Dienstag, 28. Februar 2023

In einer Welt vor dieser Zeit

Seit ich damals aus dem Elternhaus auszog, da hatte ich diesen Wunsch:
Eines Tages wollte mir einen richtig schönen Esstisch kaufen, so einen echten aus Holz. Nichts Geschnörkeltes, nichts mit geschnitzten Verzierungen oder kunstvollen Details. Einfach einen schlichten, echten rechteckigen Holztisch.
An diesem wollte ich mit der Familie sitzen, frühstücken, zu Abend essen, Karten spielen, Backgammon oder Halma oder Scrabble spielen, Probleme besprechen.
So kannte ich das aus meiner Kindheit: Sämtliche Familienangelegenheiten wurden zumeist in der Küche besprochen, am großen Esstisch, alle ringsrum versammelt. 
Bis heute vermittelte das für mich.. ein Zuhause - und kann es nur schwer erklären oder begründen.

In meiner ersten eigenen Wohnung gab es keine Küche, nur eine kleine Nische mit einem Zweiplattenherd ohne Backofen. In meiner zweiten Wohnung gab es eine schmale Küche, aber mir fehlte nicht nur das Geld für einen Tisch, sondern schlichtweg auch der Platz. 
Platzgründe verhinderten auch in der dritten eigenen und auch in der Wohnung des Mannes hier einen solchen Tisch. 

Es hat mich einiges an Überredungskünsten gekostet, den Mann von einem solchen Tisch in der neuen Wohnung zu überzeugen. Doch dann haben wir gemeinsam einen solchen ausgesucht und eingekauft. Im Mai wird er zu uns gebracht - und in meinem Kopf formten sich schon vor dem Kauf die Bilder, die Vorstellungen, wie das dann sein würde - die Familie und ich. Der Mann und ich. Die Jungen und wir. 
Mir wurde da echt ganz warm von.

Als mein Jüngster geboren wurde, war der Älteste sechs Jahre alt. Ich sehe es heute noch vor mir, wie er in das Klinikzimmer gelaufen kam, die dicke Jacke noch an, die Mütze noch auf, keine Zeit, Hauptsache, das Baby sehen, den Bruder betrachten, der da friedlich im Glasbettchen schlief, die winzigen Fäuste rechts und links an den Wangen. 
"Oooaarrrhh ist der niedlich! Können wir den mit nach Hause nehmen? Versprich mir, dass wir den mit nach Hause nehmen!"
Und ich lachte und entgegnete: "Was denkst du, sollen wir denn sonst mit ihm machen?"
Ich sehe diese Szene vor mir, als wäre es gestern gewesen. Ich durchlebe sie, als wäre es erst gestern gewesen.

In all den folgenden Jahren haben die beiden sehr viel miteinander gespielt und mindestens genauso viel gestritten, wer was aufzuräumen hatte und wem was gehörte.
Je älter sie wurden, desto rauher wurde der Ton zuweilen.
Ich habe mich so lange aus allem herausgehalten, wie die Kraftausdrücke in ihrem Zimmer blieben und es auch nicht handgreiflich wurde. Es wurde auch nie handgreiflich, abgesehen von einigen Matchbox-Autos, die dann und wann hin und her flogen. Wirklich wehgetan haben sie einander nie.

Dann kam die Zeit die Trennung. In dieser Zeit, so empfinde ich das vor allem heute, die dieses Netz aus Sicherheit und Geborgenheit zerriss, da hatten die Jungen vor allem einander. Möglicherweise vermittelte kaum etwas anderes mehr Sicherheit und Verlässlichkeit wie der jeweilige Bruder.
Ich weiß, dass sie viele Dinge miteinander beredet haben, von denen wir nichts wissen. Es hat sie noch mehr zusammengeschweißt, nahm ich an.

