Dienstag, 31. Dezember 2019

Goodbye and Hello

Es ist das zweite Mal während meines ganzen bisherigen Bloggerlebens, dass ich einen Post am Handy verfasse. Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen, aber dieser Post wird dann wohl doch kein langer. Ausdauer gehört nicht wirklich zu meinen Eigenschaften.
Wobei... Vielleicht kommts auch einfach nur auf die Thematik an?

Die letzten Tage des Jahres, so hatten wir uns kurz entschlossen, werden wir nicht daheim verbringen. Nicht dort, wo Bars hoffnungslos überfüllt sind oder mir wieder eine Rakete ins Gesicht fliegen kann. (Ich gestehe, die um sich greifenden Verbote, zumindest in Stadtzentren für diese sowieso blöde Böllerei, findet bei mir schon seine leise Anerkennung.)
Nicht dort, wo man krampfhaft versucht, nicht vor Zwölf einzunicken und auch nicht zum Millionsten Mal dem besoffenen Diener zuzuschauen, wie er Runde um Runde übers Tigerfell steigt. Tradition hin oder her - irgendwann ist jeder Klamauk schal wie ne Dose Brause, die zu lange offen stand.
Jedenfalls für mich. 

Das Jahr 2019.. Wenn ich so zurückschaue, empfinde ich all die Belastung darin, um die eigene physische Gesundheit zu kämpfen. Aus jeder Niederlage wieder neu aufstehen und weitermachen zu können. Sich zu fokussieren auf die so positiven Tendenzen, die sich nicht wegstänkern lassen.
Der Kampf um die physische wie psychische Gesundheit des Sohnes - und dieses so unfassbare Glücksgefühl zu sehen, dass das eine oder andere tatsächlich Früchte zu tragen beginnt.. 
Die im Jahr 2019 mehr geführten Auseinandersetzungen mit Freunden, Familie und im Job.. Ein oft zerriebenes Bindeglied zwischen den Fronten.. 
Die Auseinandersetzungen mit mir selbst, geführt in manch schlaflosen Nächten und viel mehr auf den zahllosen Fahrten, stundenlanges Treiben auf dem Highway, in dem es nur mich gab - und die Musik. Je lauter, desto besser. Und die nachhaltig gewonnenen Erkenntnisse.. Die Wege, die sich auftun, während man feststellt, dass man längst losgelaufen ist..

Insgesamt.. für mich persönlich ein anstrengendes Jahr. Ein Jahr voller Arbeit, sowohl als auch - aber auch der Grundstein für immer neue Hoffnung.. Getreu der schon vor langer Zeit in privaten Mails eingebundenen Signatur „Egal, wie dunkel der Raum auch ist - Liebe und Hoffnung sind immer möglich.“
Von wem diese Worte stammen und wo ich sie las - ich weiß es nicht mehr. Aber eingebrannt seit jeher, weil dieser Satz am ehesten mein Lebensprinzip beschreibt.

Und so haben wir beschlossen, in diesen kleinen Ort irgendwo in Oberbayern zu verreisen.. Das Jahr hinter uns zu lassen, es wesentlich entspannter ausklingen zu lassen
als es sich angefühlt hatte. Nur wenige Tage, in denen wir uns um nichts kümmern müssen außer uns selbst.
Endlich das Buch gelesen, das schon lange auf dem Hocker neben meinem Bett lag.
„Der Gesang der Flusskrebse“ - ein sehr berührendes Buch mit einem aufwühlenden Ende..
Nur wenige Tage, die gefüllt werden mit Ruhe im Kopf und in der Seele, mit Liebe und Geduld, mit Schwimmen, Massagen und mit Infrarotsauna, mit Durchstöbern der nahegelegenen Steinbrüche, wo das Jagdfieber wieder glühend erwachte. Hier zum Beispiel könnte ich stundenlang graben, Steine umwenden, immer auf der Suche.. Wo nur leider das größte Fossil von allen schon nach nur wenigen Minuten miese Laune bekam und zum Gehen drängte. Irgendwann muss ich nochmal hierher, vielleicht im Frühjahr und dann vielleicht mit einer Freundin, die dem selben Jagdfieber unterliegt..

Das Jahr 2019 neigt sich nun endgültig dem Ende zu - und ich atme auf. Ich atme frei und tief bis in den letzten Winkel meines Seins hinein. Ich bin sehr dankbar, heute hier so zu stehen. Ich bin sehr dankbar für das, was ich habe.
Kann man bedingungslos lieben?
Ja, das kann man.
Ich habe keine Erwartungen an niemanden - und ich liebe nicht für die Dinge, die jemand tut. Dieses Gefühl, sich erfüllt zu fühlen, das kann Dir niemand vermitteln, indem er Dinge für Dich regelt oder bezahlt. Was mich erfüllt, ist das Gefühl, begleitet zu werden. Dass jemand da ist, der mit mir geht, ohne mir zu sagen, wohin ich gehen soll. Der mich so sein lässt wie ich bin. Der nicht an mir herumzerrt und auch nicht versucht, mich in das Bild zu biegen, das er von mir hat. 
Dass jemand mit mir lacht und weint, mit mir ernst und albern sein kann. Der mich herausfordert und zugleich meine Grenzen respektiert.
Sind das Bedingungen? 
Bedeutet Bedingungslosigkeit denn, keine eigenen Vorstellungen, Wünsche und Träume in sich zu tragen? Ich denke: Nein, das bedeutet es nicht. Nicht der Verstand entscheidet, wen wir lieben. Unser Verstand wird uns lediglich sagen, ob wir gehen oder bleiben (können) - oder wie lange.
Ich habe nicht die Vorstellung, dass es an einem anderen Menschen liegt, mich glücklich zu machen. Ich bin es, die sich selbst genug sein will. Die sich glücklich macht und fühlt. Und wenn ich das mit jemandem teilen kann, ist es das Größte. Dafür muss und soll sich niemand ändern oder meinen Vorstellungen entsprechen. Entweder passt es oder es passt nicht. Das ist keine Bedingung. Das ist unser Leben. Denn nicht mit jedem, den Du liebst, kannst Du auch glücklich sein. Aber jeder, den Du liebst, wird immer bei Dir sein, ganz gleich, wo man ist und mit wem..

