Sonntag, 14. Juni 2015

Ten Headed Beast

  

Musik verbindet.
Zumindest ist das meine Überzeugung. 
Ich glaube, dass es die Menschen verbindet, die die Welt durch dasselbe Glas betrachten, buntes Glas zu bunten Gläsern, kaltes Glas zu kalten Gläsern...
Wir sind zurückgekehrt und ich fühle mich übervoll von Eindrücken. Übervoll von nur einer einzigen Woche, von sieben Tagen. Sieben Tage können unendlich viel sein, so wie man auch nach schon sechs gemeinsamen Wochen weiß, dass man nicht mehr ohne den anderen sein möchte.
["Ich verstehe nicht, dass du so daran hängst. Es waren doch nur sechs Wochen." - "Du hast keine Vorstellung davon, was es für sechs Wochen waren."]
Wir sind wieder hier und haben kaum etwas von dem gemacht, das wir eigentlich planten.
Wir sind nicht mit dem Sportboot gefahren.
Wir sind nicht mit dem Rad gefahren.
Stattdessen haben wir in der Gluthitze des sonnigen Mittags auf einem Platz mitten in einer fremden Stadt versucht, das Auto zu reparieren.
Stattdessen sind wir kopfüber in den Bergsee gesprungen und haben uns gefühlt wie damals, als wir zwanzig waren.
Nicht ein einziges Mal habe ich mich gefragt, ob man das alles nicht auch hätte zu Hause tun können? Ob man dafür erst in ein anderes Land fahren musste?
Haben wir etwas verschenkt? Hätten wir es einfacher haben können? Hätten wir stattdessen etwas anderes haben können?
Nein, all das habe ich mich nicht gefragt. Ich habe diese Tage unendlich genossen, zwischen Muscheln, Garnelen und Olivenbrot, langen Abenden und Ausschlafen am Morgen. Vielleicht habe ich nicht wirklich Neues gesehen, nicht Dinge entdeckt, die ich bis dahin noch nicht kannte. Aber das muss es für mich auch nicht. Ich mag es überall dort, wo ich zur Ruhe finde, von innen und außen, wo ich nachts nicht von toten Menschen träume und von Häusern, unendlich groß, aber leer und ohne Türen, nur Vorhänge..
Ich liege hier und denke an die letzten Tage zurück. An den unendlich heißen Sonnentag, den er mich unbedingt mit in die Berge nehmen wollte. Er, dessen Leidenschaft ihn immer weiter treibt, der auf dem Gipfel ankommen und die gefühlte Weite, den Blick über alles erhaschen und sich daran berauschen möchte. Während ich auf dem winzigen Dorffriedhof ein Kindergrab entdeckte. Ein elfjähriges Mädchen, gestorben am 1. Januar 2015. Vor einem halben Jahr. Zwei Fotos von ihr, ihr Lachen darauf zu sehen, Zähne, die beginnen, die Milchzähne zu ersetzen, lange dunkle Locken. Unsagbar viel Spielzeug um den kleinen Hügel herum. Ob sie krank war? Sie sieht doch aber so gesund aus, auf dem Foto nicht viel jünger als elf Jahre..
Und dann kehrt er wieder: "Ich konnte nicht bis ganz hoch. Privatbesitz, alles abgesperrt, nur ein kleiner Trampelpfad. Und eine Tafel hängt da. Da ist ein Mädchen abgestürzt."
Irgendwie... erfasse ich es sofort.
"Emilia?"
"Ja so hieß sie."
"Geboren 2003?"
"Ja, das stand auf dem Kreuz."
Und dann erinnere ich mich. An den Urlaub, den mein Jüngster mit seinem Vater ganz in der Nähe verbrachte. Im Sommer 2009. Ich erinnere mich an sein zerrissenes, blutiges Shirt und seine Worte: "Ich bin von einem Felsen gestürzt. Gerettet hat mich nur der Dornenbusch, in den ich gefallen bin. An dem habe ich mich festgehalten."
Als ich 2006 schwer verunglückte, hatte der Sanitäter gesagt: "Schauen Sie nicht hin, seien Sie froh, Sie hätten tot sein können" - und mein Vater sagte vier Tage später zu mir: "Deine Zeit war noch nicht gekommen."
Niemand weiß, was ihm bevorsteht - und das ist auch gut so.
Doch tief in mir habe ich verankert, dass ich dankbar bleiben möchte für die Möglichkeiten, für die Richtungen, die hinter jeder Ecke warteten. Tief in mir habe ich mir in mein Bewusstsein vergraben, dass meine Sehnsucht, meine Träume meine bunten Gläser sind, durch die ich das Leben betrachte - und ich möchte es genau so betrachten. Vielleicht kann ich mir nicht alles in meinem Leben erfüllen, vielleicht wird es Träume geben, die niemals sterben und dennoch immer Träume bleiben. 
Vielleicht werde ich niemals die Welt entdecken.
Vielleicht werde ich niemals in ein Haus am Meer zurückkehren, in dem die alten Holzdielen knarren und wo es nach eingekochten Johannisbeeren duftet.
Vielleicht werde ich die Gelegenheit verpassen, Menschen zu sagen, dass ich sie liebe und es mir genügt, sie bei mir zu wissen, ganz gleich, wo auch immer sie sein mögen.
Vielleicht werde ich nie wieder Ja zu jemandem sagen, aber vielleicht werde ich das tun, wenn ich über siebzig Jahre alt bin - nur um mir dann ein Kleid anzuziehen, das ich mir immer gewünscht habe, aber nie bezahlen konnte. Doch mit siebzig besitze ich vielleicht ein paar Extra-Groschen und dann lade ich nur Freunde und Freundinnen ein, keine Paare, weil sich alle Singles auf so einer Hochzeit richtig scheiße einsam und unbeachtet fühlen - und bei mir soll sich verdammt noch mal niemand einsam fühlen müssen. Es gäbe süßen Kuchen und Weißwein, ganz viel Musik und die Luft wäre erfüllt von Lachen, Stimmengewirr, ein bisschen Tratsch und hier oder dort findet sich, was sich finden soll - und selbst wenn nicht, geht man am Abend beschwingt auseinander mit dem Gefühl, einen wundervollen Abend verbracht zu haben...
Ja wie gesagt... Vielleicht wird es so sein, vielleicht wird es nie so sein. Vielleicht erreiche ich mein Ziel, einhundertvier Jahre alt zu werden, vielleicht stürze ich schon morgen von der Treppe und breche mir dieses Mal nicht den Arsch, sondern den Hals. Und dann?Wie viel von dem habe ich dann vom Leben gekostet, wenn ich brav jeden Groschen sparte und nicht verschenkte? Wie viel Genuss ist mir dann geblieben, wenn ich jeden Schritt in meinem Leben verplane? Mich an Pläne halte, während ich mein Leben verpasse?
Vorgesorgt? Ja, habe ich. Vielleicht kann ich mir davon kein Schlösschen bauen - aber was wissen wir schon, was schon morgen ist?
Ich fühle mich tatsächlich wie ein zehnköpfiges Wesen, in jedem Kopf ein Traum, ein Wunsch, eine Vorstellung, ein Ziel. Doch vom Ehrgeiz zerfressen bin ich nicht - und das war ich auch nie. Ich bin niemand, der höher, schneller, weiter muss. Ich bin jemand, der gemächlich, aber trotzdem sein Etappenziel erreicht, gemütlich ein Buch aufschlägt und eine Tasse Kaffee dazu trinkt, bevor er sich entschließt, noch ein Stück weiterzugehen oder die Richtung auch ganz zu ändern.
Etwas anderes kann man aus mir auch nicht machen. Das wäre dann nicht mehr ich.
Aber ich verstehe, dass es nicht einfach ist und es auch nicht einfach macht mit mir, wenn man einen anderen Rhythmus hat.

