Mittwoch, 21. Dezember 2016

Es liegt immer nur an uns. Aber wie nun weiter?


Schon den halben Abend sitze ich irgendwie ratlos vor dem Bildschirm, ohne etwas geschrieben zu haben, ohne etwas zu tun, die Musik läuft leise, im Raum hängt noch der Duft des Abendessens. Die Jungs liegen satt und irgendwie zufrieden auf ihren Betten, schauen fern oder hängen an ihrem Telefon.
Ich scrolle mich wahllos, rastlos durch die Posts der abonnierten Blogs, lese nicht, überfliege nur, finde nichts, das mich heut Abend irgendwie.. einfängt. Mitnimmt. Irgendwohin.
Ich scheue mich davor, Nachrichten zu schauen, Nachrichten zu lesen, ganz gleich wo.

Ich wurde geboren in einer Welt, in der den Menschen das Denken abgenommen, sie des Denkens entwöhnt wurden - oder es werden sollten. In einer Welt, in der wir auf die Schulbänke die Frage ritzten: "Wie soll man eine Weltanschauung haben, wenn man sich die Welt nicht anschauen darf?"
In einer Welt, in der Atlanten herausgegeben wurden mit - nun sagen wir - neu definierten Ländergrenzen, die eben nur in diesen Atlanten existierten. In einer Welt, in denen Eltern die Kinder genommen wurden, sobald sie den Mut aufbrachten, ihre Fragen laut zu stellen und zugleich auch Antworten zu bewerten, zu hinterfragen.
Eine Welt, die zugleich aber auch eine scheinbare Sicherheit suggierte. Eine Sicherheit, das einem nichts wirklich passieren konnte, wenn man nur den Mund hielt und nicht wirklich nachdachte.
Der Weg schien klar. Man wird geboren, geht zur Schule, geht arbeiten, geht in Rente, stirbt, das wars. Friedlich und unaufgeregt.
Doch dann öffneten sich die Grenzen.
Tausende verließen ihr Zuhause.
Weg, nur weg.
"Ich geh hier nicht weg. Was soll  sonst hier werden, wenn wir alle abhauen?"
Mein damaliger Mann konnte mir diese Frage nicht beantworten, doch weil ich mich weigerte zu gehen, blieb auch er. Und wir schauten auf diese neue Welt, die sich uns eröffnete. Richteten uns darin ein. Uns war bewusst, wie viel Glück wir tatsächlich hatten..
Und irgendwann begann ich mich zu interessieren. Hörte genauer hin, genauer zu, schaute genauer hin. Weiß ich deshalb heute mehr? Nein, das tue ich nicht. Ich vermag vor allem.. inzwischen nicht mehr zu unterscheiden, was kann ich glauben, was ist ein Fakt, was ist ein Fake? Bin ich nun zu müde oder ist es zu schwierig geworden, Wahrheiten ausfindig zu machen? Die Welt ist voller Realisten, und jeder von ihnen geht davon aus, es sei so wie er es wahrnehme. Jeder von ihnen glaubt, er habe genug gelesen, sich genug interessiert.
Und hier steh ich. Und hab so viele Fragen. So viel Angst. Und immer noch.. Hoffnung.

Beinah möchte ich lachen über eines der ersten Statements aus der Politik zum gestrigen Abend, aber es wäre ein bitteres, ein zynisches Lachen - und eins, das mich selber glauben ließe, es gäbe ja doch keine Hoffnung mehr.
Und während die einen sich diesen Worten öffnen und Wählerstimmen "abwandern", wollen die anderen ausnahmslos ihre Arme öffnen.
Und hier steh ich. Und ich hab Angst. Vor dem, was kommt. Vielleicht. Ich frage längst nicht mehr, ob, ich frage mich, wann? Rund 23 Jahre existiert die EU, existieren offene Grenzen innerhalb Europas, innerhalb der Staaten, die in die Gemeinschaft aufgenommen wurden. Wir haben die Vorzüge gern angenommen und über anderes großzügig hinweggesehen. Wir haben die Kriege wahrgenommen, die in Jugoslawien, die im Irak, die in Afghanistan, wir haben gegen die Kriege demonstriert; es wurden Kerzen für Paris, für London, für New York, für Brüssel, München, Berlin und Frankreich angezündet. Profilbilder wurden farbig markiert, um "Flagge" zu zeigen.
"Ich mag solche Kettennachrichten nicht", schrieb ich erst heute via whatsapp, nachdem auch mir auf diese Weise so ein Bild zugeschickt worden war. "Ich glaube die Message dahinter nicht. Erschütternd ist das, was passiert ist, in jedem Fall. Das ganze Morden, diese grausame Brutalität, manchmal kann ich das kaum noch aushalten.. Dann will ich einfach nur noch ganz weit weg sein [...] Es ist soviel Hass unter den Menschen, ich frag mich, was ist mit der Liebe?"
Hier steh ich. Und frage mich: Was kommt wann? Was ist letztlich noch möglich, um aufzuhalten, dass wir uns alle gegenseitig an den Hals gehen? Wie viel kann ich bewegen, bis wohin kann ich mich bewegen?
Habe ich wirklich geholfen, indem ich Tausende Menschen aufnehme, die vor einem Krieg fliehen, den wir selber mit befüttern, ganz egal, auf welche Weise? Habe ich damit nicht eher nur mich selber beruhigt?
Seit 23 Jahren gibt es die EU, noch länger gab es Kriege - und nun kommen Millionen von Menschen? Tatsächlich mit einem Mal - oder doch schon lange angekündigt und nur zu lange ignoriert?

