Samstag, 31. August 2024

Mindset


Vor kurzem habe ich an einem Workshop teilgenommen. Nicht mein erster, aber der erste dieser Art. 
Postkarten lagen ausgebreitet und die Teilnehmer wurden gebeten, sich zwei davon auszuwählen. Die erste sollte die aktuelle Stimmungslage beschreiben, die zweite die Erwartungshaltung an den Workshop. 

Ich habe ganz spontan gewählt, noch ehe sich die Worte in meinem Kopf formten, was ich damit zum Ausdruck bringen wollte.
Meine erste Karte war die Großaufnahme einer Margeritenblüte. Die zweite Karte bildete einen Sonnenuntergang ab - und einen Schattenmenschen, der die Arme ganz weit ausbreitete.
Diese zwei Karten pinnte ich an die Wand.
"Ich weiß nicht, warum, aber jeden Morgen, den ich erwache, habe ich Musik in meinem Kopf. Nicht immer dieselbe, aber immer Musik. Ich habe den ganzen Tag lang Musik in meinem Kopf. Und die Karte mit der Blume sprang mich irgendwie an, weil neben der Musik in meinem Kopf meistens auch eine Blumenwiese ist. Das beschreibt... glaube ich... meine aktuelle Stimmungslage am besten. Und die Karte mit den Armen.. Ich habe keine Ahnung, was heute passiert. Ich hab vielleicht eine Vorstellung von dem, was passiert. Vor allem aber bin ich offen für alles, was kommt."



Das bedeutet nicht, dass ich keine Angst hab. Ich hab ne scheiß Angst vor so einigem. Aber ich hab nicht nur meine Technik des Prokrastinierens perfektioniert, ich bin auch im Verdrängen ziemlich gut. Kann mittlerweile ganz gut zur Seite schieben, was ich nicht ändern kann. Das gelingt mir nicht immer, auch nicht immer gut - und ist natürlich auch immens abhängig von der Verfassung meiner Kinder und der Menschen, die ich liebe. 
Manchmal beklagt sich der Mann über die Kinder, dass wir sie zu selten sehen und dass sie sich zu selten melden; es sei denn, sie "wollen irgendwas". Dann muss ich oft lächeln und erinnere ihn daran, wie es war, als wir so jung waren. Uns gehörte doch die Welt, glaubten wir. Und wir glaubten, alles würde immer so sein und so bleiben, wie es eben war. Wir haben doch nie darüber nachgedacht, ob die Eltern alt werden, ob die Großeltern sterben - und dass es eines Tages zu spät für alles sein könnte. 

Heute ist es anders. Heute genieße ich jeden einzelnen Tag und jeden Moment, den ich mit anderen teilen kann und darf. Jetzt, wo die Reise an das geliebte Meer nicht mehr so arg weit ist wie noch vor gut einem Jahr, jetzt bin ich öfter dahin unterwegs, habe meine Mama und meinen Papa öfter besucht als zuvor - und werde mir auch künftig mehr Zeit nehmen. Heute denke ich oft an meine Großmutter, die nicht nur einmal darum bat, ich möge doch öfter schreiben. Heute wünschte ich so sehr, ich hätte es getan. Heute wünschte ich, ich hätte mir ihre Strickjacke aufbewahren können, diese eine dunkelblaue mit den braunen Hirschhornknöpfen. In meinem Schrank hängen seither vermutlich um die fünfzehn Strickjacken, und auch wenn ich mir noch weitere fünfzehn kaufen würde:  Keine davon ist diese eine.
Und das ist auch etwas, das mich umtreibt.. Die Furcht davor, zu spät zu kommen. Die Furcht davor, auf der Suche nach Dingen bleiben zu müssen, die nicht mehr ersetzt, nicht mehr repariert, nicht mehr wiedergutgemacht, nicht mehr nachgeholt werden können..

In samtigen Nächten wie diesen, mit dieser Musik in meinen Ohren, da fühle ich sie einmal mehr, diese Sehnsucht, diese tiefe Liebe zu wenigen Menschen - und zugleich das leise Schwingen dieser Furcht. 