Ich weiß gar nicht.. Habe ich jetzt doch mehr geschrieben als ich wollte? Habe ich jetzt doch mehr zu sagen gehabt als ich dachte?
Ich weiß nur, dass ich heute Nacht das neue Jahr begrüßen werde - und genau jetzt und hier sein möchte. Was das neue Jahr bringt, werden wir an allen kommenden 365 Tagen sehen - und ich wünsche Euch wirklich von Herzen, dass es ein gutes Jahr wird. Dass Dinge sich fügen und erfüllen, auf die Ihr schon so lange voller Sehnsucht gewartet habt. 
Habt es schön - und macht es Euch schön ♥️


Sonntag, 22. Dezember 2019

Make Yourself A Merry Little Christmas

Es ist diese Zeit des Jahres, in der die Wünsche wieder vor allem virtuell hin und her geschickt werden - und in der vor allem viele Geschenke gewünscht werden. Ich persönlich.. Ich lege keinen Wert darauf, dass da viel geschenkt wird. Für mich sind es die "kleinen" Dinge im Leben, oder besser gesagt, die kleinen großen Dinge. Die, die von Herzen kommen. Die, die mit Liebe gegeben werden.
So wie diese wunderbare dunkelrote Kaffeetasse mit den kleinen weißen Punkten..
Ich hatte es nur ein einziges Mal beschämt gestehen müssen, dass diese ins Nirvana übergewandert war. Und nun, nach diesem Wiedersehen nach über fünf Jahren, in denen wir uns nicht gesehen, kaum gelesen hatten, da lagen wir einander in den Armen, hielten einander ganz sehr fest - und dann hatte sie noch diese eine Überraschung für mich. Diese neue Tasse, bei der mir derart die Hände zitterten, dass ich fürchtete: Gleich stürzt die auch ab und dann wars das.
Ist sie aber nicht. Sie hat den feuchtfröhlichen Glühweinabend genauso überstanden wie der Freundinnen-Mantel, den ich ihr dieses Mal nicht mit Senf vollkleckerte. Nach fünf Tassen Glühwein wusste ich dann auch nicht mehr, von was mir die Augen blitzten - vom Alkohol, vom Schalk, von der Wiedersehensglückseligkeit - oder der irren Freude über diese kleine Tasse. So dass ich glatt in die falsche Bahn gestiegen wäre, würde sie mich nicht zurückgehalten und auf die Anzeigentafel hingewiesen haben.
"Du musst auf die andere Seite."
"Nein! Das weiß ich ganz genau, ich bin immer von dieser Seite aus gefahren!"
"Aber nach [Hause] kommst du hier nicht, du musst da rüber."
"Wir können ja mal fragen."
Also habe ich eine ältere Dame gefragt, die musste es ja wissen. Und die sagte "Sie müssen auf die andere Seite."
"Versteh ich nicht", glühweinte ich stur wie ein Fischkopp, "ich bin IMMER von der Seite gefahren."
"Nein nein, Sie müssen da rüber."
"Jetzt steig halt einfach ein", sagte die Freundin, eigentlich schob sie mich mehr in die Bahn als dass ich freiwillig dort eingestiegen wäre - aber ich hab es dann tatsächlich noch nach Hause geschafft.

Habe auch die letzten anstrengenden Tage im Büro zuende geführt, alle to do's des Jahres abgehakt und mich am gestrigen Samstag um die letzten noch zu erledigenden Dinge gekümmert. Bis ich am Abend, als die Jugend komplett ausgeflogen war, einfach einschlief, statt dem freien Abend zu frönen.
Dafür gehört der heutige Sonntag fast ausschließlich mir, denn die Jugend verabschiedet sich nachher nochmals, während ich es mir hier daheim gemütlich mache, verpacke die letzten kleinen Überraschungen, bügle die letzte Wäsche.. und freue mich auf die Weihnachtstage. Auch wenn es in diesem Jahr keinen Schnee an Weihnachten gibt. Mir als Autofahrer ist das - ehrlich gesagt - ganz recht so. Was soll ich mit Schneegestöber auf dem Highway? Mich stresst das. Und ich brauch das nicht. Schneien darf es also nur an Tagen, an denen ich nicht mit dem Auto unterwegs sein muss.

