Ich war in der 6. oder 7. Klasse, als ein neuer Schüler zu uns kam. Noch heute kann ich mich sehr deutlich an ihn erinnern. Dunkle Haare, blaue große Augen und zumeist ein schiefes Grinsen im Gesicht. Im Grunde ein drahtiger, unauffälliger Junge, würde er nicht immer dann, wenn ihm irgendetwas nicht passte - und man konnte nie vorhersagen, was konkret ihm nicht passen würde - die Schultische umstoßen oder die Stühle über Bänke und Schüler hinweg werfen. Niemand mochte wirklich mit ihm befreundet sein, es schien, als würde er auf ewig ein Außenseiter bleiben. Oder auch nicht auf ewig - wenn man ihn denn vorher wieder loswerden könnte. In den unzähligen Augen angepasster Kinder, die erst mit ihren blauen, später mit ihren roten Halstüchern zum Fahnenappell salutierten, mussten ja Charaktere wie jener befremdlich wirken.
"Der passt nicht zu uns!"
Die Wutanfälle mehrten sich, der Unmut mehrte sich.
Noch heute kann ich mich an jenen Abend in der Schule erinnern: Drei Schüler, einer davon ich, und drei Eltern aus dem sogenannten Beirat - beide Parteien an einem Tisch, die Schüler den Eltern gegenüber. Wir Kinder durften zuerst unseren Vortrag halten, dann durften die Eltern sich dazu äußern.
Auch ich war ein braves, angepasstes Kind. Eins, das nie die Schule schwänzte aus Angst vor dem Vater. Das seine Hausaufgaben zumeist alleine zu lösen versuchte. Eins, das nie Zigaretten auf dem Klo ausprobierte oder von den Stones schwärmte. Meine Welt waren meine Märchenbücher, meine Puppen und all die Geschichten, die ich entweder aufschrieb oder aufmalte. Meine Welt war eine ganz andere - und zugleich dennoch eingefügt in einen Rahmen, mit dem jegliches Anderssein suspekt erscheinen musste.
Dementsprechend hatte ich mich auf diesen Abend vorbereitet, war mein kleiner Vortrag angefüllt mit Begründungen, warum dieser Junge in unserer Klasse keinen Raum haben durfte. Warum er "weg" sollte.
Bis heute erinnere ich mich an den Blick eines Vaters, der mich und die anderen beiden Schüler ansah. Der ruhig, gelassen und zugleich sehr bestimmt unsere Vorträge auseinandernahm und uns den Spiegel vorhielt.
Der uns bewusst machte, dass ein starkes Team nur dann ein starkes Team sein kann, wenn es auch den Schwächsten trägt. Wenn es zulassen kann, akzeptieren kann, dass nicht einer wie der andere sein muss, nur um respektiert zu werden. Dass nicht jeder auf eine Sonderschule gehen muss, nur weil Charaktere so unterschiedlich sein können - sondern trotzdem einer vom anderen lernen kann. Dass ein Miteinander immer möglich ist. Wenn man nur einander die Zeit ließe - und die Geduld und die Akzeptanz.
Selten habe ich mich je so beschämt gefühlt wie in diesem Augenblick.
Dieser eine Vater eröffnete zu dieser einen Sache einen völlig anderen Blickwinkel - für mich persönlich eine ganz neue Erfahrung. Eine, die mich bis heute nachhaltig geprägt hat.
Das ist alles so unglaublich lange her - und doch denke ich noch heute oft an ihn und an seine Worte. An seine Bestimmtheit. Bis heute sind es die schrägen Vögel, die komischen Kauze, die Eigenartigen, die Außenseiter, die es mir angetan haben. Bis heute mache ich mich stark für die, die es nicht selbst können oder nicht wollen - oder nicht gelassen werden.
Wir haben seit einem Jahr einen neuen Mitarbeiter. Als er sich vor einem Jahr bei uns vorstellte, da wirkte er - zugegeben - etwas befremdlich auf mich. Er war laut in diesem Gespräch, er war nervös, er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und legte den Anblick frei auf tellergroße Schweißflecken unter den Armen. Er konnte durchaus zuhören, man sah ihm förmlich an, wie das Gehörte seinen Kopf beschäftigte - und er redete dann einfach drauflos, unterbrach einen, ohne es zu bemerken.
