Seit ich damals aus dem Elternhaus auszog, da hatte ich diesen Wunsch:
Eines Tages wollte mir einen richtig schönen Esstisch kaufen, so einen echten aus Holz. Nichts Geschnörkeltes, nichts mit geschnitzten Verzierungen oder kunstvollen Details. Einfach einen schlichten, echten rechteckigen Holztisch.
An diesem wollte ich mit der Familie sitzen, frühstücken, zu Abend essen, Karten spielen, Backgammon oder Halma oder Scrabble spielen, Probleme besprechen.
So kannte ich das aus meiner Kindheit: Sämtliche Familienangelegenheiten wurden zumeist in der Küche besprochen, am großen Esstisch, alle ringsrum versammelt.
Bis heute vermittelte das für mich.. ein Zuhause - und kann es nur schwer erklären oder begründen.
In meiner ersten eigenen Wohnung gab es keine Küche, nur eine kleine Nische mit einem Zweiplattenherd ohne Backofen. In meiner zweiten Wohnung gab es eine schmale Küche, aber mir fehlte nicht nur das Geld für einen Tisch, sondern schlichtweg auch der Platz.
Platzgründe verhinderten auch in der dritten eigenen und auch in der Wohnung des Mannes hier einen solchen Tisch.
Es hat mich einiges an Überredungskünsten gekostet, den Mann von einem solchen Tisch in der neuen Wohnung zu überzeugen. Doch dann haben wir gemeinsam einen solchen ausgesucht und eingekauft. Im Mai wird er zu uns gebracht - und in meinem Kopf formten sich schon vor dem Kauf die Bilder, die Vorstellungen, wie das dann sein würde - die Familie und ich. Der Mann und ich. Die Jungen und wir.
Mir wurde da echt ganz warm von.
Als mein Jüngster geboren wurde, war der Älteste sechs Jahre alt. Ich sehe es heute noch vor mir, wie er in das Klinikzimmer gelaufen kam, die dicke Jacke noch an, die Mütze noch auf, keine Zeit, Hauptsache, das Baby sehen, den Bruder betrachten, der da friedlich im Glasbettchen schlief, die winzigen Fäuste rechts und links an den Wangen.
"Oooaarrrhh ist der niedlich! Können wir den mit nach Hause nehmen? Versprich mir, dass wir den mit nach Hause nehmen!"
Und ich lachte und entgegnete: "Was denkst du, sollen wir denn sonst mit ihm machen?"
Ich sehe diese Szene vor mir, als wäre es gestern gewesen. Ich durchlebe sie, als wäre es erst gestern gewesen.
In all den folgenden Jahren haben die beiden sehr viel miteinander gespielt und mindestens genauso viel gestritten, wer was aufzuräumen hatte und wem was gehörte.
Je älter sie wurden, desto rauher wurde der Ton zuweilen.
Ich habe mich so lange aus allem herausgehalten, wie die Kraftausdrücke in ihrem Zimmer blieben und es auch nicht handgreiflich wurde. Es wurde auch nie handgreiflich, abgesehen von einigen Matchbox-Autos, die dann und wann hin und her flogen. Wirklich wehgetan haben sie einander nie.
Dann kam die Zeit die Trennung. In dieser Zeit, so empfinde ich das vor allem heute, die dieses Netz aus Sicherheit und Geborgenheit zerriss, da hatten die Jungen vor allem einander. Möglicherweise vermittelte kaum etwas anderes mehr Sicherheit und Verlässlichkeit wie der jeweilige Bruder.
Ich weiß, dass sie viele Dinge miteinander beredet haben, von denen wir nichts wissen. Es hat sie noch mehr zusammengeschweißt, nahm ich an.
All das veränderte sich, sobald der Jüngere begann, sich für Mädchen zu interessieren. Sich mit Mädchen zu verabreden oder abends mit Kumpels auszugehen. Der Ältere war noch nicht so weit zu jener Zeit, der wartete zu Hause, bis der Bruder wieder zurückkehrte und man den Rest der freien Zeit miteinander verbrachte.
