Hm, natürlich weiß ich im Grunde, warum ich die letzten Tage so müde war und so zeitig schlafen ging. Zum einen war da die gut gefüllte letzte Woche. Und zum anderen die Tatsache, dass ich seit dem Wochenende kaum geschlafen hatte. Es war gar nicht mal soooo sehr, dass der Kopf soviel gewälzt hätte. Ich war einfach... wach. Fit. So als hätte ich irgendwas genommen oder mindestens zwanzig Tassen Kaffee getrunken. Habsch aber nicht.
Und während zu Beginn der Woche der Mann relativ zeitig schlafen ging, lümmelte ich bis in die Morgenstunden auf dem Sofa und zappte mich durch die Mediatheken. Und blieb hängen an einer Doku über Mütter aus der DDR, die mit dem Fall der Mauer alles zurückließen und weggingen. Die vor allem das eigentlich Wichtigste zurückließen: ihre Kinder.
Wenn ich zurückdenke.... Zur Wende war ich schwanger und freute mich auf mein erstes Kind. Ich hatte einen Job, eine Neubauwohnung mit warmem Wasser aus der Wand (was ja damals beileibe nicht selbstverständlich war). Sicherlich bin ich damals auch mal in den Westen gefahren, um mir das anzuschauen, wie das dort nun wirklich aussieht - aber dort bleiben wollte ich jetzt auch nicht. Damals war ich kaum zwanzig Jahre alt, eher schüchtern und ängstlich und mit wenig Selbstvertrauen ausgestattet. Veränderungen machten mir eher Angst, weil ich mir selber nicht zutraute, damit umgehen zu können.
Dass ich zwei Kinder bekommen habe, hat mich in meiner ganzen Entwicklung den entscheidenden Schritt nach vorn gebracht. Einfach, weil mich insbesondere die Umstände mit und um den Älteren dazu zwangen, mich mit allen möglichen Ämtern und Institutionen herumzuschlagen. Aber das kam erst später, einige Jahre nach der Wende.
Wenn ich heute an diese ersten Jahre mit Kind/ern zurückdenke, dann sage ich mir heute: Ich habe diese Zeit unbedingt zu wenig genossen. Eingespannt in Vollzeitjob, Haushalt und Kindererziehung habe ich auch aufgrund des Drucks "von außen" den Fokus eher darauf gehabt, dass die Wohnung in Ordnung und vorzeigbar war, dass ich gutes Geld verdiente.
Mein Tag begann regelmäßig 3.30 Uhr, damit ich 5.15 Uhr die Kinder wecken, waschen, anziehen und befrühstücken konnte, bevor ich sie mir 6.00 Uhr unter den Arm klemmen und mich auf den Weg zu Hort und KiTa machen konnte. Zur Arbeit hetzen, 6.30 Uhr den Dienst antreten, zwischen 16.00 und 17.00 Uhr heim, die Kinder abholen, einkaufen, Abendessen zubereiten, Schularbeiten kontrollieren oder beaufsichtigen, die Kinder baden, zu Bett bringen, Ordnung ins Zuhause bringen - und dann selber tot umfallen bis zum nächsten Morgen 3.30 Uhr.
Hätte sich daran etwas geändert, wenn man den Lebensmittelpunkt von Ost nach West verlegt?
Natürlich nicht.
Aber hätte ich mir jemals auch nur ansatzweise vorstellen können, mein Kind zurückzulassen?
Diese Frage habe ich mir niemals gestellt - aber ich stellte sie mir Montagnacht, als ich die Doku anschaute. Ich sah die Aufnahmen der Kinder von einst, manche kaum zwei Jahre alt, andere 6, 7 oder 11. Kinder, die ohne jegliche Vorwarnung in der Wohnung zurückgelassen wurden. Meist verabschiedet mit den Worten: "Ich geh mal rüber nach Westberlin, bin heute Abend wieder da und bringe euch was mit." Das sagte eine dreifache Mutter zu ihrem Ältesten. Ließ auf dem Küchenschrank sechs oder acht Stullen zurück und ging. Nach drei Wochen (!) sind Nachbarn aufmerksam geworden - Gott sei Dank. Ein anderes Kind hatte dieses Glück nicht..