Sonntag, 11. August 2024

In dieser Küche wird getanzt

Irgendwann vor einiger Zeit ist mir aufgefallen, dass ich seit einigen Jahren nächtens keine Alpträume mehr erlebe. Vor allem nicht den einen, der immer und immer wiederkehrte: dass mich jemand in meiner Wohnung überfiel, mich entweder ruckartig hochriss, um, wenn er mich mit Wucht wieder zu Boden warf, sicher sein zu können, dass alles, das in einem Körper brechen könne, auch gebrochen sein würde.. Bis heute weiß ich übrigens nicht, woher diese Träume kamen.

Jedoch viel wichtiger finde ich sowieso inzwischen, dass diese Träume schon seit Jahren der Vergangenheit angehören. 

Stattdessen ist es heute so, dass morgens, wirklich jeden Morgen, sobald ich die Augen öffne, irgendein Musiktitel in meinem Kopf ist. Ich erwache sozusagen damit. Ist das nicht kurios? Aber eben irgendwie auch schön!

Und vor zwei Tagen war es dieser Titel. Ich wusste seinen Namen nicht mehr, ich erinnerte den Text für den Augenblick nicht mehr - aber die Melodie, die war in meinem Kopf und nur diese einzige Zeile "..ich habe solche Angst zu sterben.." Es hat einen Moment und Google gebraucht, bis ich zu diesem Titel zurückfand. Seitdem hör ich ihn rauf und runter - und habe auch den Text ultra schnell wieder im Kopf gespeichert. Habe mir außerdem eine Playlist angelegt, in der nur solche und vor allem alte Titel abgelegt sind. Woher kommt das eigentlich, dass es vor allem diese schlagerpopähnlichen Titel sind, die mir so ein gutes Lebensgefühl vermitteln? Weil sie mich an früher erinnern? An die Kindheit auf der Insel? An eine Zeit, in der die Eltern genau all diese Titel rauf und runter spielten und man sich an all das sofort wieder erinnert? Der Mann und ich sind manchmal verblüfft, wie unfassbar viel Text ja doch noch in unseren Köpfen gespeichert ist - nach all der Zeit!

Aber warum auch immer - ich liebe dieses Gefühl, das diese Songs mir vermitteln. Ausgerechnet mir, die mit Schlager so überhaupt gar nichts anzufangen vermochte - und auch nie und nimmer wollte. Jedoch.. Als ich mich heute Nachmittag auf den Weg zum Sohn machte, die Sonne so herrlich schien, da ließ ich sämtliche Fensterscheiben herunter, drehte die Musik auf, fuhr durch die Straßen, genoss und sang! Manchmal hab ich Blicke von Leuten registriert, vor allem die Frau an der Ampel, die mich mit aufgerissenen Augen und offenem Mund begeistert anschaute. Ist das nicht herrlich?? Wenn man Leute mitreißen, wenn man sie "anstecken" kann?

Ich glaube, dass ich deshalb auch so gerne Auto fahr: Ich kann die Musik aufdrehen, so laut ich mag, ich kann so laut singen, wie ich mag, ich fühl den Wind in meinen Haaren und auf meiner Haut, fühl den Wind um die Beine und unter dem Flatterkleid - und dann fühl ich mich so frei!! So herrlich frei und unbeschwert!

Dieses Gefühl hielt dann auch immer noch an, als ich wieder nach Hause gekommen war, in der Küche Kartoffeln für das Abendessen schälte und den Fisch würzte. Draußen schien noch immer die Sonne, es war immer noch warm, ich hatte die Musik in den Ohren und sang mit einer solchen Leidenschaft, als stünde ich auf einer Bühne, die nur mir ganz allein gehörte. Bewegte mich im Takt, wie ich es für gewöhnlich nur mit ein oder zwei Gläsern Weißweinschorle hinbekommen könnte. Ja, der Text ist nicht zum Singen, nicht zum Tanzen  - mir ist das durchaus bewusst. Aber das Leben ist das ja auch nicht - und grad deshalb denk ich.. Man sollte einfach viel öfter singen und tanzen. Wenigstens für einen Moment die Welt vergessen.. So ein bisschen wie in Greys Anatom - die haben sich ihren Frust, ihren Kummer, was auch immer, herausgetanzt. Meistens hats geholfen, sich besser zu fühlen.