Doch der Jüngere wollte mehr. Mehr leben, mehr sehen, mehr erkunden. Er war jung, die Welt stand ihm offen - und warum sollte er sich genau diese nicht anschauen und erleben wollen? Ihm fiel irgendwie immer all das in den Schoß, wofür der Ältere Zeit seines Lebens zu kämpfen hatte. Und je mehr der Jüngere sich löste, desto mehr wartete der Ältere. Ließ sich vertrösten auf "später". Nur dass dieses "Später" nie wirklich eintrat.
Es hatte schon irgendwie etwas Schmerzhaftes zu sehen, wie bemüht der Ältere war, es dem Jüngeren so angenehm wie möglich zu machen - und ihn an das Miteinander zu binden.
Ich habe mich früher oft gefragt, wie die Freundin sein würde, die die Jungs eines Tages mit nach Hause bringen würden. Ich habe mich hin und wieder gefragt, ob sie jemand sein würde, die den anderen derart beanspruchen würde, dass keine Zeit mehr für die Familie sein würde. Kein gemeinsames Käffchen nach Feierabend, kein gemeinsames Bier am Küchentisch, keine hochgelegten Beine, während man zufrieden auf dem Sofa lümmelte oder gemeinsam irgendein Spiel zockte.
In meinem Kopf malte ich mir so einige Szenarien aus und dachte immer: "Mal gucken."
Aber auf die Idee, dass die Jungs einander entzweien könnten, darauf bin ich nie niemals gekommen.
Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass einer so rigoros mit dem anderen brechen würde.
Doch dass genau das aktuell geschieht, belastet mich enorm. Vor allem, wenn ich an den letzten Geburtstag denke, an dem der Ältere wortlos aufstand und den Raum verließ, sobald der Jüngere durch die Tür trat - und der Jüngere anschließend mit mir in der Küche blieb, bis er begann zu weinen. So ein Weinen ganz aus der Tiefe heraus.
Ich fühle mich so unfassbar hilflos.. Weil ich nicht weiß, ob ich vermitteln kann. Ob ich überhaupt vermitteln soll. Sollten sie das nicht untereinander regeln - so wie früher, als noch die Matchbox hin und her flogen?
Nur.. Es sind doch meine Jungen, meine beiden Jungen, die eigentlich einander lieben. Nur dass der eine zutiefst enttäuscht worden ist - und das vermutlich einfach einmal zuviel. Und der andere sich und mich fragt: "Wie konnte das nur passieren? Wie konnte das nur so entgleiten?"
Ich habe darauf keine Antwort, ich habe ihn einfach nur an mich gedrückt und ganz sehr festgehalten.
Das Geburtstagsgeschenk vom Jüngeren hat der Ältere bis heute nicht geöffnet und das gemeinsame Geschenk lehnt der Ältere ab, solange der Jüngere dabei sei. Mir ist bewusst, dass er nicht nur Mauern um sich herum hochgezogen, sondern diese inzwischen auch mit Schlössern und Riegeln gesichert hat. Mir ist auch bewusst, dass dies sein Schutzmechanismus ist. Aber es tut weh.. Es tut unfassbar weh, beide so zu sehen und beide so zu erleben.
Meine beiden Hasen.. Kann denn nicht alles wieder so sein wie früher? Die Bindung aneinander so wie früher, auch wenn sie heute eigene Wege gehen? Könnten sie sich nicht lieber einfach mit Matchbox bewerfen und es auf diese Weise regeln, als in kompletter Funkstille zu enden, in der der eine dem anderen konsequent aus dem Weg geht, damit ihm der andere nicht wieder zu nah kommt?
Diese frühere Welt mit zwei Brüdern, die vor allem eins hatten: sich?
Ich hatte immer diese Hoffnung, dass es möglich sein würde, beide einander wieder näher zu bringen, wenn wir wieder in L wohnen. In mir lebte der Gedanke, dass es vermutlich gerade noch so rechtzeitig sein würde. Doch nach dem heutigen Telefonat mit dem Älteren treibt mich die Sorge, dass es möglicherweise doch nicht mehr rechtzeitig sein wird. Und die Frage, was dieser Bruch mit beiden Jungen machen wird.
Und mit mir.
Im Moment jedenfalls.. zerreißt es mich.