Mit diesem Jahr und all den Ereignissen darin habe ich längst meinen Frieden gemacht, finde ich langsam wieder zu meiner Gelassenheit zurück. Manchmal auch - und das war mir ehrlich nicht bewusst - auf Kosten anderer.
"Ist dir bewusst, dass du mir gestern meine Energie rausgesaugt hast?"
"Oh Gott, nein!"
"Doch, hast du. Ich hatte ein Gefühl wie Betonfüße danach, und ich mag dieses Gefühl gar nicht."
"Das tut mir ehrlich leid, wirklich, ich entschuldige mich dafür."
"Es muss dir nicht leid tun. Weil du nicht nur nimmst. Du gibst auch. Die meisten nehmen nur."

Dennoch habe ich mir für das kommende Jahr mehr Achtsamkeit vorgenommen. Nicht als Vorsatz für ein neues Jahr. Nicht einer jener Vorsätze wie Diät und solchen Blödsinn, den man sowieso nicht einhält. Man ist wie man ist - und entweder man gefällt sich so oder man tut was. Am Freitag gab es eine kleine Ausstandsparty eines Kollegen, der uns nunmehr verlässt - und dazu gabs auch Torte. Von der zwei Stücke über blieben, die keiner mehr wollte.
"Gebts der Helma, die isst die in jedem Fall", lästerte der Chef, "bleibt dann halt alles auf ihren Hüften."
"Weißt du", entgegnete ich, während ich mir genüßlich einen Gabelbissen dieser herrlichen Zitronentorte in den Mund schob, "das Gute ist, dass ich DIR auch nicht gefallen will."
Er lachte: "Mir gefällt deine große Klappe, das reicht mir auch schon."

Von meinen beiden Mädels im Büro habe ich mich mit einer kleinen Aufmerksamkeit verabschiedet und ihnen für dieses Jahr gedankt - für das wirklich angenehme und entspannte Miteinander. Dass sich einer immer auf den anderen verlassen kann. Dass es keine Ränke und keine Häme unter uns Dreien gibt. Das Büro habe ich am Freitagabend mit einem guten Gefühl verlassen. Mit dem guten Gefühl, alles gesagt und getan zu haben.

Das Gefühl, alles gesagt und getan zu haben, durchzieht auch das Private. Was daraus wird, wird sich im kommenden Jahr zeigen. Ich fühle mich gefestigt in dem, was ich wünsche, brauche und was ich geben kann. Von mir abgeben kann. Selten habe ich mich so im Reinen mit mir selbst gefühlt wie in dieser Zeit. Und auch, wenn das grad sehr nach Ich-bezogen klingt... Es fängt alles erst mit einem selbst an.

Machts Euch schön, so gut das möglich ist. Genießt, so gut das möglich ist. Das wünsche ich Euch sehr.

Donnerstag, 12. Dezember 2019

Keep Bleeding



Wie ich in den Raum gekommen bin, weiß ich nicht, aber ich fand mich dort wieder: weiß gekachelte Wände, eine Liege, verschiedene Instrumente. Was auf mich zukommt, weiß ich nicht, ich bin nicht einmal sicher, warum ich überhaupt hier bin.
Eigentlich denke ich überhaupt nichts - bis ich stürze und irgendetwas an meinem linken Arm aufreißt. So tief und so heftig, dass mit jedem Herzschlag immer mehr Blut aus meinem Körper pulsiert und ich innerhalb kürzester Zeit barfuß in meinem eigenen Blut stehe. Und ich weiß, wenn ich jetzt nicht gehe und Hilfe hole, dann werde ich hier sterben.
Also gehe ich los, hinterlasse tiefrote Spuren meiner nackten Füße auf dem weißen Fußboden, betrete den langen, schmalen und wahnsinnig hellen Gang, an dessen Ende irgendein Weißkittel um die Ecke kommt.
Ich sehe ihn - und alles, was ich dann erlebe, geschieht wie in Zeitlupe: dass ich zu Boden falle, mein Kopf auf dem Boden aufschlägt und ich weiß, dass es das jetzt war.
Es ist der Mann, der mich vom Boden aufheben will, der mich in seine Arme nimmt, und obschon ich ihn nicht wirklich sehen kann, fühle ich, dass er da ist. Bei mir. Und vor meinen Augen wird alles immer heller, immer lichter, immer leichter, verschwimmen alle Konturen.
"Es wird ja alles ganz hell", lächle ich ihn beruhigend an, und als er zu weinen beginnt, erwache ich.

Ich bin kein Traumdeuter, aber diesen begreife sogar ich.

Blut als Symbol des Lebens. Der Lebensenergie.

Es ist eine Freundin, die mir auf meinen gestrigen Post heute Morgen einige Nachrichten schreibt und Sprachnachrichten schickt und deren Pling mich davor rettet, den Tag zu spät zu beginnen. Die nachfragt, was da gerade los ist, die mir ihre Sorge darüber mitteilt - und die mich in meinem Bauchgefühl nur bestätigt: Ich kann gerade nichts tun, nicht an jener Stelle aktiv werden und keinen Schutz bieten. Man kann das nicht, wenn der andere es nicht (wahrhaben) will. Ihm im Gegenzug die Tür verschließen, das werde ich nicht. Aber ich habe für mich erneut eine Linie gezogen, in den heutigen frühen Morgenstunden. Einmal mehr, denn eine ähnlich hilflose Situation, die in einer Katastrophe endete, durchlebte ich vor Jahren schon ein Mal. Seither bin ich viel vorsichtiger geworden. Wen ich in mein Leben hineinlasse und wie sehr.