All das veränderte sich, sobald der Jüngere begann, sich für Mädchen zu interessieren. Sich mit Mädchen zu verabreden oder abends mit Kumpels auszugehen. Der Ältere war noch nicht so weit zu jener Zeit, der wartete zu Hause, bis der Bruder wieder zurückkehrte und man den Rest der freien Zeit miteinander verbrachte.
Doch der Jüngere wollte mehr. Mehr leben, mehr sehen, mehr erkunden. Er war jung, die Welt stand ihm offen - und warum sollte er sich genau diese nicht anschauen und erleben wollen? Ihm fiel irgendwie immer all das in den Schoß, wofür der Ältere Zeit seines Lebens zu kämpfen hatte. Und je mehr der Jüngere sich löste, desto mehr wartete der Ältere. Ließ sich vertrösten auf "später". Nur dass dieses "Später" nie wirklich eintrat.
Es hatte schon irgendwie etwas Schmerzhaftes zu sehen, wie bemüht der Ältere war, es dem Jüngeren so angenehm wie möglich zu machen - und ihn an das Miteinander zu binden.

Ich habe mich früher oft gefragt, wie die Freundin sein würde, die die Jungs eines Tages mit nach Hause bringen würden. Ich habe mich hin und wieder gefragt, ob sie jemand sein würde, die den anderen derart beanspruchen würde, dass keine Zeit mehr für die Familie sein würde. Kein gemeinsames Käffchen nach Feierabend, kein gemeinsames Bier am Küchentisch, keine hochgelegten Beine, während man zufrieden auf dem Sofa lümmelte oder gemeinsam irgendein Spiel zockte. 
In meinem Kopf malte ich mir so einige Szenarien aus und dachte immer: "Mal gucken."

Aber auf die Idee, dass die Jungs einander entzweien könnten, darauf bin ich nie niemals gekommen.
Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass einer so rigoros mit dem anderen brechen würde.

Doch dass genau das aktuell geschieht, belastet mich enorm. Vor allem, wenn ich an den letzten Geburtstag denke, an dem der Ältere wortlos aufstand und den Raum  verließ, sobald der Jüngere durch die Tür trat -  und der Jüngere anschließend mit mir in der Küche blieb, bis er begann zu weinen. So ein Weinen ganz aus der Tiefe heraus. 

Ich fühle mich so unfassbar hilflos.. Weil ich nicht weiß, ob ich vermitteln kann. Ob ich überhaupt vermitteln soll. Sollten sie das nicht untereinander regeln - so wie früher, als noch die Matchbox hin und her flogen?
Nur.. Es sind doch meine Jungen, meine beiden Jungen, die eigentlich einander lieben. Nur dass der eine zutiefst enttäuscht worden ist - und das vermutlich einfach einmal zuviel. Und der andere sich und mich fragt: "Wie konnte das nur passieren? Wie konnte das nur so entgleiten?"
Ich habe darauf keine Antwort, ich habe ihn einfach nur an mich gedrückt und ganz sehr festgehalten.

Das Geburtstagsgeschenk vom Jüngeren hat der Ältere bis heute nicht geöffnet und das gemeinsame Geschenk lehnt der Ältere ab, solange der Jüngere dabei sei. Mir ist bewusst, dass er nicht nur Mauern um sich herum hochgezogen, sondern diese inzwischen auch mit Schlössern und Riegeln gesichert hat. Mir ist auch bewusst, dass dies sein Schutzmechanismus ist. Aber es tut weh.. Es tut unfassbar weh, beide so zu sehen und beide so zu erleben. 

Meine beiden Hasen.. Kann denn nicht alles wieder so sein wie früher? Die Bindung aneinander so wie früher, auch wenn sie heute eigene Wege gehen? Könnten sie sich nicht lieber einfach mit Matchbox bewerfen und es auf diese Weise regeln, als in kompletter Funkstille zu enden, in der der eine dem anderen konsequent aus dem Weg geht, damit ihm der andere nicht wieder zu nah kommt?
Diese frühere Welt mit zwei Brüdern, die vor allem eins hatten: sich?

Ich hatte immer diese Hoffnung, dass es möglich sein würde, beide einander wieder näher zu bringen, wenn wir wieder in L wohnen. In mir lebte der Gedanke, dass es vermutlich gerade noch so rechtzeitig sein würde. Doch nach dem heutigen Telefonat mit dem Älteren treibt mich die Sorge, dass es möglicherweise doch nicht mehr rechtzeitig sein wird. Und die Frage, was dieser Bruch mit beiden Jungen machen wird. 
Und mit mir. 
Im Moment jedenfalls.. zerreißt es mich.