Vermutlich sagt das jede Generation - aber ich finde, die Musik aus den 70ern, aus den 80ern, das ist die einzige Musik, die einen heute wirklich vom Stuhl, aus dem Sessel, vom Sofa holen und ein so wunderbares Lebensgefühl vermitteln kann. Die ist irgendwie noch so "handgemacht", obwohl das ja wiederum auch nicht wirklich stimmt. Sie fühlt sich aber so an. Sie fühlt sich.. einfach toll an.

Fast tut es mir leid, dass ich morgen wieder arbeiten muss. Dass ich auch noch einen Home Office-Tag hab. Im Office kann ich ja wenigstens Musik hören, wenn auch nicht so laut, und da kann ich wenigstens auch singen - wenn auch nicht so laut. Hier im Home Office geht das nicht, immerhin sitzt der Mann in meinem Rücken. Oder ich in seinem :) Aber.. Ich hätte grad so echt richtig mega Bock auf eine Autobahntour mit so herrlicher Musik. Am liebsten natürlich sowieso direkt ans Meer. Habe mir aber auch wirklich vorgenommen, wieder mehr ans Meer zu fahren. Habs ja jetzt nicht mehr so weit. Und wenn mir eins nicht schwerfällt, durchzuziehen - dann das.

Und zwischendurch.. wird weiter in meiner Küche gesungen und getanzt :)

Mittwoch, 7. August 2024

Take Time


Ich war in der 6. oder 7. Klasse, als ein neuer Schüler zu uns kam. Noch heute kann ich mich sehr deutlich an ihn erinnern. Dunkle Haare, blaue große Augen und zumeist ein schiefes Grinsen im Gesicht. Im Grunde ein drahtiger, unauffälliger Junge, würde er nicht immer dann, wenn ihm irgendetwas nicht passte - und man konnte nie vorhersagen, was konkret ihm nicht passen würde - die Schultische umstoßen oder die Stühle über Bänke und Schüler hinweg werfen. Niemand mochte wirklich mit ihm befreundet sein, es schien, als würde er auf ewig ein Außenseiter bleiben. Oder auch nicht auf ewig - wenn man ihn denn vorher wieder loswerden könnte. In den unzähligen Augen angepasster Kinder, die erst mit ihren blauen, später mit ihren roten Halstüchern zum Fahnenappell salutierten, mussten ja Charaktere wie jener befremdlich wirken.
"Der passt nicht zu uns!"
Die Wutanfälle mehrten sich, der Unmut mehrte sich. 
Noch heute kann ich mich an jenen Abend in der Schule erinnern: Drei Schüler, einer davon ich, und drei Eltern aus dem sogenannten Beirat - beide Parteien an einem Tisch, die Schüler den Eltern gegenüber. Wir Kinder durften zuerst unseren Vortrag halten, dann durften die Eltern sich dazu äußern. 

Auch ich war ein braves, angepasstes Kind. Eins, das nie die Schule schwänzte aus Angst vor dem Vater. Das seine Hausaufgaben zumeist alleine zu lösen versuchte. Eins, das nie Zigaretten auf dem Klo ausprobierte oder von den Stones schwärmte. Meine Welt waren meine Märchenbücher, meine Puppen und all die Geschichten, die ich entweder aufschrieb oder aufmalte. Meine Welt war eine ganz andere - und zugleich dennoch eingefügt in einen Rahmen, mit dem jegliches Anderssein suspekt erscheinen musste.
Dementsprechend hatte ich mich auf diesen Abend vorbereitet, war mein kleiner Vortrag angefüllt mit Begründungen, warum dieser Junge in unserer Klasse keinen Raum haben durfte. Warum er "weg" sollte.