"...Es ist die Fülle an negativer Einflüssen, die im Moment von mehreren Seiten kommt, und mit dem im Gegensatz zu wenig Positiven ist ein Ungleichgewicht entstanden. Eins, mit dem ich mich nicht gut fühle", fasse ich der Freundin gegenüber im Lauf des Tages, nachdem ich mir den zweiten Kaffee des Tages zubereitet und ihre letzten Sprachnachrichten abgehört habe, zusammen.
Gestern, nur einen Tag nach der zuletzt geführten heftigen Auseinandersetzung, die mich kaum mehr als verzweifelte Hilflosigkeit fühlen ließ, habe ich den ganzen Abend lang nur noch Musik gehört.
Manchmal brauche ich das genau so. So wie ich mir manchmal auch triviale Sendungen reinziehe, während ich auf dem Sofa lümmle und an nichts mehr denke. So wie ich nicht jeden Tag Nachrichten schaue und auch nicht lese. So wie ich mir nicht alle möglichen "Hast du das schon gehört?"-Nachrichten von Freunden, Familie oder Kollegen anhören mag oder Videos ungesehen lösche. Das Leben geschieht sowieso, ob ich mir nun alles mit anschaue oder nicht.

Ich will mir aber nicht mehr alles mit anschauen. Es gibt nur ganz wenige Menschen in meinem Leben, für die ich mein Blut hergebe. Über alles andere entscheide ich jeden Tag neu. Dafür oder dagegen. Ich muss darüber jeden Tag neu entscheiden. Die wesentlichen Dinge übersiehst du sowieso nicht.



The Long Day Is Over






Zeit, mich schlafen zu legen.. Die Tage sind oft zu lang, die Nächte oft zu kurz. Doch nachdem ich mir Stück für Stück die Seele frei schreibe, mich damit frei mache von Dingen, die sich nicht gut anfühlen, kehrt auch dank der streichelsanften Musik die Ruhe in meinem Kopf wieder zurück.
Ein Album, das ich so sehr liebe.
Ihr schönstes Album von allen.
Mir ist es längst kalt geworden, nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit wie selbstvergessen auf dem Holzfußboden gelegen und in die Nacht geschaut habe... Während die letzten Kerzen herunterbrannten und der Titel in der Endlosschleife nicht müde wird, mich daran zu erinnern, wie viel Schönes es trotz allem im Leben gibt.
Wenn dieses Jahr herum ist, werde ich aufatmen. Und mich im kommenden Jahr wieder mehr auf mich selbst und die Musik in mir konzentrieren.

"Du kannst sie nicht alle retten", mahnt der Mann öfter, aber das versuche ich auch gar nicht. Das wäre Anmaßung. Nur.. Menschen sind mir nicht egal, und je näher sie mir sind, desto wichtiger ist es mir, dass es ihnen gut geht. Aber mir ist auch bewusst, dass jeder Mensch sein eigenes Leben hat, führt und leben muss. Ganz gleich, ob ich es gut und richtig finde oder auch nicht. Es gehört nicht mir, es gehört euch. Macht etwas Schönes damit...

Mittwoch, 11. Dezember 2019

Grenzenlos


Im Grunde genommen, wenn wir allein sind, dann hoffen und wünschen wir - mehr oder weniger - ab irgendeinem Punkt in unserem Leben mit jeder Begegnung, dass es nunmehr die eine Begegnung sein möge. Die uns eröffne, wie wertvoll, wie schön und wie begehrenswert wir seien. Und sei es wenigstens für diesen einen anderen Menschen.

Je jünger wir sind, desto weniger zerstört fühlen wir uns. Ganz im Gegenteil, wir haben den Kopf noch voller bunter Träume, voller bunter Seifenblasen, wir tanzen durch die Straßen und glauben, die Welt gehöre uns. Wir glauben, dass irgendwie alles möglich sei, wenn wir selber nur genug daran festhalten würden.

Ich weiß gar nicht, wie oft mein Vater zu mir sagte: "Mein Gott, Mädchen, sei doch nicht so naiv, glaub doch nicht immer alles!" Damals, als ich fünfzehn, sechzehn Jahre alt war und zum ersten Mal verliebt.
Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es auch nur irgendein Mensch nicht gut (mit mir) meinen könnte, wenn man dem anderen doch gar keinen Anlass dafür geboten hatte. Vermutlich lebte ich nicht nur im sprichwörtlichen Sinne auf einer Insel, vermutlich lebte ich auch in meinem Kopf auf einer Insel, in meiner mir eigenen Welt, in der alles bunt und schön und voller Musik war. Ja, damals schon.
Diese Zeit ist lange her, und möglicherweise, ja wohl sicher habe ich einen Teil meiner Unbeschwertheit in diesen Jahren zurückgelassen, aufgegeben. Hergegeben an den Erlebnissen und Erfahrungen, wobei ich von den meisten immer noch sage: Da habe ich wirklich noch richtig, richtig Glück gehabt, das hätte ganz anders enden können.
Heute bezeichne ich mich noch immer als ein Glückskind, dem zwar nicht alles in den Schoß gefallen ist, ganz im Gegenteil - aber dennoch hatte ich vor allem.. eine wahnsinnige Menge Glück.

