Gestern war ich irgendwie genervt. Meine Freundin schickte mir einen Link, so einen Wal-o-mat, der meine Antworten auf 38 Fragen mit dem Parteiprogramm der von mir ausgewählten Partei/en vergleicht und mir so auf die Sprünge hilft, wer denn nun im September meine Kreuzchen bekommen soll.
Offen gestanden, wirklich schlauer war ich hernach nicht, denn letztlich fühlte ich mich nur darin bestätigt, wem ich meine Stimme nicht gebe.
Auch geriet ich (warum auch immer) nach und nach in Zorn, vor allem, als Herr Blau sich ebenfalls an die Befragung machte, freilich insbesondere in Finanzfragen andere Antworten gab und mit mir dann eruieren wollte, warum ich was wie beantwortet hatte etc. An sich eine gute Sache, aber gestern...
Mir wurde das gestern alles irgendwie zu viel: immer jeden Sachverhalt haargenau hinterfragen, keiner Antwort wirklich trauen und am Ende trotzdem mit dem Gefühl zurückzubleiben, dass man irgendwie.. nichts wirklich bewegt. Nichts wirklich verändert. Und dass selbst die, die ordentlich dafür bezahlt werden, keinen Plan haben, wie sie was machen sollen - Hauptsache, es wird erst mal ordentlich Geld verdient. Immer nur Probleme, immer nur Kopfarbeit, gestern Abend mochte ich dann einfach nicht mehr.
An Herrn Blau schätze ich sehr, dass er durchaus mir konstruktiv diskutieren, sich austauschen möchte - aber irgendwie.. war ich gestern allgemein und insbesondere nach einem Chataustausch offenbar schon zu "angefixt", um mich darauf einlassen zu können oder zu wollen.
Denn eigentlich mag ich das, wenn man mich argumentativ überzeugen kann (oder ich den anderen ;)), als dass man mit anderen, für mich wichtigen Menschen Diskussionen führt, in denen ich das Gefühl habe, dass sie zu nix führen außer dass es mir so vorkommt, als brenne mir der Hut.
Ich war übrigens die "Blaue".
Mir gehts heute übrigens wieder besser. Ein paar Stunden Schlaf, ein guter Kaffee am Morgen - thats it. Dafür war wiederum Herr Blau heute morgen nicht gut drauf - aber wozu gibts schließlich ein Büro, in das man jemanden schicken kann.
Und noch 24 Tage zum Nachdenken. Wobei ich mich schon frage, warum ich mich so schwer damit tue. Wenn ich doch ohnehin nicht daran glaube, dass die Dinge besser gemacht würden?
Wenn man früher das Haus meiner Eltern betrat, musste man zunächst den Vorbau, den Korridor, rechter Hand dann das Wohnzimmer und das Zimmer der Brüder durchqueren, ehe man in das kleine Zimmer gelangte, das mein eigenes war. Die Musik, die ich für gewöhnlich hörte, konnte man problemlos in der Wohnküche linker Hand vom Korridor mitsingen. Das hat meinen Vater regelmäßig dazu veranlasst, von der Arbeit heimzukommen und noch in seiner Montur in mein Zimmer zu stürzen und zu versuchen, lauter als die Musik zu schreien: "MACH! VERDAMMT! NOCH MAL! DIE! MUSIK! LEISER! DAS! HÄLT! DOCH! KEIN! SCHWEIN! AUS!"
Musik selbst ist ja weniger laut, wenn man tatsächlich auch selber mitsingt. Fakt ist aber, dass ich in unserem Haus die einzige war, die sang. Egal, in welchem Haushalt ich bislang wohnte - ich war und ich bin immer die einzige, die sang bzw. mitsingt. Vorzugsweise beim Essen zubereiten. (Grad fällt mir ein.... Der Mann denkt immer, das gute Wachstum der Pflanzen sei auf seinen grünen Daumen zurückzuführen. Was aber, wenn das gar nicht an seinem Daumen, sondern meiner Beschallung liegt?? Immerhin gibts in der Toscana Weinberge, die mit Mozart verwöhnt werden. Haben wir schließlich selbst gesehen :))
Ich singe aber auch sehr gerne im Badezimmer oder beim Ordnung machen, ich brauche immer nur ein Mindestlevel an Lautstärke. Wenn jedoch der Mann zu Hause ist, ging das so gut wie nie. Tinnitus und so, da muss ich nix hinzufügen.
Musik aber.. ist einfach mein Leben. Musik liegt in meinem Blut, in jedem Zentimeter von mir, kann mich aufrichten, kann mich beflügeln, kann mich groß & stark machen, kann mich träumen lassen - von hier nach ganz woanders hin, kann mich... einfach mich wohl fühlen lassen.
Mit Musik kann ich mir einfach alles vorstellen.
Ohne Musik aber... bin ich so leer wie ein großer dunkler Raum - und wer will das schon.
Sohnemann kaufte sich letztes Jahr eine Bose-Soundbox und was soll ich sagen.... Ich war schockverliebt! Fortan gabs mit jeder Wäschebügel-Aktion Disco im Hause Ziggenheimer. Diese kleine unscheinbare Box hat so einen herrlich satten Sound, dass ich fürchtete, mir würden entweder die Ohren abfliegen oder mindestens die Nachbarn auf der Matte zu stehen kommen.
"Die haben sich noch nie beschwert, und ich hör bestimmt nicht leise", winkte Sohnemann ab.
Freie Fahrt für Helma Ziggenheimer!
Und ich schwor mir: Wenn mal ein paar Groschen über sind, dann werde ich mir so eine Zauberbox auch zu eigen machen.
Der Mann selber kam erst letztens auf den Geschmack derer, als wir bei Freunden von ihm zu Besuch waren und die dort dieselbe kleine Soundbox zu stehen hatten. Er ist da ja komplett anders unterwegs als ich: Hat er sich erst mal für etwas erwärmt, werden die Internetseiten rauf und runter geblättert, werden Artikel und Preise miteinander verglichen und das Bestmöglichste herausgefiltert. (Wenn ich beispielsweise weiß, was ich will, dann will ich auch nur das und muss da nicht x Sachen miteinander vergleichen. Augenmensch halt, kann ich nix für. OK, in dem Falle eher Ohrenmensch.)
