Mittwoch, 8. Februar 2023

33

 


Als ich Dir heute morgen um Null Uhr Fünf gratulierte, weil wir beide um diese Zeit noch nicht schlafen konnten, da erzählte ich Dir, dass ich vor genau 33 Jahren nachts um diese Zeit mit Deinem Vater den Klinikgang auf und ab ging und es trotzdem noch bis 9.29 Uhr dauerte, bis Du endlich auf dieser Welt warst. Ich weiß noch, wie sie Dich das allererste Mal noch im Kreißsaal in meinen Arm legten und ich spontan dachte, dass Du die winzige Miniaturausgabe Deines Opas seist :)

Ich fragte Dich letzte Nacht, ob ich die Kerzen auf Deinem Geburtstagstisch anzünden sollte, damit Du Dir etwas wünschen könntest, bevor Du sie auspusten würdest. 
Aber Du hattest keinen Bock mehr aufzustehen nach der langen Schicht in der Klinik. Überhaupt bist Du heute der Meinung, dass Du keine Feier, keine Geschenke, keine Gratulanten und auch überhaupt nix brauchst. 
Aus Deiner Sicht ist Dein Geburtstag nichts Besonderes - für alle anderen um Dich herum aber, die Dich lieben, ist er etwas Besonderes: Weil DU besonders bist. 
Ich kenne kaum jemanden, der so feinfühlig ist wie Du. Du spürst immer und immer sofort, wenn irgendetwas nicht stimmt. Meist noch bevor überhaupt jemand etwas gesagt hat. 
An Dir jedoch erlebe ich jeden Tag, was es mit einem Menschen macht, wenn er zuviel allein ist. 
"Er hat ein Herz aus Gold", hat Dein Bruder früher öfter über Dich gesagt - und absolut Recht damit.
Du selbst empfindest es überhaupt nicht mehr so, willst es auch nicht mehr so sehen und sobald Dir jemand zu  nah kommt, fährst Du sofort Dein ruppiges Schutzschild hoch. Du willst an nichts mehr glauben und willst auch nicht mehr vertrauen. 
Auch meinen Worten und meinen Gedanken und meiner tiefen inneren Überzeugung willst Du nicht glauben, dass das Leben auch für Dich noch ganz viel Wundervolles vorbereitet hat. Weil das Glück zu jedem Menschen kommt, der es auch verdient. Und Du bist einer dieser wunderbaren Menschen, die (leider) zu sehr an sich selbst zweifeln. 
Weißt Du, in Norwegen sagen die Menschen: "Alles kommt zur rechten Zeit für den, der warten kann." Mich selbst hat ja dieser Gedanke, dieses Lebensgefühl durch ganz viele schwierige Zeiten getragen, die alles andere als gut und schön waren.
Und genau das wünschen wir Dir so sehr von Herzen: dass Du das bekommst, was Dich glücklich macht - und dass wir dann bei Dir sein und das miterleben dürfen. Und auch wenn Du noch so die Augen verdrehst, abwinkst oder schroff reagierst: Ich empfinde wirklich tiefe Zuversicht darin, dass auch Du Dein Glück findest. Bei Dir hat alles immer länger gedauert als bei anderen - also was solls? :)

