Montag, 2. Januar 2017

Das Leben der Anderen

 Die letzte Nacht des Jahres 2016. Menschen setzen sich Partyhütchen auf oder kleiden sich in ihr kleines Schwarzes. Stellen den Sekt kalt und das Essen auf den Tisch, geben sich "Diner for one" zum zwölfunddrölfzigsten Male oder drehen die Musik auf und werfen Papierschlangen und Konfetti.
Während wir in der glitzerkalten Nacht ein Ticket am Parkscheinautomaten zogen und auf einem der vielen freien Sitze im Wartebereich der chirurgischen Notaufnahme Platz nahmen. Wie alle kann ja schließlich jeder. Wir also anders.
Angesichts eines verbliebenen Akkustandes von lediglich 3 Prozent ("Es waren doch grad noch 44?" - "Bei Kälte geht es zack runter, weißt du doch." - "Ich sag ja, Winter ist scheiße." - "Du sollst nicht immer fluchen." - "Du bist nicht mein Vaaaaa-ter.") beschränkte ich mich auf das Lesen einer angebotenen Zeitschrift aus dem Jahr 2011 und widerstand nur schwer der Versuchung, die letzten Groschen am Kaffeeautomaten neben mir einzulösen angesichts einer möglichen Verlängerung am Parkscheinautomat. Manchmal bin ich tatsächlich vernünftig.
Da war die junge Frau, äußerlich scheinbar unversehrt, aber verdammt blass um die Nase.
Da war die alte Dame mit dem blutigen Kinn. Beide in sich versunken, abwartend. Und eben allein. Oft denke ich in solchen Momenten an die Worte von Ella, die mir vor langer Zeit mal in einem Kommentar antwortete, dass man sich einfach nur trauen müsste, sich an einen Tisch mit anderen, fremden Menschen zu setzen - und dass man oft genug positiv überrascht würde. Vielleicht aber ist der Tisch in einem Gasthaus eben auch etwas anderes als der Wartebereich einer Notaufnahme? Weil man ohnehin schon mit sich zu tun hat und auch keinen Wert auf Konversation mit Fremden legt - auch nicht an einem Silvesterabend?
Sie kamen (vermutlich) allein, sie warteten allein, sie gingen allein, still und grußlos. 
Jeder für sich. Ob wohl jemand zu Hause auf sie wartete?

Ganz anders die fünf Menschen mit scheinbar rotgefrorenen Händen und einem offensichtlich ausreichenden Pegel an Alkohol - und einer Dose Sekt und Red Bull in der Hand.
"Muss das sein - mit Alkohol in der Hand in die Klinik?" flüsterte der Mann neben mir und ich kicherte: "Helau, es ist Silvester!" 
Diese fünf Menschen waren weder allein noch still noch leise und innerhalb der nächsten fünfundvierzig Minuten erfuhren wir alle so einiges über den Patienten, der erst lautstark seine Frau herunterputzte, dann mit ihr und der Truppe kurzzeitig verschwand und anschließend in einem Rollstuhl und deutlich ruhiger mit allen zurückkehrte. 
Wir erfuhren, dass er C. hieß, unter einem sehr schmerzhaften, wohl faustgroßen Abzess in der Leistengegend litt, bereits vor einem halben Jahr nach einer schweren Lungenentzündung zwei Schlaganfälle erlitten hatte, wonach er für drei Wochen ins Koma fiel. Und dass er und seine Frau in dieser Klinik ihr Kind verloren hatten.
"Warum wolltest du unbedingt in diese Klinik?" fragte ihn seine Frau immer wieder. "Diese scheiß Klinik!"
Unablässig streichelte sie ihm durch die Haare, nötigte ihn zum Trinken aus der Wasserflasche und redete unaufhörlich mit ihm, während er die Augen längst geschlossen hatte, dann und wann nur ein leises Grunzen von sich gab und vermutlich zwischendurch immer wieder einschlief. "Rede mit mir, C.! Verdammt, rede mit mir!"
"Ich mach mir Sorgen!" sagte seine Frau zur Krankenschwester, die im Beisein zweier weiterer Krankenschwestern eine andere Patientin aufrief.
"Sehen Sie denn nicht, wie schlecht es ihm geht? Er kann kaum noch laufen oder stehen."
"Ja das sehe ich, aber er sitzt ja jetzt im Rollstuhl. Sitzen geht ja noch, oder?"
Der Mann neben mir und ich wechselten einen Blick.
"Und ich sehe auch, dass er sich wohl was gespritzt hat. Deswegen ist er jetzt ja auch ruhig."
Der Mann neben mir und ich wechselten erneut einen Blick.
"Das ist hart", flüsterte ich.
"Vielleicht kennen sie das Paar ja schon", flüsterte er zurück. 
"Was soll das?" kreischte die Frau. "Was glauben Sie denn, wer wir sind? Ich habe studiert! Ich habe Abitur! Wir sind doch keine scheiß Junkies!"
"Das ist diese scheiß Stadt, in der sie alle glauben, sie seien etwas Besseres! Ich hasse diese Stadt! Ich hasse diese Klinik! Meine Schwester hat hier gearbeitet und gekündigt, weil sie es nicht mehr ausgehalten hat!"
"Da hat sie aber recht", flüstere ich dem Mann zu, "ich denke auch oft, dass die Leute hier scheiße arrogant sind und dann frage ich mich, wieso eigentlich und mit welchem Recht?"
Eine Stunde später ist die Behandlung abgeschlossen, der Arztbrief gedruckt und ich gehe nicht, ohne den Patienten alles Gute zu wünschen. Nur eine Frau mit langen blonden Haaren, die sehr krank ausschaut, hebt den Kopf und lächelt. Wir lächeln uns an.
"Kennst du sie? Habt ihr miteinander gesprochen?" fragt der Mann. 
"Nein. Hab mich nicht getraut, das wirkt immer so aufdringlich."