Er war schlichtweg einfach.. aufgeregt.
Wir haben ihn dennoch eingestellt und für diesen Mann habe ich eine Förderung von ganzen acht Monaten bekommen. Soviel Förderung habe ich bisher noch nie auf einen Antrag hin erhalten. Ob sie gewusst haben, warum?
Inzwischen ist es so, dass kaum jemand mit ihm arbeiten möchte. Er ist nicht laut, er ist leise. Er spürt jede Schwingung, er spürt jede Sympathie und jede Antipathie. An Gesprächen am Mittagstisch beteiligt er sich nur sehr selten - und wenn, dann nur kurz. Die Aufgaben, die er macht, sollten ihn eigentlich unterfordern - und vermutlich tun sie es auch. Er erledigt sie dennoch - und zumeist fehlerbehaftet. Er fragt nur wenig. Er macht eben einfach drauflos. Selbst wenn man ihn auffordert, die Arbeit nochmal gegenprüfen zu lassen - entweder vom Projektleiter oder einer Büroangestellten - er macht es nicht. Versendet fehlerhafte E-Mails, fehlerhafte Ausschreibungen.
Er ist einer der ganz wenigen, die jeden Morgen das Büro betreten und freundlich grüßen.
Die abends das Büro verlassen und sich freundlich verabschieden. Er lächelt immer, wirklich immer, wenn er einen anschaut oder etwas fragt. Seine ganze Körperhaltung, jede Bewegung von ihm drückt Unsicherheit aus. Und wenn ich mir seine Zeugnisse durchlese, dann bekomme ich eine Ahnung davon, was er in all den Jahren zuvor erlebt haben muss. Viel Gutes in jedem Fall nicht.
Er ist jetzt ein ganzes Jahr bei uns. Die Antipathie der meisten Kollegen erhebt sich gerade zu einer Front gegen ihn. Und das auch nicht offen. Das geschieht hinter seinem Rücken. Ich bin mir sicher, er weiß es. Ich bin mir sicher, er spürt es. Desto stiller wird er. Desto mehr zieht er sich zurück. Desto weniger fragt er. Ob er meint, beweisen zu müssen, dass er es kann? Ob er deshalb alles allein macht, wenig fragt und dann Sachverhalte das Haus verlassen, die besser so nicht rausgegangen wären? Vermutlich sollte er es besser können - nach einem Jahr bei uns und mit seinem Diplom in der Tasche. Tatsache ist aber auch, dass man diesem Mann bisher kaum eine Aufgabe zugeteilt hat, an der er wachsen kann. Er ist jemand, der hineinwachsen muss. Der Routine braucht, um hineinfinden zu können. Der lernen können muss.
Aber kann das funktionieren, wenn man einen Menschen wie einen Kegel auf verschiedene Plätze zu verschiedenartigen Aufgaben schiebt, die Sechs würfelt und ihn losschubst?
Er hat ein Potential, da bin ich mir wirklich sehr sicher. Ich möchte ihn nicht aufgeben und auch nicht hergeben. Ich möchte, dass er uns zeigt, wo seine Stärken liegen. Da gab es schon eine Idee und es gab schon einen Plan - nur umgesetzt wurde dieser noch nicht, und das ist nicht seine Schuld.
Also stelle ich mich gegen die Front, suche das Gespräch mit meinem neuen Chef - und spüre: Ganz so verschlossene Türen laufe ich wider Erwarten da nicht an. Das gibt mir Hoffnung - und ein Gefühl der Erleichterung. Dass dieser neue junge Chef Entwicklungen sieht und nicht nur das, was der Mitarbeiter nicht kann.
Heute Abend war so ein Abend, an dem ich an jenen Vater meiner Schulfreundin denken musste. Wie dankbar ich für diesen Elternabend vor so langer Zeit bin, für diese Erfahrung, für das, was ich daraus für mich mitnehmen konnte.
Er hat sich das Leben genommen, irgendwann nach jenem Abend.
So wie seine Tochter gut zwanzig Jahre später.
Das Leben ist ein Mysterium, irgendwie.
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