Sonntag, 26. Februar 2017

2009


irgendwann einmal hatte sie es ihm versprochen: “ich kümmere mich um mich.” und so geht sie eine zeitlang regelmäßig zu den anonymen emoholikern, wie sie das scherzhaft ausdrückt. “wir haben kein problem mit dem trinken, aber ein problem mit unserem gefühlsrausch”, so hat sie es mal gesagt und ob ihr diese einzelnen stunden etwas bringen oder nicht, das vermag sie nicht einzuschätzen. sie setzt sich dazu, sie hört zu, sie äußert sich kaum, schweigt meist und saugt aber dennoch alles auf, das hier gesagt oder getan wird.
manchmal weiß sie nicht einmal, wofür sie es tut. sie hat es ihm versprochen, also tut sie es. manchmal, wenn sie lieber malen oder ein buch in der sonne lesen will, dann ruft sie an und meldet sich krank, murmelt etwas von durchfall – diese ausrede zieht immer, solange sie sie nicht missbraucht.
und dann findet sie sich auch schon wieder, inmitten der bekannten gesichter, eigentlich sind es immer dieselben, die sich hier zusammenfinden, voneinander berichten und die froh und irgendwie auch dankbar sind, dass ihnen wenigstens hier jemand zuhört. geduldig. abwartend. und vielleicht mit ein paar worten, die helfen sollen, ein wenig klarheit in die eigenen gedanken zu bringen, die sich gern verstricken, wenn man sich zu lange selbst nur im kreise dreht.
“erzähl doch von dir mal etwas”, wird sie aufgefordert und sie scheut sich. wie sie das immer tut. manchmal will sie einfach nicht reden, nichts von sich preisgeben, oft aber empfindet sie ihre eigene welt als zu klein gegen das, was die anderen mit sich bringen.
“wo hat die denn überhaupt ein problem?” bricht in diese gedanken die stimme einer älteren, scheinbar resoluten frau, die ihr herbes wesen mit zuviel schminke und zu enger kleidung feminin betonen möchte. “seht sie euch doch an! sieht so jemand aus, der probleme hat? der ernsthaft sorgen hat?”
sie spürt, wie etwas in ihr in bewegung gerät, gleich dem pendel einer uhr, hin und her, hin und wieder her; sie spürt, wie sie eine unruhe überkommt, doch noch ist sie äußerlich vollkommen ruhig, noch sagt sie nichts und fühlt sich wie gelähmt von den worten dieser anderen frau: “sie ist doch noch jung, sie ist gesund und sie sieht auch gesund aus. und hier, hier sind leben, die am seidenen faden hängen. leben, die täglich darum kämpfen, überhaupt aus dem haus gehen zu können. das sollten wir bereden!”
erinnerungen kommen in ihr hoch. bilder. worte.
sie spürt das zittern in ihrer stimme, noch bevor es in den körper übergeht, und dann beginnt sie leise, aber deutlich zu sprechen: “ich habe sicherlich nicht so etwas durchgemacht wie du oder sie oder ihr alle. ich will mich auch nicht mit euch vergleichen oder gar an euch messen. aber auch ich habe dinge erlebt, die für mich zur belastung geworden sind. es gibt immer etwas, das noch schlimmer ist, und doch kann ich mich nicht immer nur am schmerz oder problem eines anderen menschen messen. denn davon wird mein eigenes nicht kleiner, nicht geringer. es mag sein, dass es mich erdet, ja, das tut es. aber helfen tut es mir nicht. ich weiß, wie es ist, in einen raum eingeschlossen und verletzt zu werden. wie es sich anfühlt, machtlos und vollkommen wehrlos zu sein. ich weiß, wie es ist, wenn du von einem mann verfolgt wirst, der dich zwingen will, mit ihm zu gehen, der dich zwingen will, ihn überall anzufassen. der vor dir steht mit heruntergelassener hose und seinem penis in der hand. noch heute wache ich manchmal auf und spüre seinen gehetzten atem in meinem nacken, sehe ich seine hände, die nach mir fassen wollen, höre ich seine schritte, wie er mich durch den park hetzt. ich war ungefähr neun jahre alt. noch heute habe ich angst im dunkeln und meide jeden platz und jeden raum, in dem ich mich allein und schutzlos fühle. noch heute kommen immer wieder diese alpträume, in denen man mich jagt, mich packt, in denen man mir ein messer durch die haut stoßen oder meine knochen zerbrechen will, sobald ich mich auch nur irgendwie wehren oder um hilfe rufen wollte.
ich hatte diese alpträume schon als kind und auch schon vor vor diesem erlebnis mit diesem mann und kann nicht sagen, ob und was ich da vielleicht noch verdrängt habe.
auch ich habe schon momente erlebt, nach denen ich am fenster stand und dachte: wenn du dich jetzt einfach nur rausfallen lässt, dann ist endlich alles vorbei, niemand kann dir mehr weh tun, du wirst nie mehr schutzlos sein. vielleicht geht es mir heute noch immer besser wie dir, das mag sein. vielleicht sehe ich gesünder aus als du, auch das mag sein. aber ich komme hierher, weil ich angst habe, weil mir mein körper weh tut, weil ich nachts nicht schlafen kann. ich will endlich ruhe finden, ich will, dass es endlich aufhört und dass das nicht mein leben beherrscht, sondern ich mein leben. weil ich genießen will, was ich habe, bevor es mich vielleicht verlässt, ohne dass ich je wirklich erfahren hab, wie viel mir wirklich geschenkt wurde. ich habe angst, meinen partner zu verlieren. jeder mensch leidet für das, was er erlebt hat, und jeder mensch leidet auf seine weise. mag sein, ich sehe nicht krank aus. doch wie es mir wirklich geht, das wissen die wenigsten, und ich muss niemandem beweisen, wie schlecht es mir geht. ich muss es euch und auch sonst niemandem zeigen, wie es in mir wirklich aussieht und was geschieht, wenn ich abends allein bin. ich muss nichts sagen und nichts zeigen, weil es euch nichts bringt und mir nichts hilft.”
eine weile ist es ruhig und niemand sagt ein wort. in ihrer stimme lag bis zuletzt jenes zittern, das ihre innere unruhe ausdrückt, ihre augen haben einen punkt an der wand fixiert, damit sie niemandem in das gesicht schauen musste. ihre finger umkrampfen das taschentuch, zerreißen es in tausend kleine stücke und sowohl dies als auch ihr fuß, der hin und her wippt, zeigen, wie angespannt sie ist.
“es ist gut so”, sagt eine andere frau, “und es ist wahnsinn, wie du dich ausdrückst und dich damit positionierst. wie du dein recht einforderst. so soll es auch sein.” sie schaut diese frau an, doch ihr blick schweift ab, kann sich auch später auf dieses gesicht nicht mehr besinnen. da ist es wieder, dieses gefühl der abwertung: was hast du schon für kummer, was hast du schon für sorgen? gefühle, die ihr schon seit der kindheit so gut bekannt sind.
und so kehrt es wieder. und immer wieder. es zerfrisst sie. dieses gefühl, nicht genug zu sein. dass das, was sie ist und was sie ausmacht, nicht ausreicht, um sie lieben und annehmen zu können. dass sie erst tun und leisten und geben muss, nur damit sie überhaupt erst einmal wahrgenommen wird.
was kann sie schon auch entgegensetzen, wenn ein mensch sagt: “hier hängt ein leben an einem seidenen faden”? 
sie verlässt den raum nach dieser stunde und sie weiß, dass sie nicht wiederkommen wird. ganz gleich, was er sagen wird. sie wird es nicht mehr tun. es muss einen anderen weg für sie geben. sie wühlen und stochern ergebnislos in ihrer seele, in ihren erinnerungen und am ende bleibt sie nicht nur mit diesen "offenen, zerwühlten schubladen" zurück, sondern auch mit diesem gefühl, dass sie sich möglicherweise… einfach nur ihr ganzes leben lang "sinnlos angestellt hat".