Das uferte letztlich in einem gemeinsamen Stadtbummel aus, bei dem wir uns mehrere Geräte akustisch zu Gemüte führten. (Den Scheiß Aufwand habe ich nur mitgemacht, weil ich A) auch mal wieder raus wollte von daheim und B) hoffte, er würde sich vom Bose-Sound überzeugen lassen.) Während sein Herz für "Marshall" schlug, blieb ich nach wie vor begeisteter Bose-Fan. (Ist auch irgendwie so ne Macke von mir: Wenn ich mich einmal für etwas begeistert habe, komme ich im Grunde auch nie wieder wirklich davon ab :))
Allerdings musste ich zugeben, dass die Bose-Box, je lauter man sie dreht, die Höhen "abknickt". Eher "wummert" das Teil dann nur noch, akustisch geht dann schon echt einiges flöten.
Da war die Marshall um Längen besser, jedoch die versagte wiederum total im unteren Bereich.
"Da kommt ja gar nix mehr", beklagte ich mich.
"Bei der anderen kommt nach oben raus nix mehr", antwortete der Mann, "da kann man ja nie richtig laut drehen."
"Laut drehen", konterte ich, "ist doch bei dir sowieso nie. Wer kommt denn dauernd ins Bad und beklagt sich, dass die Musik zu laut ist? Wer sagt mir dauernd, ich soll die Musik unter meinen Kopfhörern um Himmels willen leiser machen? Also!"
"Perfekt wäre eine Mischung aus beiden Geräten", räsonierte er, "und die gibts sogar. Kostet nur um 350 Euro."
Aus meiner Sicht völliger Schwachsinn. Wir haben eine sehr gute Musikanlage hier zu Hause, wir sind zu selten im Urlaub, zu selten in Situationen, wo die Zauberbox zum Einsatz kommen könnte. Und wirklich laut hören wie ich es möchte kann ich eh nicht, solange der Mann im Haus ist.
"Willst du mich etwa vertreiben?"
"Nein, ich will dich vor Unsinn bewahren."
Lange Rede, kurzer Sinn:
Natürlich hat schlussendlich die Bose-Box gewonnen. Jetzt müssen wir uns nur noch einig werden, wer sein iPhone damit koppeln darf :)
Dann sehen wir uns ja etwa zwei Monate nicht - die Zeit rennt, schrieb mir meine Freundin kurz vor ihrem Urlaub, und für einen kurzen Moment hielt ich inne und dachte: Irgendwie hat sie recht... Man läuft durch Zeit und Welt, verschiebt und schiebt auf und wundert sich am Ende eines Jahres, wieso man wieder so vieles nicht gemacht hat, von dem man dachte, man habe doch noch das ganze Jahr lang Zeit...
Wie oft habe ich mir in den letzten Wochen vorgenommen, mehr zu lesen, zu malen, zu schreiben, mehr Zeit für die wichtigen Menschen zu nehmen, mehr Zeit für mich selbst zu nehmen - und wie vieles oder eher wie wenig davon habe ich tatsächlich umgesetzt?
"Wenn ich nichts mache, passiert nichts, denn jeder hat nur mit sich selbst zu tun", sagt meine Freundin und ich bleibe stumm, weil ich es auch auf mich bezogen empfinde. Ebenso stumm schaue ich in meine Kaffeetasse, und ich fühle Schuld in mir aufsteigen - und eigentlich möchte ich das nicht fühlen. Ich möchte mich nicht rechtfertigen müssen dafür, dass mir tagtäglich die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt, so dass ich das beinah körperlich spüren kann. Ich möchte mich nicht rechtfertigen dafür, dass ich zwar jeden Tag an einen Freund, eine Freundin denke, mich jedoch längst nicht jeden Tag bei ihr melde, um zu erfahren, wie sie sich fühlt, wie es ihr geht und was sie gerade macht.
Und ich denke, dass es auch gar nicht das ist, worauf meine Freundin hinaus will. Dass es nicht das ist, was sie von mir wünscht. Weil sie mir vermutlich nur eines sagen will: dass sie sich allein fühlt, allein gelassen fühlt, und dass ihr in Zeiten der Ruhe der Raum und der eigene Körper zu eng werden und ihr eher die Luft wegbleibt, als dass sie Raum und Zeit für sich nutzen könnte. Und weil ihr vermutlich fehlt, dass man sie einfach nur umarmt und ihr sagt, dass es schön ist, dass sie da ist. Dass es sie gibt.
An Tagen wie diesen und an Tagen wie heute möchte ich sie einfach nur stumm in den Arm nehmen und fest an mich drücken. Nicht nur, weil ich ihr Gefühl kenne. Nicht nur, weil ich ihre Einsamkeit auch inmitten ihrer Familie und anderer Menschen, die sie umgeben, fühlen kann. Und auch nicht nur, weil ich auch weiß, wie lang mein eigener Weg da raus war.
Ich möchte, dass sie vor allem weiß, wie viel mir die Freundschaft mit ihr bedeutet. Auch dann, wenn ich mich eben grad nicht bei ihr melde und auch nicht immer nachfrage, wie es ihr gerade geht und ob sie gut von A nach B gekommen ist.
Es gibt einen Anfang und es gibt ein Ende. Das gibt es immer. Wir wissen nur nicht, wie viel Zeit uns dazwischen bleibt und für mein Empfinden verschenken wir viel zu viel Zeit mit Dingen, die uns nicht gut fühlen lassen, anstatt uns auf anderes zu fokussieren. Erst dieser Tage hatte ich eine Diskussion mit dem Mann und ich fragte mich, ob ich mich zu etwas zwingen müsse, das gar nicht meinem Ich entspricht. Weil zu einer Beziehung auch Kompromisse gehören und weil es nicht immer nur nach einem Kopf gehen kann. Weil man sich selber auch mal zurücknehmen und dem anderen Platz machen muss. Dann dachte ich über mein Leben überhaupt nach - und wie oft ich mich gezwungen und zu etwas überredet hatte, das mir gar nicht lag. Wie oft ich mich zurückgenommen und dem anderen Platz gemacht hatte - und ich fragte mich, ob und wie gut es mir damit gegangen war.