Bis heute erinnere ich mich an den Blick eines Vaters, der mich und die anderen beiden Schüler ansah. Der ruhig, gelassen und zugleich sehr bestimmt unsere Vorträge auseinandernahm und uns den Spiegel vorhielt. 
Der uns bewusst machte, dass ein starkes Team nur dann ein starkes Team sein kann, wenn es auch den Schwächsten trägt. Wenn es zulassen kann, akzeptieren kann, dass nicht einer wie der andere sein muss, nur um respektiert zu werden. Dass nicht jeder auf eine Sonderschule gehen muss, nur weil Charaktere so unterschiedlich sein können - sondern trotzdem einer vom anderen lernen kann. Dass ein Miteinander immer möglich ist. Wenn man nur einander die Zeit ließe - und die Geduld und die Akzeptanz.
Selten habe ich mich je so beschämt gefühlt wie in diesem Augenblick. 
Dieser eine Vater eröffnete zu dieser einen Sache einen völlig anderen Blickwinkel - für mich persönlich eine ganz neue Erfahrung. Eine, die mich bis heute nachhaltig geprägt hat. 

Das ist alles so unglaublich lange her - und doch denke ich noch heute oft an ihn und an seine Worte. An seine Bestimmtheit. Bis heute sind es die schrägen Vögel, die komischen Kauze, die Eigenartigen, die Außenseiter, die es mir angetan haben. Bis heute mache ich mich stark für die, die es nicht selbst können oder nicht wollen - oder nicht gelassen werden.

Wir haben seit einem Jahr einen neuen Mitarbeiter. Als er sich vor einem Jahr bei uns vorstellte, da wirkte er - zugegeben - etwas befremdlich auf mich. Er war laut in diesem Gespräch, er war nervös, er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und legte den Anblick frei auf tellergroße Schweißflecken unter den Armen. Er konnte durchaus zuhören, man sah ihm förmlich an, wie das Gehörte seinen Kopf beschäftigte - und er redete dann einfach drauflos, unterbrach einen, ohne es zu bemerken.
Er war schlichtweg einfach.. aufgeregt. 
Wir haben ihn dennoch eingestellt und für diesen Mann habe ich eine Förderung von ganzen acht Monaten bekommen. Soviel Förderung habe ich bisher noch nie auf einen Antrag hin erhalten. Ob sie gewusst haben, warum? 

Inzwischen ist es so, dass kaum jemand mit ihm arbeiten möchte. Er ist nicht laut, er ist leise. Er spürt jede Schwingung, er spürt jede Sympathie und jede Antipathie. An Gesprächen am Mittagstisch beteiligt er sich nur sehr selten - und wenn, dann nur kurz. Die Aufgaben, die er macht, sollten ihn eigentlich unterfordern - und vermutlich tun sie es auch. Er erledigt sie dennoch - und zumeist fehlerbehaftet. Er fragt nur wenig. Er macht eben einfach drauflos. Selbst wenn man ihn auffordert, die Arbeit nochmal gegenprüfen zu lassen - entweder vom Projektleiter oder einer Büroangestellten - er macht es nicht. Versendet fehlerhafte E-Mails, fehlerhafte Ausschreibungen.

Er ist einer der ganz wenigen, die jeden Morgen das Büro betreten und freundlich grüßen.
Die abends das Büro verlassen und sich freundlich verabschieden. Er lächelt immer, wirklich immer, wenn er einen anschaut oder etwas fragt. Seine ganze Körperhaltung, jede Bewegung von ihm drückt Unsicherheit aus. Und wenn ich mir seine Zeugnisse durchlese, dann bekomme ich eine Ahnung davon, was er in all den Jahren zuvor erlebt haben muss. Viel Gutes in jedem Fall nicht. 

Er ist jetzt ein ganzes Jahr bei uns. Die Antipathie der meisten Kollegen erhebt sich gerade zu einer Front gegen ihn. Und das auch nicht offen. Das geschieht hinter seinem Rücken. Ich bin mir sicher, er weiß es. Ich bin mir sicher, er spürt es. Desto stiller wird er. Desto mehr zieht er sich zurück. Desto weniger fragt er. Ob er meint, beweisen zu müssen, dass er es kann? Ob er deshalb alles allein macht, wenig fragt und dann Sachverhalte das Haus verlassen, die besser so nicht rausgegangen wären? Vermutlich sollte er es besser können - nach einem Jahr bei uns und mit seinem Diplom in der Tasche. Tatsache ist aber auch, dass man diesem Mann bisher kaum eine Aufgabe zugeteilt hat, an der er wachsen kann. Er ist jemand, der hineinwachsen muss. Der Routine braucht, um hineinfinden zu können. Der lernen können muss. 
Aber kann das funktionieren, wenn man einen Menschen wie einen Kegel auf verschiedene Plätze zu verschiedenartigen Aufgaben schiebt, die Sechs würfelt und ihn losschubst? 
Er hat ein Potential, da bin ich mir wirklich sehr sicher. Ich möchte ihn nicht aufgeben und auch nicht hergeben. Ich möchte, dass er uns zeigt, wo seine Stärken liegen. Da gab es schon eine Idee und es gab schon einen Plan - nur umgesetzt wurde dieser noch nicht, und das ist nicht seine Schuld. 
Also stelle ich mich gegen die Front, suche das Gespräch mit meinem neuen Chef - und spüre: Ganz so verschlossene Türen laufe ich wider Erwarten da nicht an. Das gibt mir Hoffnung - und ein Gefühl der Erleichterung. Dass dieser neue junge Chef Entwicklungen sieht und nicht nur das, was der Mitarbeiter nicht kann.