11 Kommentare:

Helga Nase hat gesagt…

Ich spür den Schmerz beim Lesen. Ich hoffe, dass die zwei ihren Konflikt beseitigen und sich wieder finden können ♥️

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Heut Abend kann ich nicht aufhören zu weinen, sobald ich nur ein Foto von beiden sehe 😔

Dies und Jenes hat gesagt…

Das können nur die Beiden machen. Ich versteh dich und kann erahnen wie Du dich fühlst. Schaffst Du es Verständnis für den einzelnen aufzubringen bzw. wie schlimm ist es was die Beiden auseinandergebracht hat.
Nimm jeden wie er ist und akzeptiere was gerade passiert. Und irgendwann wird sich eine Gelegenheit ergeben.

LG
Ursula

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Helma, ich habe einen ähnlichen Tisch-Fetischismus wie du, nur hatte ich immer einen, an dem die Familie saß. In der ersten Wohnung ein kleiner Klapptisch in der Küche und ein höhenverstellbarer ausziehbarer im Wohnzimmer, in der zweiten ein großer in der Küche. In der dritten, nur noch mit dem Sohn zusammen, wieder in der Küche. In der ersten Alleinwohnung sowohl in der Küche als auch im Zimmer und auf dem Balkon. Jetzt habe ich auf dem Balkon, in der Küche, im Wohnzimmer und im Schlafzimmer einen und finde IMMER einen Verwendungszweck.
Ich scrabble auch sehr sehr gern.
Deinen Kummer über deine beiden Söhne kann ich wahrscheinlich nicht mal ahnen, da meine beiden ganz wenig miteinander zu tun haben. Ich finde das auch traurig, aber Einmischen bringt hier gar nichts.
Alles Gute für euch alle!!!

Lutz hat gesagt…

Kommunikation ist das A und O. Wenn man nicht mehr miteinander redet, können Probleme auch nicht aus dem Weg geräumt werden. Oftmals begreift der Eine gar nicht, was genau schiefgelaufen ist und wo er eventuell etwas falsch gemacht haben könnte. Genau deswegen müssen sie darüber miteinander sprechen und sich gegenseitig zuhören.

Nun will aber offensichtlich der Große das gerade überhaupt nicht. Er blockt alles ab, was vom Jüngeren kommt. Und da denke ich, dass nur Du eine Chance hast, beide (vor allem den Großen) soweit zu bringen, dass sie erstmal wieder anfangen, miteinander zu reden. Vielleicht am Anfang mit Dir als eine Art Moderator. Weil da noch die Gefahr groß ist, dass man sich gegenseitig verbal verletzt, weil der Frust so groß ist.

Und wenn erstmal die Kommunikation zwischen beiden wieder zustandegekommen ist, sollten sie am besten unter 4 Augen miteinander reden. Sie sollten sich gegenseitig ihr Herz öffnen. Darüber sprechen, warum man sich verletzt gefühlt hat. Weil das der Andere oftmals gar nicht weiß. Wenn sie früher einmal so ein vertrauensvolles Verhältnis zueinander hatten, sollte dies möglich sein. Dann sollte es möglich sein, dass man (insbesondere der Große) seine innersten Gedanken und Gefühle offenbart. Dann könnte auch der Kurze verstehen, was warum schiefgelaufen ist. Was er eventuell falsch gemacht haben könnte oder zumindest, was er hätte anders machen können (es müssen ja nicht immer eindeutige Fehler sein). Und ob und wie man das eventuell wieder reparieren kann.

Sie beide haben ja nur sich gegenseitig (selbstverständlich natürlich außer Dir). Ihr ganzes Leben lang. Sie sind Brüder und werden immer Brüder sein. Das kann auch keine Frau/Freundin ersetzen.

Aber dazu müssen sie miteinander reden und ihr Innerstes nach außen kehren. Zumindest unter 4 Augen. Und zwar so schnell wie möglich. Denn mit jedem Tag, der so vergeht, verhärtet sich die Kruste und steigt der Widerstand, mit dem Anderen überhaupt noch zu reden.