"Ich habe das Gefühl, dass es dir nur gut geht, wenn alles nach deinem Kopf geht", habe ich am Samstag gesagt, "und wenn nicht, bin am Ende ich dafür verantwortlich. Aber so funktioniert das Miteinander doch nicht. Ich wünsche mir, dass wir beide Raum und Zeit für das haben, was uns wichtig ist. Und dass wir aber auch die Zeit, die wir miteinander haben können, mit dem füllen, das uns wichtig ist."
Eigentlich, finde ich, klingt das ziemlich simpel. Und eigentlich, finde ich, ist es sogar auch ziemlich simpel.
Gestern Abend las ich von einer jungen Frau bei FB. Ich lese schon etwas länger bei ihr mit, habe mich dort jedoch nie zu Wort gemeldet. Ihr Krebs ist nicht heilbar, sie gilt auch inzwischen als austherapiert. Noch keine 30 Jahre alt. Momentan liegt sie in einer Klinik in Greifswald, und alles, was derzeit unternommen wird, gilt nur noch einem Ziel: Die Zeit, die ihr noch bleibt, so schmerzfrei wie möglich zu machen. Das Leben, das ihr noch bleibt und an dem sie so hängt, noch so lebenswert wie möglich zu machen.
Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich spontan und ohne zu überlegen Geld an jemanden auf Reisen geschickt, den ich noch nie live gesehen, mit dem ich noch niemals auch nur ein Wort gewechselt habe, an dessen Leben ich aber ganz sehr Anteil nehme.
Ich glaube, sie hat keine sogenannte Bucket List. Sie möchte einfach nur... leben. So lange es nur geht da sein. Für die Kosten ihrer aktuellen, in Deutschland durch die Krankenkassen noch nicht anerkannten Behandlung kommt der Mann auf, der sie trotz ihrer Diagnose geheiratet hat. Füreinander einstehen, egal, was kommt. Nicht einfach feige abhauen.
Das Netz ist voller solcher und ähnlicher Schicksale, und ich gebe zu, ich habe mich nicht an jeder entsprechenden Aktion beteiligt. Auch, weil ich nicht alles glaube, das geschrieben steht. Weil man eben einfach auch nicht alles glauben kann.
Ein Balanceakt des Bauchgefühls.
Wie so oft.
Wie es mir denn so ginge, werde ich derzeit hin und wieder gefragt, und dann lächle ich.
Ganz gut, antworte ich dann.
Ganz gut heißt? Was macht der Schmerz?
Na der ist da, wo er immer ist.
Aber in den Fingern nicht mehr, oder?
Doch, seit einer Weile auch da wieder, leider ziemlich deutlich.
Na ja, bei dem Chaos bei deinen Jungs würden mir auch die Finger weh tun, ha ha!
Tjaha, blöd nur, dass die Finger schon vorher wieder zu schmerzen begonnen haben. Kannst vielleicht doch nicht alles nur auf die Seele schieben!
Aber was definitiv damit zusammenhängt, sind die schlaflosen Nächte. Schon gut möglich, dass ich mir wieder viel zu viele Gedanken mache und am Ende alles wesentlich entspannter oder eben einfach anders wird als gedacht. Denn irgendwie wirds werden, das war ja klar. Nur wenn unsicher ist, wie dieses irgendwie aussieht, dann... Ach wat weet ick, ich kann da im Kopf einfach nicht loslassen. Dann liege ich halbe Nächte wach, schaue einen Krimi nach dem anderen oder sehe den Wissenschaftlern zu, wie sie herausfinden, wer wen warum und wie umgebracht hat. Der Mann hats aufgegeben, sich darüber zu beschweren, er geht dann einfach schon mal schlafen. Immerhin bekomme ich so dann meinen Teddybär zurück. Den großen, den mir mein Jüngster zum Geburtstag schenkte und den Herr Blau manchmal eifersüchtig knufft und heimlich hinter das Sofa wirft, wenn ich nicht hingucke. Den ich an mich gepresst halte, wenn ich gespannt die Krimis oder Beweisaufnahmen verfolge.
Mir war mal aufgefallen, dass ich, wenn ich hier in L bin, so gut wie nie schlafen kann und auch gar nicht erst richtig müde werde. Seit Sohn II die Zusage für L bekam, veränderte sich das schlagartig, und wenn ich mitunter auch die wildesten Träume entwickle - ich konnte aber jederzeit und überall wundervoll tief und fest und vor allem zeitig einschlafen.
Ja nun... Das ist eben auch hier vorbei. Sitze bis 1:30 auf dem Sofa, während ringsrum alles schnarcht, höre Musik und überlege, mir noch eine Folge mit Mark Benecke reinzuziehen oder doch lieber der Vernunft nachzugeben. Denn wenn 5:15 Uhr der Wecker klingelt und man sich auf eine Dienstfahrt an das Meer macht, dann sollte man nicht um ein Uhr noch so tun, als sei der Abend noch jung.
Andererseits...
Sohn II kommt heim, ist schon satt gefuttert und zufrieden und ganz erleichtert, sich wieder "entliebt" zu haben. "Sie sagt, ich sei so distanziert und das stimmt sogar."
"Warum distanziert?"
"Ich weiß nicht.. Irgendwie war alles so verkrampft. Wir wollen ja beide eine richtige Beziehung, also was Festes. Aber genau das hat uns irgendwie... unter Druck gesetzt. Oder so, keine Ahnung.. Vielleicht will ich ja auch einfach nur nicht wieder verletzt werden."
Ich umarme und drücke ihn, küsse ihn auf die Wange.
Er sieht zufrieden aus, er sieht entspannt aus, das tut mir gut, ihn so zu sehen.