Daran dachte ich auch heute, als wir im Cafe an dem einzigen Tisch mit noch ausreichend Sitzmöglichkeit Platz nahmen, an dem schon eine ältere Dame saß, eine Suppe aß und einen Tee dazu trank.
Irgendwann verabschiedete sich der Mann mit den Worten "Jetzt geh ich mal aufs Örtchen" und dann saß ich da mit der Dame, die ihre Suppe ausgelöffelt hatte und stumm an mir vorbeischaute.
Ich betrachtete ihren roten grobgestrickten Pullover, ihre verwaschenen blauen Augen, die mich an meine Großmutter erinnerten, dann dachte ich an Ellas Worte und ich dachte daran, wie blöd es doch irgendwie ist, dass man gemeinsam an einem Tisch sitzt und kein Wort miteinander wechselt.
Gib dir doch mal einen Ruck, sagte ich mir, und dann ging alles irgendwie wie von selbst.
"Hat Ihnen denn die Suppe geschmeckt?" fragte ich und die Dame schaute mich freundlich an.
"Ja, das machen sie hier schon sehr gut. Eine gute Tomatensuppe."
Wir unterhielten uns angeregt über Rezepte, über Gewürze, über Indien, über das Reisen, sie erzählte von ihrer Tochter, von Menschen, die über die Weihnachtszeit hier in die Stadt kämen, um alle möglichen medizinischen Anwendungen und Operationen zu bekommen. Und die ganze Zeit dachte ich, wie leicht das alles war, wie leicht das alles ging und wie wenig im Grunde dazu gehört, die Brücke zu einem anderen fremden Menschen zu bauen.
Ich hab mich noch mal zu ihr umgesehen, bevor wir den Raum verließen.
Unsere Blicke trafen sich und wir lächelten.

Das neue Jahr 2017, es ist noch so jung und für eine Zehntelsekunde hatte ich die Hoffnung gespürt, es könne vielleicht doch ein gutes Jahr werden?
Klappe ich FB auf, will diese kleine Hoffnung schrumpfen. Zunächst. Kaum ein Posting, kaum ein Statement, das ohne die Ereignisse von Silvester 2015 und 2016 auskommt. Kann man eigentlich überhaupt noch etwas richtig machen? Kann man überhaupt noch etwas sagen, eigener Meinung sein, ohne dafür mit dem Rücken an die Wand oder in eine unpassende Schublade gedrängt zu werden?
Doch dann stelle ich fest: Die Kommentare sind fast ausschließlich sachlich, sie zeigen Ansichten, sicherlich verschiedene Meinungen und Ansichten - aber sie bleiben trotz aller Emotionalität.. sachlich. 
Sollte das tatsächlich die erste zarte Wende andeuten? Dass Menschen einander wieder mehr zuhören und andere Meinungen zulassen, ohne sich verbal zu vergreifen? Dass man wieder miteinander diskutiert, argumentiert? 
Das Jahr 2016 - es ist vorbei. 
Ich schaue eher zuversichtlich auf das neue Jahr 2017 - und ich wünsche uns allen, dass es ein gutes Jahr wird. 

10 Kommentare:

gretel hat gesagt…

Für 2017 wünsche ich dir und deinen Lieblingsmenschen vor allem Gesundheit und Glück, dann klappt auch alles andere, was du dir so vorstellst.
Zum Beginn des neuen Jahres habe ich mir nach der medialen Berieselung lustigerweise ganz ähnliche Gedanken gemacht. Wäre gut und notwendig, sich wieder mehr in der Mitte zu treffen.
Liebe Grüße

Goldi hat gesagt…

♥ auch hier noch mal ein frohes, gesundes Jahr. Eine ausführliche Antwort kommt noch :-*

Miki hat gesagt…

Oh, gute Besserung dir!
Und ich wünsche dir ein gutes Jahr 2017!
Das mit dem "Menschen ansprechen" (egal ob am Tisch) "passiert" mir ganz oft, auch gern an Der Kasse im Supermarkt oder so....und gaaanz oft (ich schätze mal 80%) kommen gute oder lustige oder unterhaltsame oder nette Kurzgespräche dabei raus. Oder ein Lächeln, ein Nicken, ein Scherz. Das fasziniert mich immer. Ich werde mal ab jetzt noch genauer drauf achten, denn geplant ist das ja nie...
Viele Grüße!