"Friedliche Zeiten sind eine Ausnahme. Nicht die Regel.
Aber es liegt an uns und wie wir uns einbringen werden, ob wir aus der Ausnahme eine Regel machen können."


Lese ich heute hier.
Nicht zum ersten Mal lese ich solche Aussagen.
Aber keiner sagt, WIE das geht. Keiner sagt, WIE kann ich mich einbringen? Nicht die AfD wählen - ja, aber das allein ist es  ja nicht.
Nicht zum ersten Mal stelle ich solche Fragen.

Als ich mich gestern Vormittag auf den Weg nach L machte, habe ich entgegen der letzten Wochen kein Radio gehört, nur Musik aus meiner eigenen Playlist. Ich sah nichts "anderes", ich hörte nichts "anderes". Ich fühlte mich ganz gut, es ging mir ganz gut soweit, die Sonne schien, alles schien friedlich. Von Berlin erfahre erst am späteren Abend. Es ist, als käme ich aus der einen Welt in eine ganz andere.
Beinah ist es wie ganz früher.

4 Kommentare:

Goldi hat gesagt…

:-* mehr Worte finde ich gerade nicht.

gretel hat gesagt…

Es gibt wohl nicht DIE Wahrheit, es gibt viele Perspektiven und eigentlich sollte man sich immer irgendwie in der Mitte treffen. Sorge macht mir, dass momentan alle Seiten so komplett irre auf ihrer eigenen Wahrnehmung bestehen. Kriege gab es immer und wird es immer geben, aber diese Kleinkriege innerhalb der Gesellschaft - die scheinen mir heute extrem ausgeprägt.
Und gut gemeint ist eben nicht immer auch gut gemacht. Ich bin ein großer Fan der europäischen Idee, muss mir aber eingestehen, dass sie auf diese Art und Weise wohl nicht funktioniert hat.
Ob ich wollte oder nicht, bin ich in eine Familie geboren worden, die sich - wenigstens väterlicherseits - keine Sekunde dem damaligen System unterworfen hat. Das war anstrengend und gefährlich. Zum Glück war mir das als Jugendlicher nicht so bewusst. Geprägt hat es mich trotzdem. Wie weiter? Keine Ahnung. Vielleicht die kurze Zeit hier als Erdengast für sich optimal nutzen, möglichst ohne anderen damit zu schaden - wäre schon mal eine Option.
Liebe Grüße

Herr MiM hat gesagt…

"Aber keiner sagt, WIE das geht. Keiner sagt, WIE kann ich mich einbringen?"

Das ist der Pferdefuss der Freiheit, dass sie einen überfordern kann, weil man zu viele Wahlmöglichkeiten hat.

Wie das geh? Es ist einfach, aber Sie werden einen hohen Frustionslevel brauchen.

Es fängt damit an, dass Sie Ihre Werte leben, für die Sie stehen. Gründen Sie eine Familie, geben Sie Ihre Werte weiter. Geben Sie mehr zurück als Sie bekommen haben. Bleiben Sie kritisch. Hinterfragen Sie alles. Akzeptieren Sie nicht alles was man Ihnen vorgibt. Engagieren Sie sich. Suchen Sie sich eine Partei, die Ihnen am nächsten kommt. Arbeiten Sie, und wenn es nur zwei 2 Stunden in der Woche sind, ehrenamtlich. Wenn Sie keine Zeit haben, verzichten Sie auf eine Schachtel Zigaretten im Monat und stecken das Geld in ein Projekt oder eine Organisation, die Ihnen wichtig ist. Ärzte ohne Grenzen, Amnesty International, Reporter ohne Grenzen. Schalten Sie den Fernseher aus und werden Sie in einem Thema, was Ihnen wichtig ist, zum Spezialisten, in dem Sie jeden Tag 30 Minuten lang etwas dazu lesen.

Ich kann Ihnen hier eine Stunde weitere Beispiele herunterschreiben.

Nicht nur darüber reden. Machen... Sie müssen etwas tun. Nur vom Reden wird sich nichts ändern. Einen Post oder Tweet schreiben reicht nicht.

Das wird Sie alles sehr viel Zeit kosten. Das wird streckenweise sehr frustrierend sein. Aber... irgendjemand muss anfangen.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Ihr Mädels - danke!

Herr MiM - danke! Nein, ein Posting egal wo hilft insofern nicht - gleichwohl kann ich auch über diesen Weg etwas abgeben, vermitteln; das, was ich im Dialog auch meinen Söhnen vermittle. Den Menschen in meinem Umfeld. Den Menschen auf meinem ganz persönlichen Schlachtfeld. Darüber sprechen.. muss man auch - dann und wann.
Irgendwie bin ich heut Abend weniger angespannt. Vielleicht ist es ja doch gar nicht so wenig, das ich bereits tat, lebte, tue und lebe.