Er bleibt auch entspannt beim Thema Ausbildung, die in gut einer Woche nun in C beginnt.
"Lass uns reden, ich hab einen Plan", fange ich an und er lächelt: "Na dann schieß mal los."
Wir stellen fest, dass wir beide dieselben Gedanken und Ziele verfolgen, dieselben Vorstellungen haben und wir nur noch eine Idee für Sohn I brauchen.
"Ich kenn da ein Mädel, die hat ne Freundin, da dachte ich, das wär genau die Richtige für [Sohn I]. Sieht gut aus, geht aber nie aus und zockt dafür jeden Tag."
Wir lachen beide.
"Lass die sich doch mal kennen lernen."
"Ich glaub, er hat grad gar keine Lust auf sowas."
"Er kennt es nur nicht. Was man nicht kennt, vermisst man nicht", lächle ich. Er lächelt zurück.
Ich bin grad richtig froh, hier in L sein zu können. Die Stimmung zu fühlen, zu erspüren - und zu sehen, dass es ihnen gut geht. So kann ich dann auch mit einem guten Gefühl wieder gehen und darauf hoffen, dass das Ende der schlaflosen Nächte naht. Ich bin da ganz zuversichtlich grad :)
Als ich vorgestern Abend diesen Song hörte, saß ich einfach nur da, wortlos, stumm, die Arme um die Knie gelegt, legte meinen Kopf darauf ab - und stand mir jedes einzelne Härchen aufrecht.
Als Herr Blau und ich vorgestern Abend diesen Song hörten, dachten wir beide an jene Zeit zurück. Ich habe ihn nicht gefragt, ob er dabei war, damals, als die Menschen zu Tausenden durch die Straßen zogen und für eine freie Welt demonstrierte, von der kaum jemand wusste, wie diese freie Welt denn überhaupt aussah.
Sehe mich, wie ich die Hände um den bereits deutlich gewölbten Bauch legte, während die anderen mit Transparenten in der Menge liefen, jede Woche immer mehr Menschen. So viele Menschen mit einer Stimme, die nicht mehr zu überhören ist. Sehe die Nachrichten, die voll sind von Berichten über die Menschen, die über Ungarn oder Tschechien gehen wollen, die die Botschaften stürmen, über Zäune klettern, Kinder herüber heben. Familien, die unten vor dem Haus ihr Auto vollpacken mit dem Wenigen, das sie mitnehmen wollen. Mit dem Wenigen, das sie noch haben wollen. Hauptsache... weg. Fühle mich, wie mir das Blut in den Schläfen klopft, als der Vater meines noch ungeborenen Kindes sagt: "Wenn, dann müssen wir jetzt gehen."
"Aber wir können nicht alle einfach abhauen. Unser Zuhause ist doch hier."
"Hier ist doch gar nichts!"
"Dann bauen wir es eben auf."
Die erste Fahrt nach Hamburg, wo er Familie hatte.
"Hier sieht sogar das Gras grüner aus", sagte er.
"Ich finde, es sieht genauso aus wie bei uns."
Der erste Supermarkt, ein Aldi, und wir bezahlten achtzig Mark. Waren verwirrt vom Angebot, von Regalen, die nicht endlos zum Beispiel mit Plastikflaschen, gefüllt mit Speiseessig, ausgestattet sind.
Das erste eigene Auto, ein Trabant, auf den wir normalerweise zwanzig Jahre gewartet hätten - den gab es nun sofort. Für zwölftausend Mark.
Das erste eigene "West"-Auto, ein VW Jetta (nein, kein 7-Sitzer ;)) für elftausend Mark, und das Baby mit seinen 5 Monaten bekommt seine ersten Pampers. Nichts mehr mit Windeln auswaschen, auskochen, auf die Leine hängen und sich rechtfertigen müssen dafür, dass Creme & Co. trotz Kochwäsche immer noch "Landkarten" auf den Baumwolltüchern zeichnen.
Der Verdienst springt von knapp vierhundert Ostmark auf etwa eintausendeinhundert D-Mark.
Die Miete steigt von 46 Ostmark auf ein paar hundert D-Mark.
Der erste Müller-Milchreis, den ich einfach mal kosten möchte, auch wenn er irgendwas um eine Mark vierzig kostet.
Die erste Westzeitung im Haus der Schwiegereltern, die mit großen schwarzen Lettern fragt "Haben Ostfrauen mehr Orgasmen als Westfrauen?" (Was geht eigentlich in manchen Köpfen vor??) Und die Großmutter liest und fragt ihre erwachsene Enkeltochter "Hat die Mutti sowas auch?" Und die kriegt sich kaum wieder ein "Das will ich doch für sie hoffen, Omi!" Unfassbar beschämend hngegen, wie Bananen aus einem Zug geworfen werden und die Leute hin und her springen, um sie zu fangen und nach Hause zu tragen. Abartig. Dann gibts eben keine Bananen, keine Kiwis, kein irgendwas - aber so tief werde ich niemals sinken. Wir müssen zu Hause schließlich keinen Hunger leiden, und das, was wir brauchen, können wir im Laden kaufen und bezahlen. Oder es lassen.
Wir wollten ein besseres Leben, und bei uns gabs nicht mal Krieg, der uns nur umso mehr getrieben hätte. Wir haben dafür gearbeitet, genauso wie jeder andere auch, wir haben genauso bezahlt. Mich verwundert übrigens immer noch, dass es tatsächlich noch heute Menschen gibt, die glauben, wir Ossis zahlten keinen Solidaritätszuschlag.
Und meine Eltern? Ich glaube, sie zählen zu den Gewinnern der Wende.
Der Vater Schlosser, die Mutter Erzieherin, drei Kinder, der Verdienst gering, sie kamen immer gerade so über die Runden. Alle sogenannten "sozialpolitischen Maßnahmen der DDR" - meine Eltern verpassten sie jedesmal. Das dritte Kind der Eltern war bereits im Kindergarten, als es hieß, die Kinder müssten nicht mehr mit 6 Wochen in die Kinderkrippe, die Frau könne jetzt das erste Jahr zu Hause bleiben - bezahlt. Um nur ein Beispiel zu nennen.