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

🤓

ganga hat gesagt…

Zum Glück ist auch diese Nacht vorbeigegangen. Jetzt fällt mir gerade ein Spruch dazu ein, vielleicht saudumm in diesem Zusammenhang aber trotzdem: Zusammen ist man weniger allein ;-). Was soll man machen, wenn's so ist.
Ich wünsche euch viel Gesundheit und glückliche Zeiten :)

Herzliche Grüße
Ganga

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Orrrrrrr Herr Blau! Lässt man ihm einmal das Telefon zum Lesen des letzten Beitrags, schummelt er mit seiner zweiten gesunden Hand einen Kommentar unter - den von 19.29 Uhr ;)

Liebe Gretel - Danke schön!

Liebe Miki - ja genau! Oftmals kommt ganz unerwartet Lustiges, Amüsantes zum Vorschein. Manchmal wünschte ich, ich wäre echt lockerer, aber meine typisch nordische Mentalität kommt mir immer wieder in die Quere. Frei nach den Aussagen "Moin reicht, Moin Moin is schon Gesabbel" oder "nur gucken, nicht anfassen", na ja irgendwie so in der Art. Mittendrin, aber immer schön auf Distanz:)

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Ganga, zusammen weniger allein... Daran denke ich manchmal, wenn Paare nebeneinander und trotzdem nicht miteinander gehen. Manchmal frage ich mich, ob alleine nicht doch die bessere Alternative wäre (zu Zeiten der Ehe und auch in den wilden Jahren danach). Aber dann gibt es sie eben auch, diese Momente, wo man dankbar ist dafür, grad nicht allein zu sein.

Goldi hat gesagt…

Die "noch" gesunde Hand könnte man wahrlich gut in einen Fausthandschuh packen ^^ - ich mein ja nur so.

Ich hab immer wieder Gedanken zu Euch geschickt, das ihr auf alle Fälle vor Mitternacht wieder im blauen Hause Zigge seid. Dumm gelaufen mit dem Finger usw. anderseits es war im letzten Jahr und somit kann dieses Jahr nur besser werden.

Gespräche mit Fremden führe ich selten, meist bin ich ganz glücklich wenn mich niemand anspricht, worunter allerdings freundliches Grüßen oder anlächeln nicht fällt. Seit wir hier oben sind ist das "mooooiiin" schon fest im Sprachgebrauch und irgendwie mag ich dieses melodische Grüßen, das so ganz anders ist als das "tach" oder "hallo" im Rheinland. Wobei mir gerade auffällt, dass dort das "tschööö" wiederum melodischer ist, als hier das tschüss, also wohl im Norden ein melodisches moin=schön das Du hier bist und im Rheinland ein melodisches tschöö= jot das de fott bes. :-D

Übrigens kann alleine die bessere Alternative sein, wenn der Partner als das geringste Übel angesehen wird. Ich wollte auch nie so still mit einem Menschen zusammenleben wie ich das bei meiner Oma und Opa erlebt habe, heute sehe ich das anders. Sie schwiegen viel, hatten sich aber dennoch was zu sagen, allerdings war dafür kein ständiges Quasseln nötig.



waage0310 hat gesagt…

Das war das Beste,,das ich seit laaaaaangen von Dir gelesen habe,,sowohl inhaltlich, emotional als auch rhetorisch !!!...großes Kino...diese Nacht war von dir..irgendwie eine Sternstunde...Grüßle...:-)))))

Ella hat gesagt…

Liebe Helma,
endlich kam ich dazu mich bei dir auf den aktuellen Stand zu lesen. Es freut mich, dass du den Gesprächs-Versuch gewagt hast. Ins Gespräch kommen wollen, um nicht in unangenehmer Stille auszuharren oder Menschen aus einer augenscheinlich unguten Situation helfend wollen und zack, die sprichwörtliche Tür vor der Nase zugeschlagen bekommen...Hinterher denke iich noch ein bisschen darüber nach, akzeptiere, dass nicht jeder meiner Mitmenschen Wert auf Konversation legt oder ich einfach den falschen Moment erwischt habe und erfreue mich wie du an den Situationen, in denen tatsächlich angenehme Gespräche, nette Geschichten, witzige Anekdoten und lustige Dialoge entstanden.

Und nun wünsch ich dir noch ein bezauberndes und aufregendes 2017. Egal was über das Jahr passiert, am Ende soll es ein gutes für dich gewesen sein.

Ella