Beschissen, belogen, betrogen wird, seit es Menschen gibt. Und ich glaube, dass die Dimension eines Schmerzes keine andere ist als seit jeher. Nur die Mittel und die Methoden ändern sich. Und inzwischen ist es möglich, dass Menschen einander begegnen, ohne sich je real gesehen, gehört, gefühlt, geschmeckt haben. Dass es dennoch möglich ist, Verbindungen aufzubauen, wider jeder Vernunft. Wider jeden Verstandes und jeder Logik. Und dieser Tage wurde mir schmerzhaft bewusst, wie es sich anfühlt, diese vollkommene Hilflosigkeit angesichts eines unglaublichen Betrugs.

Stell dir vor.... Du kennst jemanden, mit dem führst du eine reine Fickbeziehung. Sorry. Ich könnte es jetzt auch modern als "Freundschaft Plus" bezeichnen, gleichwohl fällt mir genau das inzwischen sehr schwer, denn auch ohne dem Plus setzt das Wort Freundschaft etwas voraus, das in meinen Augen an dieser Stelle einfach nicht existiert.. Jedenfalls.. dieser jemand hat Freunde. Wie viele, weißt du nicht, ist eigentlich auch völlig wurscht. Manche dieser Freunde nehmen Kontakt zu dir auf. Und zwar ausschließlich über das Handy deiner Fickbeziehung.
Warum sie alle nur Kontakt über dieses Handy aufnehmen, hinterfragst du nicht. Du kennst ihn ja, seit mindestens zwei Jahren, ihr habt geilen, aufregenden Sex, und dass er dich auch an manche "Freunde" ausleiht, ist für dich okay, denn für eine monogame Beziehung bist du sowieso nicht gemacht. Sagst du.
Sie schreiben dir, aber sprechen nie mit dir. Rufen nie an, treffen dich nie. Was bedeutet: Du kennst niemanden wirklich. Du weißt nicht, wen du da vor dir hast und wer sich da eigentlich tatsächlich mit dir schreibt. Doch was du registrierst, sind die Komplimente, die bei dir ankommen. Wie wunderbar du seist, eine wunderbare Frau, ein noch ungeschliffener Diamant, aber überaus wertvoll. Glauben kannst du das gar nicht, denn du kennst es nicht, dass dir jemand so etwas sagt, dass jemand überhaupt so von dir denkt. Denn kennengelernt hast du das völlige Gegenteil. In der Familie, in der Schule, im Job. So jung und trotzdem schon so kaputt, dass du dich wochen-, monatelang zu Hause verkriechst, eine Krankschreibung nach der anderen einreichst und dich schließlich in stationäre Hilfe begibst. Und dann kommt jemand, der dich allein durch die Kraft seiner Worte wieder aufrichtet. Der dir das gibt, das deine zerrüttete Seele so sehr braucht, das dein nicht vorhandenes Selbstwertgefühl streichelt und dir ein so viel besseres Gefühl als je zuvor vermittelt. DAS muss es sein. DER muss es sein. Von ihm kennst du nicht viel. Du hast nur drei Fotos. Eins von ihm im Pool - mit Sonnenbrille. Eins von seinem Oberkörper - und eins von seinen Augen. Von dem Augenfoto bist du fasziniert, du bist verliebt in dieses Foto. Du zeigst es herum und verstehst die Reaktionen gar nicht. Willst auch die Stimmen nicht hören, die da erneut Zweifel anmelden: Die Fotos passen doch gar nicht zueinander?
Irgendwann zeigst du dieses Foto deiner F-Beziehung, und der bestätigt dir: Das ist zu 100 % der, der dir inzwischen fast täglich schreibt. Der sich im Sommer von seiner Freundin trennt (!) und sich auf den Weg macht, um das Wochenende mit dir zu verbringen. Und du freust dich wie blöd, auch weil du den ewigen Zweiflern und Miesmachern in deinem Umfeld beweisen kannst: Ich hatte recht, es gibt ihn wirklich und er will wirklich mich.
Nur.. Er kommt nie an. Natürlich nicht. Natürlich vermutest du sofort, dass nur etwas Schlimmes passiert sein kann. Immerhin hat es viele Unfälle an diesem Wochenende auf dieser Strecke gegeben. Ihm kann nur etwas Schlimmes passiert sein - und Tage später überbringt deine F-Beziehung dir diese Botschaft: Pool-Boy hatte einen schweren Unfall und liegt nun weit entfernt in seiner Heimatstadt auf der Intensivstation.
"Fahr doch zu ihm", rät dir dein Umfeld, aber du weißt ja nicht, wo er wirklich liegt - und jene andere Stadt ist zu groß, um alles abzusuchen. Die einzige Verbindung, nämlich der Arbeitskollege vom Pool-Boy, dessen Freundin wiederum mit deiner F-Beziehung befreundet ist, ist just zur selben Zeit gekappt, weil man sich gerade getrennt hat. Welch Zufall!
Und nun beginnt die Zeit des Wartens und der Ungewissheit. Du weißt nicht, wie es Pool-Boy geht und mit F-Boy hast du dich überworfen, weil er entgegen eurer Abmachung andere Frauen gevögelt hat, ohne es mit dir abzusprechen. Den einzigen Kontakt von F-Boy, den du zulässt, ist die Nachfrage, ob es was Neues vom Pool-Boy gibt, aber F-Boy weiß noch weniger als du. Er kennt niemanden aus Pool-Boys Stadt, außer jene Freundin, aber die weiß ja nun auch nichts mehr.