Insofern haben sich meine Eltern auch niemals über irgendetwas beklagt. Das kenne ich auch gar nicht von ihnen. Situationen wurden angenommen wie sie waren und das Beste aus allem gemacht. Vermutlich habe ich aus dieser Zeit mitgenommen, dass ich auch heute noch ganz gut im Improvisieren bin und diese Improvisationen mitunter so lange bleiben, bis sie sich fest eingerichtet haben ;)
Wie bin ich denn überhaupt aufgewachsen? Es gab wenig, es gab oft nicht das, was ich mir gewünscht habe. Die Wunschzettel zu Weihnachten waren nie lang, nie bunt. Eine Puppenstube in dem einen Jahr. Oder einen Puppenwagen in dem anderen Jahr. Als ich älter wurde, wünschte ich mir unbedingt eine neue Hose. Zu Weihnachten. Aber nicht ich bekam eine, sondern mein Bruder, und ich war mega enttäuscht. Für einen Job in der Werbung fehlten mir das Gymnasium, für die Noten zum Gymnasium fehlte mir der Ehrgeiz. Ich tat zu wenig und träumte zu viel. Von einem ganz anderen Leben, von dem ich aber wiederum so gar keine Vorstellung hatte. Ich träumte von Liebe und kümmerte mich so überhaupt nicht um das Leben oder gar die Politik.
Die erste Begegnung mit Gleichaltrigen "aus dem Westen", gesteuert von wem auch immer. Unsere Mädchenklasse wird im Bus zum Treffpunkt gefahren und bevor wir aussteigen dürfen, werden wir genauestens belehrt: "Ihr sagt nichts Persönliches, nichts Privates. Ihr nehmt auch nichts von ihnen an! Und vor allem schenkt ihr ihnen nichts."
"Was sollen wir denen denn schenken?" rief ich vorlaut aus den hinteren Reihen. "Wir haben doch nix!"
Ost- Jugend und West- Jugend sitzt sich an einer Tafel gegenüber, gezwungen, unfreiwillig, Ost und West reden natürlich kein einziges Wort miteinander, wir Mädchen albern untereinander herum und warten sehnsüchtig darauf, wieder nach Hause zu dürfen.
Ich wusste nicht einmal, was ich werden wollte, wenn ich ja nun nicht in die Werbung konnte.
"Soll sie doch Kellnerin werden, da verdient sie wenigstens Geld durch das Trinkgeld", sagte der Papa.
"Du wirst sie doch wohl nicht in die Gastronomie schicken", entrüstete sich meine Großmutter, "da fassen sie sie alle an!"
"Sie kann doch ins Büro gehen", sagte die Mama, "sie tippt doch sowieso den ganzen Tag auf ihrer Schreibmaschine."
Also ging ich eben ins Büro. Jeder hatte schließlich eine Ausbildung und anschließend einen Job. Arbeitslosigkeit gab es nicht. Wie die das gemacht haben, war mir lange ein Rätsel. Gerechnet haben durfte sich das nicht. Von den Millionen Krediten hörte ich erst lange nach der Wende.
So wie von so vielen anderen Dingen. Von fingierten Grenzen in den ostdeutschen Atlanten. Menschen auf der Flucht, die glaubten, sie hätten die Grenze zum Beispiel nach Österreich erreicht - nur um festzustellen, dass sie noch kilometerweit entfernt davon waren, dafür aber den Männern in Uniformen und den Hunden gegenüberstanden und mit diesen... einfach verschwanden.. .
Von Kindern, die ihren Eltern weggenommen wurden, nur weil diese beantragt hatten, das Land verlassen zu wollen. Von Zwangsadoptionen.
Von jungen Menschen, die nicht studieren durften, weil sie nicht in der Partei waren.
Von Wahlen, dessen Ergebnis von vornherein feststand. Als hätte es je eine Wahl gegeben.
Von Menschen, die sich aus Verzweiflung aus dem Fenster stürzten, als die Mauer in Berlin errichtet wurde, mit Stacheldraht geschützt wurde.
Von so vielem mehr, dass mich in vielen Nächten wortlos, sprachlos zurückließ.
Sie kamen für Kiwis und Bananen
Für Grundgesetz und freie Wahlen
Für Immobilien ohne Wert
Sie kamen für Udo Lindenberg
Für den VW mit sieben Sitzen
Für die schlechten Ossi-Witze
Kamen für Reisen um die Welt
Für Hartz IV und Begrüßungsgeld
Sie kamen für Besser-Wessi-Sprüche
Für die neue Einbauküche
Ich höre mir das an und denke an jene Zeit zurück... Die Zeit, in der die Menschen einfach und vor allem nur nach Freiheit begehrten. Der Freiheit, sagen zu dürfen, was man dachte, ohne dass einem dafür die Kinder genommen wurden. Ohne dass man dafür jahrelang im "gelben Elend" zubrachte, um den Willen der Menschen zu brechen. Um die Menschen zu brechen.
Die Freiheit, überall hinreisen und sich alles andere anschauen, entdecken zu dürfen.
"Wie soll man eine Weltanschauung haben, wenn man sich die Welt nicht anschauen darf?" stand unter Schulbänke gekritzelt und man fand sich wahnsinnig verwegen.
Dafür sind die Menschen auf die Straße gegangen... Für ein besseres Leben. Für ein freies Leben.
Und heute verurteilen wir, dass andere Menschen aus anderen Ländern auch ein besseres Leben führen wollen. Vor allem auch ein sicheres - für sich und ihre Kinder.