7 Kommentare:

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Helma, warum um alles in der Welt willst du nun gerade 104 werden? Was erscheint dir daran so erstrebenswert? Ich merke ja jetzt schon ziemlich deutlich, wie es mit verschiedenen Sachen deutlich bergab geht.
Mir erscheint eine satte 85 vollkommen ausreichend - schade, wenn ich wirklich in diesem Alter gehe - nicht nur aus der Bloggerlandschaft, sondern überhaupt - kann ich nicht mehr überprüfen, ob du deine 104 schaffst.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Ich hab keine Ahnung, Clara. Vielleicht will ich damit nur zum Ausdruck bringen - auch vor mir selbst - dass ich gerne alt werden möchte, sofern es mir möglich sein wird, mein Leben bis dahin auch soweit genießen zu können, ohne Siechtum, ohne Pflegeheim und all den Kram.
Aber das... hat man wohl nicht in der Hand.
Eine satte 85... Ich weiß nicht, ob mir das genügen würde? In diesem Alter hat meine Großmutter uns noch besucht und zu meinem Vater gesagt: "Wie siehts aus, eine Runde Rommé? Wollen wir ein Pfeifchen dazu rauchen? Und hast du auch nen Kognak da?"
Sie ist 2005 gestorben, nach einer OP am Herzen, die wohl nicht ganz korrekt abgelaufen ist, wenn ich an das denke, was meine Mum mir damals erzählte.