Heute Abend war so ein Abend, an dem ich an jenen Vater meiner Schulfreundin denken musste. Wie dankbar ich für diesen Elternabend vor so langer Zeit bin, für diese Erfahrung, für das, was ich daraus für mich mitnehmen konnte.
Er hat sich das Leben genommen, irgendwann nach jenem Abend.
So wie seine Tochter gut zwanzig Jahre später. 

Das Leben ist ein Mysterium, irgendwie.

Dienstag, 6. August 2024

Augen zu und durch

Heute habe ich überraschend einen dritten freien Tag. Die Technik ist schuld - und irgendwie war und bin ich noch immer ziemlich erleichtert darüber. Schon vergangenen Freitag hieß es, es gäbe ein recht großes Problem beim DSL-Anbieter - und alle aus dem Home Office können sich via VPN nicht einwählen. Aber Freitag und Montag hatte ich mir freigenommen. Ertappte mich aber heute Morgen dabei, dass ich den Laptop aufklappte und dachte: "Bitte geh nicht. Bitte geh nicht. Bitte geh nicht." Und dann stand es da "Access denied" und am liebsten hätte ich da vor Freude getanzt - wäre ich nicht so komplett müde gewesen. Ins Office vor Ort zu fahren, ging - oh wie schade! - heute nicht. Der Mann war heut unter Narkose einer kleinen OP unterzogen worden - und meine Aufgabe war nicht nur, ihn heil wieder nach Hause zu bringen, sondern auch dafür zu sorgen, dass es ihm dort gut ging. Das tat ich auch sehr gern - allerdings nur bis zu dem Moment, als die Narkoseauswirkungen sich wieder verflüchtigt hatten und der Mann begann, sich über verschiedene Dinge zu mokieren.

"Warum stehtn das Bügeleisen noch hier? Brauchst du das noch? Wieso räumst du es nicht gleich weg?"

"Warum lässt du die Balkontür offen, wenn du Wäsche aufhängst? Mach doch die Tür inzwischen zu."

"Musst du diese Sendung jetzt gucken? Ich wollt mich eigentlich ein bisschen aufs Sofa legen."

Tja. Wenn Ihr mich fragt, da hätte die Narkose ruhig ein bisschen deftiger ausfallen und der Mann gut und gern bis abends durchschlafen dürfen. Aber nach mir gehts ja nicht. Also tief Luft holen, nix sagen, einfach die Sendung ausknipsen, Essen zubereiten. Scheiß doch auf den freien Tag, den ich nicht nach meinem Gusto genießen kann. 

"Biste jetzt sauer oder was?"

Solche Fragen liebe ich ja immer ganz besonders. Die hab ich zum Fauchen gern. Wieso sieht er immer nur, was für ihn nicht passt? Wieso sieht er stattdessen nicht, dass beispielsweise die Wohnung aufgeräumt und angenehm kühl ist, die Wäsche gewaschen und aufgehangen, die Bügelwäsche sortiert und frische Bettwäsche aufgezogen ist? 