Erst bauen wir Grenzen. Dann lassen wir diese herunter. Erzählen den Menschen, dass wir die Fachkräfte aus dem Ausland brauchen, weil Geburtenknick und so. Zeigen uns erstaunt, überrascht vom Ansturm der letzten zwei Jahre. Schicken die Menschen zurück, Fachkräfte oder Menschen, die Fachkräfte werden wollen. Manchmal warten wir ihre Ausbildung ab, investieren in sie - und dann schicken wir sie nach Hause. Manchmal warten wir das Ende ihrer Ausbildung auch gar nicht ab und schicken sie so wieder nach Hause. Manchmal warten wir auch achtzehn Jahre, dreiundzwanzig Jahre, bis wir jemandes Asylantrag ablehnen. Familien, die sich inzwischen gegründet haben, Kinder, die hier geboren und aufgewachsen sind - wen interessierts? In deinem Land ist Krieg? Ja, aber doch nicht überall, dein Land ist groß, kannst ja da hingehen, wo kein Krieg ist.
Wir achten nicht darauf, wer da kommt, wir vertrauen auf Angaben, die da gemacht werden - stellen Pässe aus, deren Richtigkeit kein Schwein kontrollieren kann. Für intensive Untersuchungen fehlen Zeit, Geld - und Personal. Dieses Chaos macht möglich, dass ein Mensch statt einem gleich drei oder vier Pässe besitzt...
Wie viel Geld inzwischen sinnlos verbrannt worden ist, zählt kein Schwein.
Wie viel Hilfe tatsächlich stattgefunden hat, wie viel Energie davon unsinnig verbraucht wurde, scheißegal.
Wer da alles wirklich gekommen ist - who cares.
Aber weil zu viele kommen und das Chaos ausufert, weil die Menschen hier durchdrehen und Parteien stark machen, die zuvor kaum eine Stimme hatten, machen wir die Grenzen wieder dicht, schließen einen Pakt mit dem Teufel, bezahlen unfassbar viel Geld dafür, dass keine Asylbewerber mehr kommen.
Darf man überhaupt noch Asylbewerber sagen? Oder eher Flüchtlinge? Am Ende sind es vor allem Menschen... Menschen, denen ich das Vertrauen entgegenbringe, dass sie wirklich nur das eine wollen, das bessere, sichere Leben... In ihren Turnhallen, Flüchtlingsheimen dürfen sie ihren Antrag auf Asyl stellen, arbeiten oder eine Ausbildung haben dürfen sie nicht. Auch dann nicht, wenn sie erst mal geduldet werden.
Keine klare Linie, keine Strategie erkennbar; es sei denn, man schaut nachts auf den richtigen Kanälen. Was sind die richtigen Kanäle? Es sei denn, man liest nachts die richtigen Seiten im Internet. Was sind richtige, verlässliche Quellen? Woran erkenne ich sie?
Asylanten sind alle Sozialschmarotzer, die kommen nur wegen dem Geld und wollen sowieso nicht arbeiten.
Und was haben wir gemacht? Wir damals, im Sommer 89? Von uns hat man dasselbe gesagt. Damals wie heute.
Ich habe den Song inzwischen ich-weiß-nicht-wie-oft-gehört - und ich bekomme noch immer und immer wieder Gänsehaut davon.
Zu früh gefreut. Der 1. April mitten im August. Ha ha. Selten so gelacht.
Vergangenen Freitag trudelte ein Schreiben des künftigen Arbeitgebers von Sohn II ein: "Tut uns leid, den für L zugesagten Ausbildungsplatz aufgrund angepasster Rahmenbedingungen zurücknehmen zu müssen. Ihre Ausbildung erfolgt jetzt in C. Bitte bestätigen Sie uns das (oder Sie sind raus - so direkt stands nicht da, aber man kann ja auch zwischen den Zeilen lesen.)"
Erst dachte ich, der Sohn will mich vergackeiern - aber ne, der rief extra aus seinem Urlaub in Italien an und klang auch ziemlich geknickt.
Angepasste Rahmenbedingungen - damit kann doch irgendwie auch kein Schwein was mit anfangen.
Anträge auf Tausch des Ausbildungsplatzes kann man stellen - bitte nur per E-Mail, aber formlos geht. Haben wir gleich noch gemacht. Und auch gut begründet. Nein, sehr gut begründet, wie ich denke.
Gestern Nachmittag dann kam die Ablehnung für den Tausch. Er würde ja Angestellter des Freistaates werden, da erwarte man auch in Zukunft etwas Flexibilität. Logistisch derzeit aufgrund von Zusammenlegungen nicht anders lösbar.
Kann man alles nachvollziehen. Nur in meiner Welt, da kapiere ich eins nicht: Zusagen erteile ich erst, wenn ich weiß, dass ich diese Zusage auch halten kann. Es kann immer was dazwischen kommen - aber weiß ich tatsächlich erst 14 Tage vor Beginn einer Ausbildung, wie viel Plätze ich in L nun zu vergeben habe?? Kann ich mir so nicht vorstellen. Und nervt mich.
Denn alle Probleme sind nun wieder auf dem Tisch. Noch eine WG oder pendeln? Mitfahrgelegenheit "aus eigenen Reihen" (wird ja sicherlich mehrere Anwärter aus L betreffen) organisieren und sich selber mobil machen? Einen Fahranfänger, der im April seinen Führerschein bekam und seither kein Stück mehr gefahren ist? Und den jetzt täglich 160 km damit pendeln lassen? Schafft er sicher, ich muss ihm das nur zutrauen, sagt der Kopf. Ich traus ihm ja zu, aber so mit der Unerfahrenheit hab ich trotzdem Angst, sagt der Bauch.
Oder andere Alternative: Noch eine WG in C und nur montags und freitags pendeln - und wer bezahlt das alles? Er wohl kaum. Also bin ich wieder in der Pflicht - oder sie geben ihre WG in L auf und jeder zieht in was Eigenes. Und was wird dann mit Sohn I?
"Da hat er ja nun alle Ausbildungsplätze durch", meinte eine Freundin gestern Abend. Erst S, dann L, jetzt C.
"In C gibt es aber gestellte Unterkünfte, ist wie beim Bund", heißt es. Im Schreiben des Arbeitgebers steht was anderes. Was stimmt nun?
Wir ziehen grad alle möglichen Informationen zu uns, sortieren und versuchen, das Beste draus zu machen.