Da dürfte aber erstmal Dein diplomatisches Geschick gefragt sein, beiden zart, aber bestimmt ins Gewissen zu reden, um sie soweit zu bringen, sich gegenseitig ihr Herz zu öffnen UND sich dabei auch gegenseitig zuzuhören. Ohne Vorwürfe, nur sachlich.

Ich drücke Dir und den beiden die Daumen.

Anonym hat gesagt…

Liebe Helma,ich kann Lutz nur zustimmen.Hier ist eindeutig deine Hilfe von nöten. Je länger die Zeit vergeht umso mehr verhärten sich die Fronten. Das hat auch überhaupt nix mit Einmischen zu tun. Es sollte eher eine Art Vermittlung sein, damit sie wieder miteinander reden können. Wenn das erst mal geschafft ist, funktioniert auch alles andere. Dem Kurzen ist sicher nicht mal bewusst was genau er "falsch" gemacht hat.
Verzweifle nicht, auch wenn es ein längerer Prozess werden könnte.
Glaub daran dass alles wieder gut wird.


allesgewollt hat gesagt…

Die Küche ist für uns ein zentraler Punkt.
Für vier Personen reicht der Platz locker. Allerdings quetscht man sich lieber um den Küchentisch herum, als ins größere Wohnzimmer zu wechseln, wenn es mal mehr sind.
Die Eckbank / Tisch Stühle aus Bayern sind einladend und keinesfalls altmodisch verstaubt :)

Es muss sehr, sehr tief sitzen, wenn man sich nichts mehr zu sagen hat. Es sollte nicht so viel Zeit verstreichen, dass macht die Gräben tiefer.
Ein erstes Gespräch wird vielleicht scheitern. Aber danach nicht aufhören.
Lutz bringt es auf den Punkt - sie haben am ende nur sich und das ist sehr Wertvoll.

Ich wünsche dir und der Familie Entspannung und Frieden.

Herzlichst, Angela

angelface hat gesagt…

puh...liebe Helma
das t u t.... w e h!!!!!!
kaum auszuhalten dahin zu sehen und doch muss man es..
sonst wird der Graben zwischen den beiden großen Buben noch tiefer als er es jetzt schon ist..
ja sicher fragst du dich -
wie konnte es überhaupt so weit kommen dass sich die Grenzen sooo verhärtet haben,
es scheint kein Durchkommen von dem einen zum anderen mehr möglich zu sein und doch...
gehst du davon us weil du es mit ihnen erlebt hast - ise sind sich nahe und gebau deshalb hat der eine den anderen oder umgekehrt - bewusst oder nict
zutiefst verletzt - gekränkt, sodass sich einer zurückgesetzt nicht erkannt und verstanden wurde..
das passiert..
nicht nur zwischen Brüdern aber oft -
Missverständnisse die NUR durchs miteinander reden aufgeklärt werden können liebe Helma..
das kann Jahre dauern und/oder ganz plötzlich aus einem Impuls heraus entstehen...einem Anlass der sich ergibt...
wenn die innere Bereitwilligung dafür bei beiden da ist..
du als Vermittler - nicht Drängler um Gottes nein - könntest dazu beitragen durch dein sein als Mutter der beiden...
ich hoffe, von ganzem Herzen dass die Brüder wieder zueinander finden...
es wäre unausdenkbar und schrecklich wenn es nicht gelänge..diesen Zustand wieder glatt zu bügeln...
herzlichst angel meine Gedanken sind bei dir..

Studio Glumm hat gesagt…
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
Studio Glumm hat gesagt…

Ich bin 7 Jahre älter als mein Bruder, eine Zeitspanne also ungefähr wie bei euch. Dadurch erlebte aber bei uns jeder seine eigene Kindheit. Wir verstanden uns zwar gut, aber jeder hatte seine eigenen Freunde. Diese Abnabelung voneinander scheinen deine Jungs nun spät nachzuholen. Gegen die Verhärtung (des Älteren) hilft nur der Tisch: reden. Schwierig.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Ich danke Euch allen, wirklich, ich danke Euch von Herzen. Mehr kann ich nicht dazu sagen.