Am letzten Wochenende gabs ja den langersehnten Regen - und das nicht mal zu knapp. Leider hat er nicht die erhoffte Abkühlung mitgebracht. Die hätte allen Gemütern vermutlich ganz gut getan ;)

Links neben uns wird gerade noch ein Haus gebaut. Damit ist unser Viereck bis auf eine kleinere Lücke fast geschlossen. Was sicherlich nicht nur wir bedauern. Im letzten Jahr war es immer schön frisch draußen auf dem Balkon. Es war fast wie zu Hause am Meer: Eine Brise ging immer, leicht oder etwas mehr als leicht. Inzwischen sind vom neuen Haus vier Etagen fertiggebaut, zwei sollen noch kommen. Was zur Folge hat, dass uns in diesem Jahr fast alle Pflanzen und Blumen regelrecht "verbrennen". Deren Erde ist feucht, doch die Kelche und Blätter werden braun, auch wenn sie noch jung sind. Nach und nach haben wir sie in die Wohnung geholt, die meisten rechtzeitig. Wenn der Mensch doch nur mal aufhören würde, jeden freien Flecken zuzubauen. Mit Asphalt und Beton zu versiegeln. L war mal bekannt dafür, eine baumstarke Stadt zu sein. Inzwischen bin ich mir dessen nicht mehr so sicher. Kann man sich stattdessen nicht mal um all die leerstehenden Häuser kümmern, die es hier ja immer noch gibt? Die sind nicht so verkommen, dass ein Umbau nicht lohnte. 

Aber heute.. heute bin ich zu müde für Dialog oder Diskussionen. Heute will ich einfach nur meine Ruhe haben. Braue mir jetzt noch ein Käffchen und warte auf den Abend und die Kühle der Nacht. Früher fürchtete ich mich vor den Nächten. Heute liebe ich sie. Früher liebte ich auch den Sommer. Heute lieb ich den Herbst - und warte schon jetzt echt sehnsüchtig auf diese rotgoldenen Zeiten :)

Montag, 5. August 2024

Long time no see

Irgendwie bin ich immer wieder überrascht davon, dass ich überrascht bin, so lange wieder nichts geschrieben zu haben. Zwar lese ich recht regelmäßig und kommentiere hin und wieder auch mal etwas - aber zum selber schreiben fehlte mir einfach wieder die Zeit. Und die Muße. Und überhaupt. Im Kopf formuliere ich so oft irgendwelche Texte - doch ehe ich zum Niederschreiben komme, hat sich alles schon wieder verflüchtigt.

Der Mann sagt ja in letzter Zeit immer öfter: "Du arbeitest zuviel!" Das stimmt vielleicht. Aber ich selber denke, das ist nur die halbe Wahrheit. Ja, das Pensum ist enorm - und seit wir wieder in L wohnen, hab ich hier sehr viel weniger Zeit für mich und auch viel weniger Ruhe im Kopf als zuvor in M. Letztlich aber ist mir bewusst, dass das ein Zusammenspiel aus mehreren Dingen ist. 

In M wohnend, hab ich es genossen, zehn Tage im Home Office zu arbeiten und anschließend für drei Tage nach L zu verreisen. Zwei Tage im Office vor Ort zu arbeiten und am vierten Tag wieder heimzufahren. Vier Stunden lang Musik nach meinem Gusto, nur die Musik und ich in diesem kleinen silbrigen Raum. Jedes Wochenende gehörte uns, es gehörte mir, es gehörte all dem, wonach uns war.

Das ist heute anders. Ich fahre drei Tage in der Woche in das Office vor Ort, bin früh morgens da bis zum Abend, versuche, die Dinge zu regeln und zu bewegen, die vor Ort einfach besser zu handhaben sind als von daheim aus. An den anderen beiden Tagen arbeite ich zu Hause - weil ich mich dort besser konzentrieren kann. Keine Telefone, die permanent klingeln. Keine Fragen Dritter, die permanent an mich gerichtet werden und mich mindestens genauso oft aus meiner Arbeit herausreißen. Der Nachteil des Home Office ist, dass ich in letzter Zeit dann oft bis 19, 20 oder eben auch 22.30 Uhr am Schreibtisch sitze. Termine im Nacken gepaart mit dem Ehrgeiz, selbstgesteckte Ziele auch erreichen zu wollen. Man kann sich an Aufgaben festbeißen, von denen man gar nicht wusste, wie man sie lösen soll - und wenn man dann den roten Faden aufgenommen hat, will man ihn gar nicht erst wieder aus der Hand lassen. Frau kann das auch! :)