Nix mit Erleichterung. Nix mit einfach. "Einfach" scheints im Vokabular bei Ziggenheimers wohl nicht zu geben. Der Spruch, den ich im Mai von einem LKW fotografierte "Heul nicht, kämpfe!" wird wohl unser Lebensmotto bleiben.
Also alles wie immer.
Na ja, vielleicht nicht ganz. Sohn I fühlt sich richtig wohl im neuen Job. Er fühlt sich angekommen - und mein Bauchgefühl bestätigt sich damit. Endlich traut er sich auch zu, mal eigene Wege zu gehen, eigene Kämpfe grad im Behördenwahnsinn aufzunehmen und auszufechten. Was normal ist in seinem Alter, aber was für ihn ein sehr wichtiger Schritt ist, wenn man um seine Verfassung weiß. Ich hab mich sehr gefreut für ihn.
Sie werden wachsen, so wie ich durch sie und mit ihnen. Der eine früher, der andere später (aus welchen Gründen, ist ja dabei erst mal egal).
Das zumindest ist der absolut positive Aspekt, an dem ich mich derzeit wieder aufrichte, nachdem mir gestern einfach nur noch nach Betrinken war. Und auf mein Bauchgefühl auch gleich mit. Das hatte im Hinblick auf Sohn II nämlich von Anfang an signalisiert "Na... warte erst mal ab... Da kommt noch was."
Egal, wie positiv man sich steuern kann und will - das Bauchgefühl kannste einfach nicht bescheißen. Wobei das ja auch durchaus Gutes bedeuten kann.
Die Tage verrinnen und sind angefüllt mit viel Arbeit und sehr verplanten Abenden. So sehr wie lange nicht mehr. So sehr, dass ich in der Nacht in das Bett falle und zumeist tief und traumlos schlafe - so wie schon sehr lange nicht mehr. Es sind diese Nächte, nach denen ich morgens nur zögerlich aus dem Schlaf komme und fühle, wie groß die Anspannung insbesondere der letzten zwei Jahre wirklich war. Wie wenig ich noch all den positiven Entwicklungen trauen kann und zugleich dennoch loslasse.. Mehr und mehr..
Es ist Jahrmarkt und wir sind diesmal dabei. Wider Erwarten machen die Konzerte so richtig Laune - und es interessiert niemanden, ob man textsicher ist oder nicht: Die Stimmung ist gigantisch, wir ziehen von Zelt zu Zelt und wollen kaum noch heim. Herr Blau muss mal wohin und ich werde von einem Fremden in ein Gespräch verwickelt. Wie ich reagieren würde, wenn mir eine Frau sagt, ich solle von ihm die Finger lassen, er sei ein Arsch. Ich lächle. "Ich glaube nicht alles, was man mir sagt." Er zieht an seinem Joint, er lächelt auch und dann kommt schon Herr Blau, der mich schnaubend mit sich zieht.
Es ist einer dieser herrlichen Sommerabende, an denen man barfuß durch Straßen laufen und im Regen tanzen möchte; einer dieser Abende, die erfüllt sind von Sehnsucht, Zuneigung und unbedingter Freude am Leben. Deshalb MUSS ich fotografieren, was irgendjemand an den Zaun geschrieben hat..
"Mit dir will ich durchs Gras tanzen..." ist eine Karte, die ich irgendwo beim Herumstöbern gefunden habe, und ich überlege, diese Herrn Blau zum Geburtstag zu schenken - oder selber nachzugestalten. Immerhin haben wir seinen Tag am See verbracht, im Gras verbracht, aber dann entscheide ich mich für die andere Variante mit der schönen Welt und so.
"Schön, dass es dich gibt" - eine "Liebeserklärung" einer Freundin an mich (nehme ich zumindest an, oder warum sollte sie mir sowas sonst via whatsapp schicken?) Jedenfalls habe ich mich darüber gefreut, auch wenn ich das nicht soooo zeigen kann. Ihr wisst doch, ich bin e bissl wie komisch bei Komplimenten.
Die Oper in L - so viele Jahre habe ich dort gewohnt und die Oper dennoch nie von innen gesehen. Dazu bedurfte es wohl erst der Einladung durch eine Freundin. Jetzt. Wo ich doch schon so lange nicht mehr in L wohne. Überhaupt war ich noch nie in einer Oper. Was soll ich da? Man versteht doch sowieso nicht, was die dort singen - und dann ist mir der Rest... "zu wenig".
Doch diese hier hat mich überrascht. Kein Gesang - nur Ballett. 12 Märchen der Gebrüder Grimm werden dargestellt und zunächst fangen sie mich damit nicht ein. Sehr sparsame, eckige, sich immerfort wiederholende Bewegungen, immer und immer wieder dasselbe, nur in verschiedenen Kostümen - es lässt mich irgendwie kalt.
Doch dann nach der Pause - die erste Geschichte des Aschenbrödels... Hier bekomme ich eine wahnsinnige Gänsehaut. Hier wird zum ersten Mal richtig zum Ausdruck gebracht, was mir so wichtig im Leben ist: Liebe. Gefühl. Zuneigung. Ich beuge mich vor, betrachte wie gebannt und mag mich kaum von diesem Bühnenbild lösen.. Es ist wundervoll - und so gehe ich auch aus diesem gemeinsamen Abend mit meiner Freundin wieder raus..
Der Kopf wird freier, die Gedanken fließen wieder.. Ich schreibe wieder viel mehr, auch wenn hier eher nicht. Und ich liebe es, Gedanken in Worte zu verwandeln und aufzuschreiben. Einfach so und für mich. Die Figuren formen sich vor meinen Augen, vermischen sich mit Erinnerungen...
Früher bin ich für einen Kaffee und eine Pizza etwa vierhundert Kilometer gefahren. Heute sind es schlappe eintausendzweihundert für einen Geburtstagsabend - mit Leuten, die ich kaum kenne, jedoch seit Jahren mit Herrn Blau befreundet sind.