“Sie sind ein Mensch mit ausgesprochen feinen Antennen. Und mit ausgeprägten Emotionen, sowohl im positiven als im negativen”, so hörte sie es in einer der vielen Stunden mit ihrer Ärztin. “Sie haben nur im Lauf der Jahre gelernt, diese Emotionen zu kontrollieren und auch, wenn es Ihrer Meinung nach nicht passt, zu unterdrücken oder auch hintenanzustellen. So etwas passiert, wenn das nahe Umfeld für die Gedanken und Gefühle eines Kindes und später eines erwachsenen Menschen keine Zeit und keine Geduld hat.”
Sie ist also ein kontrollierter Emo-Gnom. So zumindest hatte sie in jener Stunde diese Auslegung zusammengefasst.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Sprachlos. Und innerlich auch ein bißchen zitternd. Ich drück deine Hand.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Ich dank Dir.
Gestern hab ich einen fremden Blogpost gelesen und da kam bei mir alles wieder hoch. Ich hatte das ja schon mal woanders geschrieben, in einem ganz anderen Rahmen, von dem ich immer sagte, teils authentisch, teils fiktiv. Dieser Teil hier gehört zu den absolut authentischen. Damals, 2009, habe ich eine kurze Zeit lang ein echtes Tagebuch geführt.