Am Wochenende fahre ich ja mindestens einen ganzen Nachmittag zu meinem Älteren. Jedenfalls, wenn er keinen Dienst hat. Der Rest des Tages gehört dem Hausputz. Zum Malen oder sonstigem Kreativen bin ich in der Regel zu müde. So wie ich überhaupt oft müde bin aktuell. Aber hey, es ist einfach auch zu warm in Mittelerde! Ja, es ist Sommer - der darf das. Inzwischen bin ich aber auch in einem Alter angekommen, in dem es mir etwas ausmacht und ich mehr Zeit brauche, um mich zu regenerieren ;) Hab übrigens am Wochenende von meinen beiden Nichten "gelernt", dass alles über 30 schon alt ist. "Sorry, aber nix gegen euch, aber ihr Alten!" hat die eine die Schultern gezuckt. Na Halleluja! Für die Rente bin ich trotzdem noch mehr als zu jung - was übrigens den Mann ziemlich grämt. Er wünschte, ich könnte mindestens gleichzeitig mit ihm aufhören zu arbeiten - aber das wird nix. Lotto spielen wir ja nicht und die äußeren Randbedingungen werden ja eher schlechter als besser. Klar gibts ganz viele Leute, die noch mit 70 Jahren arbeiten gehen wollen - oder müssen. Die auch noch länger arbeiten wollen - oder müssen. Aber ich persönlich möchte das, glaube ich, nicht ausreizen. Nicht, wenn ich nicht muss. Es gibt so einiges, für das ich mich interessiere und zu dem mir aktuell schlichtweg die Zeit fehlt. Genau genommen habe ich für mich nur noch den Sonntag - und das ist nicht nur mir, sondern auch dem Mann zu wenig.

"Ich verbringe mein Leben nur noch damit, auf dich zu warten", beklagt er oft. "Und wenn du mal Zeit hast, bist du meistens müde." Er fühlt sich an seine erste Ehe erinnert, die aus genau diesen Gründen scheiterte. Natürlich möchte ich das nicht riskieren. Also übe ich mich im Spagat zwischen Job, Sohn, Hobby - und dem Mann. Komme kurz vor sieben abends aus dem Büro, rufe ihn von unterwegs aus an, zwinge mich, fröhlich zu klingen und bitte ihn, schon mal den Picknickkorb zu packen, damit wir die gut zehn Kilometer zum See radeln und hineinspringen können.

Es tat tatsächlich nicht nur dem Körper, sondern auch der Seele unfassbar gut, in den See zu springen. Herumzualbern, fangtauchen zu spielen, die mitgebrachten Brote zu essen und dann flugs auf dem Rad lachend dem heranziehenden Gewitter wieder davonzufahren. Es kostet aber ehrlicherweise Überwindung, abends müde heimzukommen, die Tasche abzustellen und gleich wieder auf das Rad zu steigen nach einem langen Tag, um entweder an den See zu fahren - oder in den angrenzenden Park zu spazieren, um sich dort ins Gras zu legen und den verschiedenen Konzerten zu lauschen. Jedoch für mich.. ist das im Moment alles ein bisschen viel. Gefühlt springe ich von einem Punkt zum anderen, um entweder allen oder aber auch meinem eigenen Seelenbedürfnis gerecht zu werden. Aber wenn ich ehrlich zu mir selber bin... dann weiß ich, dass mein Leben an mir vorüberziehen würde, lebte ich allein. Ich würde vermutlich noch mehr arbeiten, danach etwas essen, etwas lesen oder Medical Detectives schauen, am Wochenende den Sohn besuchen oder beide zu mir nach Hause einladen - und das wärs wohl.. Eat Sleep Repeat - oder so ähnlich. Also bin ich eher doch froh, dass ich einen Mann zu Hause habe, der noch mehr will vom Leben, als nur daheim zu warten und dann einen Abend lang Musik zu hören, vielleicht auch mal miteinander zu tanzen oder in den Sternenhimmel zu schauen. Das ist auch schön und auch wichtig - aber ein bisschen mehr leben im Leben ist eben noch schöner. Wir haben ja nur dieses eine.. Und wie verdammt schnell das vorbei sein kann, das habe ich erst vor etwa sechzehn Tagen erleben müssen. Von einem Moment auf den anderen.. ausgeknipst.. zu Hause herumwerkeln, Übelkeit verspüren, sich hinsetzen und zu denken "Ich glaub, ich brauch einen Notarzt" und dann.. "einfach zu sterben". Schon auf der anderen Seite zu sein, wenn der Notarzt eintrifft. Schon zu lange auf der anderen Seite zu sein, als dass dank des Organspendeausweises auch nur irgendwas noch etwas zu retten sei.. So viel älter als ich war er nicht... Acht Jahre, um genau zu sein.. Da will man doch noch nicht gehen müssen? Einen Tag später hab ich davon erfahren - und wirklich den ganzen Abend geweint. Ich konnte es nicht fassen, einfach nicht glauben. In WhatsApp noch ein Foto von einigen Tagen zuvor, in der Anrufliste vom selben Tag noch das Telefonat. Ich muss gestehen, ich ging nicht immer ran, wenn er anrief - weil ich wusste: Telefonate mit ihm kosten Zeit und Aufmerksamkeit. Doch beim letzten Telefonat ging ich - warum auch immer - ran. Gesprochen haben wir etwa eine Stunde. Sieben Tage später ist er nicht mehr da. Für immer nicht mehr da. Ich hör noch sein Lachen. Und hör noch, wie er sagt: "Na gut! Dann lass ich dich mal weiterarbeiten. Mach nicht mehr soviel." 