Du schreibst Nachrichten auf das Handy vom Pool-Boy in der Hoffnung, er möge dir eines Tages antworten - und eines Tages kommen tatsächlich Antworten. "Seine Mutter hat sich gemeldet", erklärst du deinem Umfeld - und dass die total crazy drauf sei. Ihr habt Euch über Beziehungen, Sex und alle möglichen Konstellationen ausgetauscht. Rein schriftlich. Alles über whatsapp und über das Handy von Pool-Boy. Die deutlicher werdenden Zweifel deines Umfeldes nerven dich, machen dich aggressiv. "Es regt mich so auf, dass ihr alle glaubt, ich sei so naiv." Du bekommst ein Foto von der Mutter zugeschickt, das leitest du deinem Umfeld weiter. "Hier bitte. Eure Zweifel machen mich kaputt."
Zwar ist niemandem in deinem Umfeld klar, wie eine Mutter das Handy ihres Sohnes bedienen kann, das heutzutage höchstwahrscheinlich mit einem Zugriffs-Pin geschützt, mindestens aber eine Sim-Pin besitzt - und der Akku inzwischen ja mehr als leer gewesen sein durfte. Es ist auch niemandem klar, warum eine wildfremde Frau, deren Sohn auf der Intensivstation liegen soll, einem wildfremden Mädel sexuelle Dinge schreibt - aber möglicherweise ist dein Umfeld ja nicht nur blöd, sondern auch noch gnadenlos verklemmt.
Also schweigt dein Umfeld und wartet mit dir. Bis du eines Tages völlig aufgelöst schreibst: Dieses Dreckschwein! Dieses Arschloch! F-Boy hat wieder ein anderes Mädel gevögelt - und Pool-Boys Mutter hat via Live-Chat zugesehen.
Es ist dieser Moment, wo dein Umfeld gedanklich aussteigt und dich fragt, ob du allen Ernstes immer noch glaubst, dass an dieser Geschichte auch nur irgendwas Wahres dran sein kann. Ob du nicht sehen kannst oder sehen willst, dass alle Fäden am Ende immer wieder bei F-Boy zusammenlaufen. Und wie es überhaupt möglich ist, dass F-Boy mit einem Mal die Nummer von Pool-Boys Mutter haben kann. Wieso die derart telefonieren, videochatten, whatever.
Jedoch.. Für Logik bist du nicht offen. Für (berechtigte) Zweifel bist du nicht offen. Du willst es nicht wahrhaben und vermutlich kannst du es nicht wahrhaben. Denn wenn das alles nicht wahr gewesen ist - dann bedeutet es einen freien Fall für dich in das Bodenlose. Weil es dann nichts mehr gibt, was du hast, das dich zur wunderbaren, einzigartigen Frau machst, die niemand verdient. Weil du dann nichts mehr hast, für das es sich lohnen soll, morgens überhaupt nur die Augen zu öffnen, geschweige denn aufzustehen. Du willst dich daran klammern und vermutlich musst du es sogar - für dein eigenes Überleben. Niemand vermag daran zu denken, was passieren würde, würdest du eines Tages die Wahrheit erfahren.
Doch das Karussell dreht sich weiter. Pool-Boy geht es besser, er soll auf die Normalstation verlegt werden - und dann darfst du ihn besuchen kommen. Natürlich kommt es nicht dazu. Jedem in deinem Umfeld ist klar: Irgendetwas muss passieren, Pool-Boy muss weg. Also stirbt Pool-Boy in der Nacht vor dem Tag, an dem du zu ihm kommen solltest. Timing ist schließlich alles.
Du bist derart am Boden zerstört, dass dein Umfeld nur hilflos zusehen kann. Und hofft, dass du diese Zeit irgendwie überstehst.
"Besuch sein Grab, wenn du soweit bist", rät man dir. Aber ach - ein Grab wird es ja gar nicht geben. Natürlich nicht. Pool-Boys Asche wird im Meer versenkt - zu einer Zeit, in der du dich geplant im Ausland befinden wirst.
Und so gehen die Tage und Wochen ins Land, es kehrt etwas Ruhe ein. Du hast wieder Kontakt zu F-Boy aufgenommen, denn "ihn verlieren kann ich nicht auch noch". Du teilst dich immer weniger mit, dir glaubt ja sowieso niemand. Bis eines Tages jemand aus deinem Umfeld über Pool-Boys Foto im Netz stolpert. Ein Foto auf stock free Seiten sowie auch auf Seiten, die Werbung für Pools, Freibäder, Hotels selbst in der Dominikanischen machen. Selbst die AfD nutzt dieses Foto - und du antwortest darauf "Denen traue ich zu, dass die das Foto eines Toten klauen." Du willst die Mutter von Pool-Boy danach fragen und auch nochmal F-Boy. Und dann schreibst du "Seine Mutter weiß bescheid, das Foto liegt beim Anwalt. Und F-Boy hat mir zu 100 % bestätigt, dass das Pool-Boy ist."
Dein Umfeld fällt aus allen Wolken. Du glaubst diese ganze abstruse Story noch immer?
"Das Foto kann gar nicht beim Anwalt liegen. Es ist ein stock free Foto, begreifst du das nicht? Das kann jeder nutzen wie er will. Das wäre genauso, als würde man einen Raucher dafür anklagen wollen, dass er sich Zigaretten gekauft hat." Und dein Umfeld fragt nach "Hast du seine Mutter mal angerufen?"
"Nein, wir haben geschrieben."
Natürlich. Weil du ja nicht gerne telefonierst, wie du betonst. Komisch nur, dass du dein Umfeld immer mal anrufst und auch darum bittest, mal telefonieren zu können.