Heute, rückblickend, kann man doch eins sagen: 
Über das Leben hast DU mich das Grundlegendste gelernt. Wie man sich durchsetzt. Wie man sich widersetzt.
In der 4. Klasse sollte ich Dich ausschulen und auf eine Sonderschule oder wenigstens eine Sprachheilschule bringen. 
Weil Dein Geist so wendig und beweglich war, dass Du schneller dachtest als Du sprechen konntest - und Dich damit oft verhaspelt und zu oft zu viele Dinge gleichzeitig erzählen wolltest. Für mein damaliges Empfinden rechtfertigte das weder eine Sonderschule noch eine Sprachheilschule. Also habe ich Dich auch da gelassen, wo Du warst - und alles war gut und richtig so!
Deine Noten bewegten sich zwar eher immer im mäßigen Bereich - außer in den Fächern, die Dich interessierten: Astronomie und Geografie. 
Aber so war es eigentlich immer: Was Dich nicht interessierte, fiel komplett "hinten runter". Und Du sagtest selber mal: "Wär ich nicht so verspielt gewesen, ich hätte viel mehr erreichen können."
So war es auch in Deiner ersten Ausbildung zum Elektroniker. Jahre später sagtest Du mal zu mir, dass Du in der Zeit der Ausbildung noch viel zu verträumt gewesen warst - und deshalb den Bogen nicht mehr spannen konntest, um die Ausbildung nicht nur abzuschließen, sondern anschließend auch in diesem Beruf arbeiten zu können.
Deine Berufsschule bestellte Deinen Vater und mich ein und legte uns nahe, auf Dich einzuwirken, die Ausbildung abzubrechen - ein halbes Jahr vor dem Abschluss. Sie waren der Meinung, Du würdest das Ziel sowieso nicht erreichen.
Aber Du hast es erreicht. Du hast Deinen Abschluss bekommen - und im selben Jahr die Ausbildung im medizinischen Bereich begonnen. 
Nebenbei hast Du Deinen Führerschein gemacht - selbst vom eigenen knappen Geld abgespart. Und Dir von Deinem eigenen Geld ein erstes, wenn auch altes, gebrauchtes Auto gekauft. Ganz ehrlich? Menschen wie Dich liebe ich: Die brauchen keine Statussymbole, die wollen auch keine. Natürlich haben Menschen wie Du Träume - aber sie müssen sich kein Leben auf Pump und Protz und Gloria aufbauen, nur um der Welt zu zeigen: Ey, ich bin wer, ich kann was, ich hab was.
Dir war immer wichtig, dass Du Dir DEINE Träume erfüllen kannst - und nicht die anderer. 
Ich erinnere mich noch so gut an diese Jahre. Wie oft ich geflucht und mir das Haar gerauft hatte ob Deiner Unbefangenheit und Verträumtheit - aber auch unfassbar stolz auf Dich war. 
Du hast allen immer und immer wieder das Gegenteil ihrer pessimistischen Prognose bewiesen. Und auch dafür liebe ich Dich sehr!
In jeder Deiner Entwicklungsphasen erkannte und erkenne ich mich selbst immer wieder. 
Nach Deiner zweiten Ausbildung hat es Jahre gedauert, ehe Du im medizinischen Sektor Fuß fassen konntest. Zwar bist Du über etliche Umwege heute im Klinikalltag gelandet und auch in einem ganz anderen Bereich als dem, den Du gelernt hast. Aber nach zwei Jahren "Probezeit" haben sie Dich ohne Wenn und Aber übernommen - und Dein vorheriger Arbeitgeber hat monatelang um Dich gekämpft. Dass Du bleibst. Dass Du zurückkommst. 
Ich bin so, so froh, dass Du Dich nicht überreden lassen hast, weil das Vorherige einfach keine Perspektive für Dich bot. Inzwischen scheint die Zeit zu beweisen, dass ich damit auch ziemlich richtig lag.
Gleichwohl hat es mich wirklich sehr gefreut, dass da endlich mal Arbeitgeber waren, die unbedingt DICH wollten. Du hast endlich eine Wertschätzung erfahren, die Dir schon so lange gebührte. 
Und dass Du mal eines Tages mit dem Rauchen aufhörst, daran hat auch keiner geglaubt. Wenn ich ehrlich sein soll: Auch ich nicht ;) Du hast so unfassbar viel geraucht, dass es selbst für mich als Nichtraucher schwer vorstellbar war, dass Du so einen Willen auch nur ansatzweise aufbringen könntest. 
Und auch hier hast Du uns alle, wirklich ALLE überrascht: Seit dem 5. September hast Du keine Zigarette mehr angefasst - das sind allein bei diesem ersten Versuch immerhin schon fünf stolze Monate. Und ich bin auch hier wirklich wahnsinnig stolz auf Dich, mein Hase. 