Ich bin am späten Abend so müde, dass ich die Beine zwischendrin immer mal hochlege und ganz froh bin, als Herr Blau dann irgendwann fragt, ob wir denn jetzt gehen wollen.
"Wie war es in Berlin?" werde ich später gefragt und ich muss lachen: "Ich habe leider nicht wirklich was gesehen." Eine Anreise mit vielen Staus und Verzögerungen - und am Abend, mit dem Glas Erdbeerbowle in der Hand frage ich Herrn Blau erstaunt, warum wir nicht auch den Flieger genommen hatten.
"Weil du doch Angst vorm Fliegen hast!"
"Aber ich hab doch noch die Pillen von Indien!"
"Das hättest du eher sagen sollen!"
"Du hättest mich ja fragen können." :D
Das kleine Hotel entpuppt sich als ein ganz schnuckeliges - entgegen der Auskunft anderer, die auch schon dort nächtigten. Wir vermuten, dass der Betreiber inzwischen gewechselt hat - denn wir fühlen uns dort wirklich wohl. Nur die Betten... Die sind wirklich blöd. Zwei zusammengestellte Liegesofas, wie sich später in der Nacht deutlich bemerkbar macht ;)
Als wir am Morgen danach wieder zurück nach M reisen, malen wir Zukunftspläne. Berlin könnten wir uns beide vorstellen. Ist nicht das Meer, ich weiß. Soll ja auch nichts für immer sein - ich spüre einmal mehr das Zugvogel-Gen in mir...
Herr Blau schickt mir ein Foto von Skulpturen und ich lächle und schreibe: "Das sind ja wir!" Und ich will mehr davon sehen: "Ist das eine Ausstellung? Lass uns das besuchen, uns das näher anschauen." Und er schickt mir diesen Affen, der die Hände vors Gesicht schlägt: "Das wär blöd. Die standen auf der Toilette beim Inder, wo wir letztens zur Diashow eingeladen waren."
Tja. Blöd gelaufen. Öffentliche Toiletten sind mir ein Graus, ich meide sie, wann immer es geht.
Sollte vielleicht doch dann und wann mal eine Ausnahme machen ;)
Das Wetter ist komisch. Sieben Tage Regen und 13 Grad, dann sieben Tage Sonne und 34 Grad. Diese Woche ist die Sonnenwoche und wir entschließen uns zum Abendessen im Biergarten. Der ist voller Kastanienbäume - ich lieeeeebe Kastanienbäume!!
Später noch in die Isar? Später sind wir aber dann doch zu müde und schleichen geruhsam und Hand in Hand nach Hause. Es ist der letzte Abend, bevor ich wieder nach L muss. Die Jungen warten schon. Wir wollten ja die Kuh fliegen lassen! Aber ne, der eine will am Samstag in den Urlaub - und es gäbe da noch ein bisschen Wäsche und so. Der andere wollte nur wissen, wann er wieder Ordnung machen muss, bevor ich durch die Tür komme. ;)
Weggegangen - Platz gefangen! Den Teddybär schenkte mir mein Jüngster zum Geburtstag - und ich lieebe ihn!! So sehr, dass Herr Blau ihn manchmal heimlich knufft und hinter das Sofa wirft, wenn ich nicht hingucke. Heute übte er sich in Contenance - und platzierte ihn vor meinem Schreibtisch. Seht Ihr, wie schelmisch der Bursche grinst? Ich mag mich gar nicht fragen, welche Seiten der da grad aufgerufen hat!
"Go Fuck Yourself" ist die Reaktion in unserer Mädelsclique, nachdem sich wieder ein Typ mit "Breadcrumbing" und "Ghosting" ins Nirvana verabschiedet hat. In meinem Kopf schrieb ich gefühlt zwanzigfach an einem Post, dem ich die Überschrift "Die Sagrotan-Generation" verlieh. Vielleicht komme ich noch dazu, diesen aufzuschreiben, bevor er mich völlig verlässt. Denn die (meisten) Männer von heute sind auch nicht mehr das, was sie einst versprachen - und das muss ich dann vielleicht auch noch mal loswerden.
"Faire Vermieter gefragt"? Entdeckt in einem von M's Biergärten - aber fair ist hier überhaupt nichts mehr. Eintausendsiebenhundert Euro warm für rund achtzig Quadratmeter auf drei Zimmer verteilt - das ist alles, aber nicht fair. Das ist ein schlechter Witz. Leider sind nur solche Komiker unterwegs, denn auch nach drei Jahren haben wir noch immer keine passende Bleibe für uns gefunden, in der wir beide etwas mehr atmen können. Uns nicht so beengt fühlen müssen. Raum haben für das, was wir gerne tun möchten. My home is my castle - mein Nest, meine Zufluchtsburg, meine Wohlfühloase. Das, worin wir noch immer wohnen, erfüllt es leider nichts - aber zu 1.700 Euro bin ich dann doch nicht bereit. Als Single wäre ich in M absolut nicht überlebensfähig, auch nicht mit diesem speziellen Wohnmodell der nicht-ganz-so-gut-Verdiener (für Ms Verhältnisse, wohlgemerkt, denn eigentlich verdiene ich wirklich nicht schlecht). Mir ist immer wieder schleierhaft, dass es trotz allem immer noch genug solvente Mieter zu geben scheint. Muss es ja. Oder doch nicht? Manchmal denke ich an die Besichtigung im März letzten Jahres. Drei Zimmer Maisonette, eintausendfünfhundert warm. Sehr niedlich, sehr schnuckelig. Mit uns ein weiterer Bewerber, verheiratet, Kinder. Familieneinkommen: eintausendfünfhundert Euro. Frage der verwunderten Vermieterin: "Und wie wollen Sie da die Miete aufbringen?" - "Das kriege ich schon hin, da können Sie sich drauf verlassen!" Natürlich hat er den Zuschlag nicht bekommen - aber ich frage mich immer wieder ernsthaft: WIE MACHEN DIE LEUTE DAS???
Ich weiß nur, was ICH jetzt mache: Die letzte Runde Wäsche der Jungs in die Waschmaschine tun. Dann bin ich durch für heute.