Eine einzige Mutter wurde ausfindig gemacht und befragt, warum sie ihr Kind zurückgelassen hatte. Ihre Begründung war, dass der Junge ja gar nicht ihr leibliches Kind sei und deshalb auch öfter geäußert habe: "Du hast mir gar nichts zu sagen." Und dass er eben auch seine Hausaufgaben immer nicht gemacht habe. Der Reporter fragte ungläubig nach: "Weil er seine Hausaufgaben nicht gemacht hat?"
Von dem Jungen hat sich irgendwann die Spur verloren. Schulausbildung, Berufsausbildung und dann drei Jahre arbeitslos, so haben sie ihn nochmal angetroffen. Was aus ihm geworden ist, ist nicht bekannt.
Ich konnte danach nicht einschlafen. Reflektierte mein eigenes Leben, eigene Entscheidungen und die, denen ich zugestimmt hatte. Ich weiß, dass ich falsche Entscheidungen getroffen bzw. zugelassen habe. Dabei hilft mir nicht, dass ich es damals nicht besser wusste bzw. dass es für damals die richtige Entscheidung gewesen sein mochte - heute weiß ich, was falsch war. Das ist ein Grund mit, warum ich heute so derart an den Jungen "dran" bin. Es geht mir nicht um Kompensierung für etwas, das ich nicht ändern kann. Es geht mir darum zu zeigen: Ich bin da, egal was kommt. Ich bin da, egal was ihr braucht. Wenn ihr jemanden braucht, auf den ihr euch verlassen wollt, dann bin ich da.
Es gibt so unfassbar viele Eltern, die keinen Kontakt zu ihren Kindern haben und auch nicht wollen - und ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Ich kann mir nicht vorstellen, ein Kind mit mir im Bauch herumzutragen und dann, wenn es da ist, irgendwann vergessen oder verdrängen oder ablehnen.
Es gibt so viele Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen, verprügeln. Wie bringen die das fertig? Was fühlen die dabei - und fühlen die überhaupt nur irgendetwas?
Wie konnten die Mütter von einem Tag auf den anderen weggehen, ihre Kinder zurücklassen und sich nie wieder darum kümmern, was aus ihnen geworden ist? Kinder, die sich selbst entweder völlig verloren haben - oder die sich bis heute mit Verlustängsten quälen? Die bis heute darunter leiden, dass die eigene Mutter sie nicht mehr wollte?
Solche Menschen will ich gar nicht verstehen. Ich sehe den Vier- oder Fünfjährigen in seinem Schlafanzug auf der Pritsche im Kinderheim sitzen, wie er in die Kamera schaut und sagt: "Die Mama ist weg. Die kommt nicht wieder. Nie wieder." Und dann lächelt er und du sitzt fassungslos davor und denkst, das gibt es doch gar nicht..
Und da war er wieder.. Der Gedanke, das Bedürfnis, meinen Job zu wechseln und noch mal ganz von vorn anzufangen. In einer ganz anderen Richtung. Mich kümmern da, wo es andere nicht (mehr) wollen.
"Der Gedanke an sich ist ja gut", sagte der Mann, "aber bist du auch vorbereitet auf das ganze Elend, was du dann zu sehen bekommen würdest?"
Da bin ich unsicher, das gebe ich zu. Aber wie kann man Kinder nicht liebhaben können? Wie kann man sich nicht kümmern wollen?
Mir ging das auch 2016 in Indien so. All die verwahrlosten, hoffnungslos verschmutzten Kinder mit ihren so dürren Beinchen, dass man sich wunderte, dass sie darauf stehen konnten. Wie oft wünschte ich, ich hätte sowas wie eine Kindereinrichtung, wo man all die Kinder baden könnte, ihnen zu essen geben und sie spielen lassen könnte. Wenigstens tagsüber, und abends holen die Eltern sie wieder ab.. Dass sie es wenigstens tagsüber gut hätten, anstatt im Staub zu liegen, darauf angewiesen, dass ihre Eltern Geld oder wenigstens was zu essen erbetteln können..
Kein Kind bittet darum, auf die Welt kommen zu dürfen. Aber jedes hat es verdient, dass man es bedingungslos liebt. Wieviel zerstörte Menschen weniger hätten wir, würden Eltern ihre Kinder bedingungslos lieben und auch genauso behandeln?