"Ihr seid so krank", bekommt das Umfeld stattdessen von dir zu hören. "Wie krank ist das zu glauben, das alles würde sich jemand ausdenken? Sich den Tod eines Menschen ausdenken? Ich weiß, woran ich glaube. Und dass ihr denkt, ich sei ja nur naiv, zieht mich nur runter, vielen Dank. Ich will mich jetzt nicht weiter damit befassen. Ich glaube seiner Mutter und F-Boy."

Das Umfeld schluckt. Und schweigt still. Und realisiert: Hier kann es nicht weiter reagieren. Hier kann es nichts mehr sagen und nichts mehr tun, denn es wird dich nicht erreichen. Dem Umfeld wird klar, es ist machtlos gegen deine emotionale Abhängigkeit von F-Boy, der letztlich die Hauptfigur in diesem schlechten Spiel darstellt. Ein Mensch, der sich in sozialen Netzwerken mit einem Phantasienamen aus einem Videogame ausstattet, dem man nachsagt: "...zieht er es vor, aus der Nähe zu sein und sein Ziel persönlich zu töten, indem er eine Mischung aus Heimlichkeit, Schusswaffen, Nahkampf und biotischen Fähigkeiten einsetzt." Um dein Leben fürchtet dein Umfeld weniger, sehr wohl aber um deine seelische Gesundheit. Was es am Ende mit dir persönlich machen wird.
Warum jemand so ein scheiß Spiel mit dir spielen soll? Weil die Welt voll ist von gestörten Kreaturen, die darauf scheißen, wie du dich fühlst, wie es dir geht und was aus dir wird. Die sich ihrer Macht über dich bewusst sind und diese Macht auch auskosten. Vielleicht, weil sie nie wirklich was bewiesen haben im Leben und bisherige Vorhaben gescheitert sind - was man übrigens auch im Netz nachlesen kann. Vielleicht, weil ihre eigene "Größe" lediglich darin besteht, andere zu erniedrigen?

Du bist nicht die erste, die auf einen Typen reingefallen ist - und du bist auch nicht die letzte. Es sind deine unfassbare Liebebedürftigkeit und dein unbedingter Wunsch nach Anerkennung, nach Wertschätzung, die dich so verletzlich, so angreifbar machen. Wie bei so unendlich vielen anderen Frauen auch.

Es ist die Dimension, die das Ganze mittlerweile erreicht hat, die einen fassungslos macht. Wie gesagt, belogen und betrogen wurden die Menschen, seit es sie gibt. Aber vermutlich war es noch nie so einfach wie heute. Was zurückbleibt, ist ein bitterer Geschmack und das endlose Gefühl von Hilflosigkeit. Während du in der Tagesklinik sitzt und versuchst, irgendwie klarzukommen im Leben - und trotzdem weiter an all dem festhältst. Weil du nicht völlig ins Bodenlose fallen willst und darfst, weil du weiterhin glauben musst, dass du etwas Besonderes bist.
Das bist du auch. Auf deine dir ganz eigene Weise. Doch du hast dich an jemanden gehangen, der das nicht schätzt. Und jetzt kommst du davon nicht mehr los. Weil du den Schmerz kennst, ganz allein zu sein - und das schaffst du nicht mehr. Den willst du nicht mehr. Was auch immer geschieht.

Samstag, 7. Dezember 2019

Was stimmt nicht mit mir?






Manchmal wundere ich mich über Menschen. Eigentlich jeder, den ich kenne, hat eine genaue Vorstellung von seinem Leben. Vom Lieben. Vom Job und vom Miteinander. Aber die wenigsten, die ich kenne, leben das, wovon sie eine Vorstellung haben.
Die meisten beklagen die Dinge, die sie nicht in ihrem Leben haben. Fühlen sich betrogen vom Leben, vom Lieben, vom Job und vom Miteinander. Beklagen Dinge, die ihrer Meinung nach von anderen so nicht gesagt oder nicht so hätten getan werden dürfen. Und wenn man es bei Tage besieht.. Ist es nicht eher die nicht erfüllte eigene Erwartungshaltung, die da beklagt wird?