Dass wir wieder nach L zurückkommen nächsten Monat, hat auch etwas mit Dir zu tun. Ich weiß, dass ich kein Ersatz bin für das, was Du eigentlich brauchst - und das versuche ich auch gar nicht zu sein. Denn ich weiß auch, dass man immer noch für jemanden da sein kann. Dass man jemanden auf zurückhaltende Weise begleiten kann. Und sei es nur, indem man sich Zeit für den anderen nimmt, wann immer der andere es braucht. Dass man an einem Tisch sitzt, dem anderen etwas zu essen bereitet oder einfach nur gemeinsam auf dem Sofa lümmelt. Dass wir miteinander sprechen oder auch einfach nur miteinander zocken können. Dass Du mit dem Mann zum Fußball gehst oder zu dritt mit dem Bruder durch die Kneipenmeile ziehst. Dass Du wieder mehr unter die Menschen kommst, wieder mehr in das Leben zurückfindest, an dem Du zu gern teilhaben möchtest, solange man keine Hoffnungen in Dir schürt, die dann gedankenloserweise wieder enttäuscht werden. 

Natürlich denkst Du, dass niemand auch nur ansatzweise nachvollziehen kann, wie Du Dich fühlst. Du siehst den Mann und mich, Du siehst Deinen Bruder mit seiner Freundin, Du siehst die Menschen in ihren Beziehungen um Dich herum. Aber weißt Du,  nicht jeder ist eben auch glücklich bzw. hat es für ganz viele auch ein halbes Leben gedauert, ehe sie sagen konnten: "Ich bin jetzt genau da, wo ich sein wollte."
Und dieses Gefühl, mein Junge, das beginnt im Kopf. Das beginnt bei einem selbst. 
Wenn man mir genau sowas früher sagte, wusste ich überhaupt nicht, was man mir da eigentlich erzählte. Ich konnte es auch dem Gefühl nach nicht "greifen". Und mir ist bewusst, dass Du Dich genauso fühlst, wenn Du das hier liest oder wenn ich es Dir sage. 
Aber eines Tages wirst Du erfahren, was ich damit meine.. Früher oder später wirst Du es wissen. Vielleicht später, weil bei Dir ja alles immer irgendwie etwas später kam als bei anderen. Auch in diesem Punkt kommst Du haargenau nach mir :) Später heißt aber nicht nie. Egal wie Du jetzt rumfauchen wirst, wenn Du das hier hörst oder liest. Mein stachliger, ruppiger, liebenswerter, empfindsamer Wassermann :) 
Ich lieb Dich wirklich sehr und bin sehr dankbar, dass wir Dich haben. Und selbst wenn Du eines Tages einhundert Jahre alt bist, bist Du immer noch mein Junge und ich..

..Deine Mama 



4 Kommentare:

angelface hat gesagt…

boa....auch einWassermann...
wirklich du Frau mit dem roten Kleid
jetzt treibst du mir aber das Wasser in die Augen
dein Brief an dich großes Kind
an uns die wir Mütter sind in allem was wir sind, denken und in uns tragen
vor allem diese tiefe unverbrüchliche Liebe
die nie aufhört, weh tun kann
könnte niemand aus deinem Herzen jagen
wunderbar
es wird der Tag kommen
da versteht er
ist stolz darauf so eine Mutter zu haben
die den Mut hat
es auch zu sagen...

zutiefst berührt liebe Helma
bin ich
auch Mutter eines Kindes dessen Leid gilt es
bis zum Ende
das spürbar naht
mitzutragen

angel

Grit hat gesagt…

Herzlichen Glückwunsch an Deinen Sohn, liebe Helma. Deine Zeilen sind mal wieder ganz, ganz wunderbar geschrieben ... Gänsehautmomente. Wir Wassermänner sind eben doch die Besten. *lach* Herzliche Grüße und alles Liebe, Grit.

allesgewollt hat gesagt…

Sehr schön und liebevoll geschrieben !
Und ja, kann vieles abnicken,
denn ich bin seit 25 Jahren mit einem Wasserman verheiratet.
Und nein, nicht viele passen zu diesem Sternzeichen, aus den oben genannten GRÜNDEN.
Aber so ein Juwel kommt eben auch nicht alle Tage vor.
Liebe Grüße, Angela

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Ich bedanke mich ganz von Herzen für Eure Worte! <3