Man sagt immer, das Beste, das man je hervorgebracht habe, seien das Kind oder die Kinder. Ob man so weit gehen kann, das zu sagen, weiß ich gar nicht, denn das würde ja bedeuten, dass man ohne Kinder nichts Wirkliches "erschaffen" könnte..
Und eigentlich hatte ich mir vorgenommen, ab diesem Jahr keine "offenen" Briefe mehr an Dich und Deinen Bruder zu schreiben. Ihr wisst auch so, dass ich Euch liebe, und das ist im Grunde ja auch das Wichtigste.
Dennoch...
Gestern Abend haben wir auf dem Sofa gelümmelt, beinah wollten uns immer wieder die Augen zufallen, dem Mann und mir, und dann klickten wir uns in die Filmdatenbank und kamen so zu "The Third Person". Ein Film mit anfangs parallelen Handlungssträngen, die scheinbar erst mal nichts miteinander zu tun haben. Und die am Ende auch völlig anders miteinander verknüpft sind als wir zunächst annahmen..
Nur eines bleibt all den Handlungssträngen gleich: die Verbindung zwischen Eltern und Kind.
Der Verlust, gleich welcher Art.
Ich habe dabei an Dich gedacht, einmal mehr. Im Ohr noch den wunderbar entspannten Klang Deiner Stimme vom Telefonat ein paar Augenblicke zuvor. Selten erlebe ich Dich so entspannt, so gut aufgelegt. Noch weißt Du nicht offiziell, dass Dein Weg in ein paar Wochen endet und woanders langführen wird. Offen gestanden, mich bringt neben all der aktuellen Schmerzproblematik vor allem das um den Schlaf in der Nacht. Weil ich vor allem nicht einschätzen kann, was es mit Dir macht. Seit jener Nacht vor wenigen Jahren, in der Du mir Dinge anvertrautest, die sonst niemand von Dir weiß, sind wir uns nicht nur näher als sonst, habe ich auch viel mehr Sorge um Dich.
Ruhlos wälze ich mich nun hin und her, vor meinen Augen laufen Gespräche ab, die geführt wurden und möglicherweise und auch sehr wahrscheinlich in der nächsten Zeit geführt werden.
Wenn es ein Mensch verdient hat, um seiner selbst willen angenommen, respektiert und nicht mehr herumgeschubst zu werden, dann bist es vor allem Du. Du mit Deiner wunderbar einfühlsamen, sensiblen Seele, der es schwer fällt, sich auf Neues einzustellen, sich hineinzufinden - und dann aber in Ruhe verlässlich seine Bahnen zieht. Wer Dich zum Freund hat und Dein Vertrauen nicht enttäuscht, der kann sich Deiner absoluten Loyalität sicher sein. Der hat einen Freund fürs Leben.
Von Klatsch und Tratsch hältst Du nichts, Du kümmerst Dich nicht um das Leben anderer; es sei denn, jemand könnte Deine Unterstützung brauchen. Dann gibst Du alles und vergisst gerne dabei auch Dich selbst.
Vor einigen Tagen las ich in einem anderen Blog von 27jährigen mit Bambiblick und was man von ihnen hielte. Und ich fragte mich, was jene Menschen wohl über Dich gesagt hätten oder sagen würden. Wie sie Dich sehen würden. In vier Tagen wirst Du 27.
Erst vor kurzem ging mir durch den Kopf, wie das alles so war, seit Du auf die Welt gekommen bist. So ein unfassbar wissbegieriges, entdeckungsfreudiges Kind. Du wolltest alles immer ganz genau wissen und Du hast so lange nicht aufgehört zu fragen, bis Dein Wissensdurst gestillt war. Du warst so herrlich offenherzig, zutraulich, so dass ich manchmal auch befürchtete, es wäre ein leichtes, Dich zu entführen und mir wegzunehmen, weil Du einfach nie glauben oder Dir vorstellen konntest, dass es auch Menschen gibt, die es nicht gut mit einem meinen. Dein Vater hat oft geäußert, Du würdest ein Mitläufer sein oder werden, einfach um dazuzugehören, aber irgendwie wusste ich immer: Nein, Du nicht. Du siehst mir nicht nur ähnlich, Du bist mir auch sehr ähnlich.
Man glaubt schnell von Dir, Du seist so ruhig und still und so anpassungsfähig, dass man es leicht mit Dir hätte. Aber weit gefehlt. Du hast absolut Deinen eigenen Kopf und Du tust nichts, wovon Du nicht selber überzeugt bist.
Du hast sehr viel durchgemacht, viel mehr, als ich weiß. Daran liegt es, dass Du heute niemandem mehr vertraust und es auch lange dauert, ehe Du Dich öffnest.
So wie Du mir lange nicht verziehen hast, warum und dass ich mich von Deinem Vater getrennt hatte. Du wolltest damals lieber bei ihm bleiben und hast fast ein Jahr lang kaum mit mir gesprochen. Und wenn, dann war Deine Ablehnung in jedem Satz, in jedem Klang spürbar. Bis zu jenem Abend, den ich Dich zu mir an den Küchentisch gebeten habe. Ganz in Ruhe mit Dir sprach. Nein, ich habe nicht versucht, Dir Dinge zu erklären, die Du nicht wissen wolltest, und ich habe auch nicht versucht, Dich von mir und meinem Weg zu überzeugen.
Aber ich habe deutlich gemacht, was ich mir für uns drei wünschte: ein Miteinander, ein Zusammensein, einen respektvollen Umgang ohne Kraftausdrücke - oder Du solltest mir offen sagen, dass Du nicht mehr zu mir kommen wolltest. Dann haben wir beide nichts mehr gesagt, Du hattest Deine Hände in Deinem Schoß liegen, dann bist Du aufgestanden und zu Deinem Bruder gegangen. Ich habe noch ewig in der Küche gesessen und heimlich geweint.