Das Jahr neigt sich langsam, aber endgültig dem Ende zu und ehrlich gesagt: Irgendwie atme ich auf, dass es vorüber ist. Es war ein.. zähes Jahr. Eins, das irgendwie klebrig an den Schuhsohlen haftete und mir das Gefühl vermittelte, nicht von der Stelle kommen zu können. Als würden zu beschwerliche Dinge an mir haften, an mir kleben, mich belasten, die mich daran hinderten, einen Schritt nach dem anderen zu tun.
Schaue ich auf das Jahr zurück, überkommt mich einmal mehr das Gefühl, dass in genau diesem Jahr viel mehr in meinem Kopf und in meiner Seele herumgetobt hat, das mit meinem eigenen Leben genau genommen.. nicht viel zu tun hat. Es war das Jahr des Zuhörens, des Schlichtens, des Sortierens und Ordnens, des Auf- und Abfangens aller möglichen Stimmungen und Schwingungen - und am Ende dieses Jahres habe ich das Gefühl, selbst ein wenig zu kurz gekommen zu sein. Das ist aber nur ein Gefühl, vermutlich ist das nicht die Wahrheit.
Vielleicht, weil ich zuviele Probleme, die nicht meine sind, in meinen Kopf, in meine Seele und in meinen Rucksack genommen habe?

Ob man das zugeben mag oder nicht: Am Ende möchte niemand von uns allein sein und allein sterben. Jeder ist irgendwie auf der Suche nach einem Menschen, der das eigene Leben bereichert allein dadurch, dass er da ist. Der eine verkrampft bei der Suche, der andere hat bereits aufgegeben in der unerfüllten Beziehung - und hofft auf ein Wunder. Oder jemanden, der ihn rettet. Der Dritte fürchtet die Konsequenz seines Tuns und kann trotzdem nicht anders handeln, weil er vielleicht trotz allem hofft, ihm würde die Entscheidung abgenommen. Der Vierte beginnt ein neues Leben, obschon das alte nicht wirklich abgeschlossen ist. Fürchtet zwar keine Konsequenzen und ist doch erstaunt über menschliche Reaktionen. Irgendwie haben sie alle eine Erwartungshaltung an ihr Gegenüber - ohne selbst wirklich aktiv zu werden.
Der eine beklagt seit langem seine Gewichtsentwicklung der letzten Jahre - und lebt weiter wie bisher.
Der andere beklagt das Beziehungsverhalten - und zieht keine Konsequenzen.
Der Dritte führt ein gutes Leben - und beklagt unzufrieden die Dinge, die ihm fehlen.
Der Vierte führt das Leben seiner Wahl - und kann das Glück und den Erfolg anderer trotzdem nicht ertragen.
Ich schaue zu, ich höre zu - und wundere mich immer öfter.

Doch was mich am allermeisten daran irritiert: was es mit mir selber macht.
Wie oft ich denke "Und worüber genau regt er/ sie sich jetzt eigentlich genau auf - und vor allem: warum?"
Wie oft ich innerlich die Schultern zucke und denke: "Ja nun... Gibt Schlimmeres..."
Und ich frage mich.. Ist diese Gelassenheit dem Alter geschuldet? Diese Gelassenheit, die Ruhe in sich selbst. Oder verwechsle ich da etwas und es ist schon nicht mehr Gelassenheit, sondern eher Gleichmut? Und ist der nicht eher negativ als positiv? Ist der nicht eher auch gefährlich?
Bis wohin ist es ein Schutzschild für das eigene Gemüt, das eigene Wohlbefinden - und ab wann ist es tatsächlich auch Gleichgültigkeit?

Am Montagabend traf ich meine Freundin aus L, die kurzzeitig in M verweilte. Aus der geplanten Kaffeestunde wurden über vier Stunden. Irgendwann sagte sie zu mir: "Du siehst wirklich viel besser aus. Eigentlich siehst du genauso aus wie damals, als ich dich kennen gelernt habe."
Damals, das war vor dreizehn Jahren.
Mich haben ihre Worte beschäftigt. Weil ich die Situationen verglich, die damals vor dreizehn Jahren - und die heute. Dazwischen liegen Jahre, die wirklich nicht so einfach waren. Die Jahre 2015 bis 2017 waren die emotional schwierigsten - anschließend kämpfte ich umso mehr mit dem Körper.
Nach und nach erhole ich mich, schüttle von mir ab und irgendwo auf diesem Weg muss ich wohl beschlossen haben, nicht alles mehr an mich so heranzulassen. Und bemerke stattdessen, dass für mein Empfinden viel zu wenig gelacht, viel zu wenig getanzt, viel zu wenig geliebt und geküsst, viel zu wenig gestreichelt wird.
Es wird viel zu viel gestritten und Zeit damit verschenkt, sich an Kleinigkeiten aufzureiben, sich das Leben gegenseitig unnötig schwer zu machen, anstatt zu genießen, dass man einander hat.

Und je öfter ich daran denke, desto öfter entwickle ich tatsächlich dieses Gefühl von... Gleichmut.. Ich nehme hin, ich akzeptiere, vielleicht einmal zu oft, ich bin mir da nicht sicher.
Frage mich, ob mit meinem Kopf alles stimmt oder ob ich da irgendwelche Enzyme zuviel oder zu wenig habe, dass ich so oft so entspannt auf mein Umfeld reagiere.

An der Stelle dann musste ich aber lachen und fragte mich, wie krank das eigentlich ist, dass man eine Störung in sich selbst vermutet, nur weil man beschlossen hat, bei dem ganzen bekloppten Irrsinn nicht mehr mitzumachen.