~ Clara P. ~ hat gesagt…

Liebe Helma, ich finde, ein gemächliches Voranschreiten gar nicht so schlecht - so hat man noch Zeit, am Wegesrand die Blumen und überhaupt das Leben um sich herum zu betrachten. Was bedeutet schon "höher*schneller*weiter"? Jeder Mensch hat sein Tempo und ich finde es immer schade, wenn jemand so durchs Leben rast. Stehenbleiben und einfach verweilen, geniessen usw. - das ist doch viel schöner. Finde ich jedenfalls.

104 ist ein tolles Alter - ich hab mal irgendwann gesagt, ich werde 108. Und warum auch nicht? Nicht jeder ältere Mensch landet im Altenheim und wird furchtbar krank. Ich kenne ältere Leute, die sind mit 90 noch zum Marathon gestartet und irgendwann eigentlich nur gestorben, weil der liebe Gott wohl da oben Verstärkung brauchte. Also wenn ich bis ins hohe Alter fit und fröhlich bleiben kann - immer gerne.

Liebe Grüsse!

Goldi hat gesagt…

Entschleunigend genießen.... Das ist so wertvoll. Dazu gab es gestern eine sehr interessante Diskussion bei Herrn Precht.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Clara, ja das ist es, was ich immer sage: Jeder Mensch kann nur in seinem eigenen Tempo gehen. Ich habe noch nie in meinem Leben großartig geplant und schon gar nicht auf lange Sicht. Natürlich habe ich Vorstellungen und Ideen und nicht alle werden auf die lange Bank geschoben. Nichtsdestotrotz fällt es mir wesentlich leichter, auf Veränderungen zu reagieren, andere Wege zu gehen: Wenn der eine nicht klappt, dann eben ein anderer.

Liebe Goldi, bei Deinen Worten "entschleunigend genießen" fiel es mir wie Schuppen vor die Augen: Vor wenigen Jahren war ich so gestresst und unter Druck, dass ich kaum noch dazu kam, mein Leben zu genießen. Zwar habe ich meine Etappenziele erreicht und sie auch bewusst wahrgenommen - doch sie wirklich genossen habe ich nicht. Und dieses Nichtgenießenkönnen hat mich fast mehr geschmerzt als geplatzte Seifenblasen.
Jetzt lebe ich seit fast einem Jahr schon hier in M, ich bin vielleicht noch nicht angekommen - aber ich bin zur Ruhe gekommen. Ich kann mich wieder spüren. Mich, wie ich wirklich bin, wonach mir wirklich ist und wonach auch nicht. Auch genau deshalb bin ich unendlich dankbar für dieses Arbeitsmodell, für diese Möglichkeit. Sicherlich könnte ich entschieden mehr Geld verdienen, würde ich jetzt auch hier vor Ort arbeiten - und mir damit Geld zur Seite legen für eben dieses Haus mit den.. na Du weißt schon. Was ich mich jedoch immer öfter frage: Was ist mir JETZT wichtig? Was will ich JETZT für mich tun? Ich denke natürlich nicht nur an mich, denn zu einem Miteinander gehören mindestens 2 Menschen. Dennoch habe ich mich selbst so viele Jahre vernachlässigt, dass ich mich nicht krankhaft eigensüchtig finde, wenn ich mir die Zeit nehme und lasse, die ich jetzt auch brauche.

planet112 hat gesagt…

Etappenziele, genau. Geniessen was sich bietet .. Ein intensiver Text, der in mir noch nachwirkt.

Matilda hat gesagt…

2003 war meine zeit auch noch nicht gekommen, als ich mit 80 km/h mit dem Auto unter einen mir die Vorfahrt nehmenden Langholzlaster gerutscht bin. Erkannt, wie viel Glück ich hatte - oder wie gut der Job war, den mein Schutzengel gemacht hat - habe ich das ganze erst Tage später.

Inzwischen bin ich dankbar für mein Leben, meinem Mann, selbst für meinen Job. Auch wenn der aufreibend ist. Auch wenn man es nicht glaubt - ich mag mein Leben.

Und ich bin froh, das ich es leben kann.