Ja, das Sterben gehört zum Leben dazu. Niemand kommt hier lebend raus. Aber warum gehen die Besten so oft zu früh?

Das Leben will genossen werden - ganz oft erinnert der Mann mich daran. Und er hat ja auch recht. Letztlich hoffe ich nur immer, dass mir die Puste nicht ausgeht, wenn ich allem und allen gerecht werden will - und mir selber ja auch noch. 

Vorletztes Wochenende stand er noch weit vor acht vor meinem Bett, schaute auf mich herunter und sagte: "Steh jetzt endlich auf. Der Kaffee wartet!" So lockt man mich eigentlich immer - aber... Ich war einfach so müde und ich fühl mich so irrsinnig wohl in unserem Bett. "Gibts denn keinen Kaffee ans Bett?" streckte ich mich genüßlich. "Das kostet neunundfünfzig fünfundneunzig", schaute er streng auf mich hinunter. Ich überlegte kurz, grinste und schlug dann meine Bettdecke zurück. Er schaute ungerührt und meinte: "Achtundfünfzig fünfundneunzig!" Ich liebe seinen Humor sehr, übrigens :) 

Letztes Wochenende waren nun meine Nichten von der Insel da, beide schon längst erwachsen und eine mit einem, knapp einjährigen Kleinkind. Ein wunderbar pflegeleichtes Kind, das mit Essen, Trinken und einer trockenen Windel glücklich und zufrieden ist. Und das erste Kleinkind, das nicht auf den Mann fliegt, sondern lieber zu mir kam. Das lieber mir die kleinen Ärmchen entgegenstreckte, um an meiner Hand die Wohnung zu erkunden, jeden Raum, jeden Winkel inspizierte und auf jedes energische Nein der Mama oder der Tante mit einem breiten Grinsen zu reagieren, das die beiden ersten Zähne zeigte und dem natürlich keiner widerstehen konnte.

Heute hab ich alle drei wieder zur Bahn gebracht, die überraschenderweise auf die Minute pünktlich in den Bahnhof einfuhr und diesen auch ganz pünktlich wieder verließ. Für den Heimweg wählte ich den Fußweg statt des Busses. Ich wollte Zeit für mich, ich brauchte Zeit für mich. Wollte die Tage Revue passieren lassen - und die Tatsache, dass der Mann und ich jetzt wieder allein zu Hause sind. Er hat da so Antennen... Nicht nur, dass er mich anrief, als ich noch auf dem Heimweg war - er hat auch sein Abendyoga abgesagt mit der Begründung: "Dann haben wir heut Abend mal Zeit für uns ganz allein" - und irgendwie... gefiel mir das dann auch schon wieder ausnehmend gut.