Von da an war alles anders zwischen uns. Du bist immer öfter zu uns gekommen und immer länger geblieben und eines Tages bliebst Du einfach ganz bei uns.
Wenn Du etwas auf dem Herzen hast oder nicht weiter weißt, rufst Du zuerst bei mir an.
"Sie sind seine wichtigste Bezugsperson", hat Deine Therapeutin erst im Dezember zu mir gesagt.
"Mir wird oft vorgehalten, dass ich viel zu weit weg bin."
"Ja, das hat mir Ihr Sohn auch schon erzählt und mich macht das ganz wütend. Sie sollen ja nicht auf ihm hocken, er muss ja sein Leben auch selber lernen zu leben. Für jemanden da sein, heißt ja nicht, sein Händchen zu halten."
Sie kennt mich, ich war selber lang genug bei ihr. Deswegen auch glaubte ich Dich von Anfang an in guten Händen bei ihr.
Mein Junge, wenn ich Dich heute umarmen will, muss ich mich auf die Zehenspitzen stellen, und dabei bin ich auch nicht gerade klein. Und wenn ich Dich zur Begrüßung oder zur Verabschiedung umarme, verdrehst Du die Augen und lächelst: "Jetzt geht DAS wieder los."
So wie ich immer die Augen verdrehe, wenn ich erlebe, wie unfassbar chaotisch Du in Deinem eigenen Reich bist und wie wenig glücklich Dein Händchen für Technik ist. Ich habe inzwischen aufgehört zu zählen oder mich aufzuregen, wie viele Handies, Kopfhörer und sogar Fernsehgeräte Du verschlissen hast. Ich bin mir fast sicher, dass es nicht an fehlender Wertschätzung liegt, denn das meiste ersetzt Du Dir selbst von Deinem knappen Geld. Du bittest auch nur um Hilfe, wenn es gar nicht mehr geht, und so dankbar Du auch für finanzielle Unterstützung bist: Eigentlich willst Du es nicht. Du willst auf eigenen Beinen stehen, Dein eigenes Geld verwalten und davon sparen. Du willst selbständig sein und selbständig leben und Du willst nicht, dass man Dir ständig vorschreibt, wie das auszusehen hat.
Deine Oma und ich, wir haben es immer getan und wir glauben auch heute an Dich. Wir wissen, dass Du in vielen Dingen Zeit brauchst, mehr als andere, aber wir wissen auch: Du gehst Deinen Weg, unbeirrbar. Wie eine Lehrerin es von Dir einst sagte: "Er ist wie ein Motor, der ganz langsam anläuft. Aber wenn er dann einmal läuft, ist er nicht mehr aufzuhalten."
Und ich erinnere mich an Deinen praktischen Lehrausbilder, der über Dich sagte: "Diesen Jungen gebe ich nicht auf, der ist mir zu wertvoll."
Mehr als zuvor wünsche ich Dir Menschen, die genau das in Dir sehen, was Du auch wirklich bist, die genau das wertschätzen, wie Du bist - und bei denen Du ankommen darfst.
Und manchmal, wenn ich bei Dir bin und wir uns gegenüberliegen, abends beim Fernsehen, Du auf Deinem Bett, ich auf dem Sofa, dann betrachte ich Dich, sehe Deinen fragenden Blick und Dein Lächeln mit den herrlich tiefen Grübchen, und dann weiß ich: Du bist mit Deinem Bruder das Beste, das ich je hervorgebracht habe.
4 Kommentare:
Das ist so schön geschrieben. Dankeschön
♥ bitte höre niemals auf Deinen Jungs solche Briefe zu schreiben (und manchmal sie zu veröffentlichen)
Chapeau ♥
Das hast du wunderbar und sehr liebevoll geschrieben.
Und siehste (bezogen auch auf deine Frage bei Annika): Solche Texte wird es bei mir leider nie geben, weil der Junior strikt dagegen ist, dass ich über ihn schreibe und das respektiere ich natürlich. ;)
Ich danke Euch. Im Moment ist das alles grad nicht so einfach.
Anna, ich hatte es grad in Deinem Blog kommentiert, aber ich bin mir gar nicht mehr sicher, ob der 1. Teil des Kommentars verschluckt wurde??
Schreiben bzw. Bloggen soll doch einfach nur Spaß machen und ich finde es tatsächlich einfach nur noch ermüdend, dass man sich derzeit gefühlt ständig für seine Inhalte rechtfertigen muss. Wer mit was nicht klar kommt oder was nicht mag - na und, dann lese er den Blog einfach nicht. Da muss man doch nicht seitenweise Monologe abhalten und darüber sinnieren, wie authentisch jemand ist, bloß weil er eben nicht alles von sich erzählt.
Ich finde, dass es das auch nicht braucht. Die Menge an Persönlichem macht Authentizität nicht aus. Ich zB lese und mag überhaupt keine Beauty-/ Mode- SchnickSchnack-Blogs - aber Dir zB kaufe ich jeden Deiner Artikel ab. Weil ich zumindest das Gefühl habe, dass Du mir nicht irgendwas verkaufen willst, sondern einfach nur Deine Meinung zu etwas mitteilst.
Und dass Du zu dem auch stehst.
Herr Blau will auch hier nicht "auftauchen", das respektiere ich ebenso. Die kleinen Alltäglichkeiten, die ich dann und wann andeute, gehen grad noch so durch die Zensur ;)
Und meine Jungs sind da ganz entspannt, wie gesagt, sie kennen meinen Blog, sie lesen ihn aber nicht - außer zu ihren Geburtstagen ;)
Kommentar veröffentlichen