waren weder allein noch still noch leise und innerhalb der nächsten fünfundvierzig Minuten erfuhren wir alle so einiges über den Patienten, der erst lautstark seine Frau herunterputzte, dann mit ihr und der Truppe kurzzeitig verschwand und anschließend in einem Rollstuhl und deutlich ruhiger mit allen zurückkehrte.
Wir erfuhren, dass er C. hieß, unter einem sehr schmerzhaften, wohl faustgroßen Abzess in der Leistengegend litt, bereits vor einem halben Jahr nach einer schweren Lungenentzündung zwei Schlaganfälle erlitten hatte, wonach er für drei Wochen ins Koma fiel. Und dass er und seine Frau in dieser Klinik ihr Kind verloren hatten.
"Warum wolltest du unbedingt in diese Klinik?" fragte ihn seine Frau immer wieder. "Diese scheiß Klinik!"
Unablässig streichelte sie ihm durch die Haare, nötigte ihn zum Trinken aus der Wasserflasche und redete unaufhörlich mit ihm, während er die Augen längst geschlossen hatte, dann und wann nur ein leises Grunzen von sich gab und vermutlich zwischendurch immer wieder einschlief. "Rede mit mir, C.! Verdammt, rede mit mir!"
"Ich mach mir Sorgen!" sagte seine Frau zur Krankenschwester, die im Beisein zweier weiterer Krankenschwestern eine andere Patientin aufrief.
"Sehen Sie denn nicht, wie schlecht es ihm geht? Er kann kaum noch laufen oder stehen."
"Ja das sehe ich, aber er sitzt ja jetzt im Rollstuhl. Sitzen geht ja noch, oder?"
Der Mann neben mir und ich wechselten einen Blick.
"Und ich sehe auch, dass er sich wohl was gespritzt hat. Deswegen ist er jetzt ja auch ruhig."
Der Mann neben mir und ich wechselten erneut einen Blick.
"Das ist hart", flüsterte ich.
"Vielleicht kennen sie das Paar ja schon", flüsterte er zurück.
"Was soll das?" kreischte die Frau. "Was glauben Sie denn, wer wir sind? Ich habe studiert! Ich habe Abitur! Wir sind doch keine scheiß Junkies!"
"Das ist diese scheiß Stadt, in der sie alle glauben, sie seien etwas Besseres! Ich hasse diese Stadt! Ich hasse diese Klinik! Meine Schwester hat hier gearbeitet und gekündigt, weil sie es nicht mehr ausgehalten hat!"
"Da hat sie aber recht", flüstere ich dem Mann zu, "ich denke auch oft, dass die Leute hier scheiße arrogant sind und dann frage ich mich, wieso eigentlich und mit welchem Recht?"
Eine Stunde später ist die Behandlung abgeschlossen, der Arztbrief gedruckt und ich gehe nicht, ohne den Patienten alles Gute zu wünschen. Nur eine Frau mit langen blonden Haaren, die sehr krank ausschaut, hebt den Kopf und lächelt. Wir lächeln uns an.
"Kennst du sie? Habt ihr miteinander gesprochen?" fragt der Mann.
"Nein. Hab mich nicht getraut, das wirkt immer so aufdringlich."
Daran dachte ich auch heute, als wir im Cafe an dem einzigen Tisch mit noch ausreichend Sitzmöglichkeit Platz nahmen, an dem schon eine ältere Dame saß, eine Suppe aß und einen Tee dazu trank.
Irgendwann verabschiedete sich der Mann mit den Worten "Jetzt geh ich mal aufs Örtchen" und dann saß ich da mit der Dame, die ihre Suppe ausgelöffelt hatte und stumm an mir vorbeischaute.
Ich betrachtete ihren roten grobgestrickten Pullover, ihre verwaschenen blauen Augen, die mich an meine Großmutter erinnerten, dann dachte ich an Ellas Worte und ich dachte daran, wie blöd es doch irgendwie ist, dass man gemeinsam an einem Tisch sitzt und kein Wort miteinander wechselt.
Gib dir doch mal einen Ruck, sagte ich mir, und dann ging alles irgendwie wie von selbst.
"Hat Ihnen denn die Suppe geschmeckt?" fragte ich und die Dame schaute mich freundlich an.
"Ja, das machen sie hier schon sehr gut. Eine gute Tomatensuppe."
Wir unterhielten uns angeregt über Rezepte, über Gewürze, über Indien, über das Reisen, sie erzählte von ihrer Tochter, von Menschen, die über die Weihnachtszeit hier in die Stadt kämen, um alle möglichen medizinischen Anwendungen und Operationen zu bekommen. Und die ganze Zeit dachte ich, wie leicht das alles war, wie leicht das alles ging und wie wenig im Grunde dazu gehört, die Brücke zu einem anderen fremden Menschen zu bauen.
Ich hab mich noch mal zu ihr umgesehen, bevor wir den Raum verließen.
Unsere Blicke trafen sich und wir lächelten.
Das neue Jahr 2017, es ist noch so jung und für eine Zehntelsekunde hatte ich die Hoffnung gespürt, es könne vielleicht doch ein gutes Jahr werden?
Klappe ich FB auf, will diese kleine Hoffnung schrumpfen. Zunächst. Kaum ein Posting, kaum ein Statement, das ohne die Ereignisse von Silvester 2015 und 2016 auskommt. Kann man eigentlich überhaupt noch etwas richtig machen? Kann man überhaupt noch etwas sagen, eigener Meinung sein, ohne dafür mit dem Rücken an die Wand oder in eine unpassende Schublade gedrängt zu werden?
Doch dann stelle ich fest: Die Kommentare sind fast ausschließlich sachlich, sie zeigen Ansichten, sicherlich verschiedene Meinungen und Ansichten - aber sie bleiben trotz aller Emotionalität.. sachlich.
Sollte das tatsächlich die erste zarte Wende andeuten? Dass Menschen einander wieder mehr zuhören und andere Meinungen zulassen, ohne sich verbal zu vergreifen? Dass man wieder miteinander diskutiert, argumentiert?
Das Jahr 2016 - es ist vorbei.
Ich schaue eher zuversichtlich auf das neue Jahr 2017 - und ich wünsche uns allen, dass es ein gutes Jahr wird.