Dienstag, 8. August 2023

...cause when I wake up, I'm alone.


Viel zu lange wieder nicht geschrieben. Als gäbe es nichts zu erzählen oder wenigstens zu sagen. Ist ja nicht so, als wäre der Kopf nicht beschäftigt. Das ist er, ständig rollen alle möglichen Dinge hin und her. Manchmal beinah der Versuchung nachgegeben, etwas aufzuschreiben. Manchmal der Versuchung nachgegeben, Gedanken auszusprechen. Reaktionen abgewartet, diese im Kopf arbeiten lassen - und letztlich wieder geschwiegen. Dinge im Raum stehengelassen.

Jeden Morgen auf dem Weg ins Büro und jeden Abend auf dem Weg nach Hause lass ich die Fenster meines kleinen Grauen hinunter, weil ich es fühlen will: den frischen Wind, wie er mit den Haaren spielt, mit dem Rock. Ich liebe es, wie er mir um die Beine wuselt, unter dem Rock, unter der Bluse. Dann drehe ich diese Musik so sehr auf, dass der Sitz vibriert, dass die Noten buchstäblich auf der Haut tanzen. Dann fühle ich mich.. irgendwie frei. Frei im Kopf und in der Seele. Beinah so frei wie in den gerade zurückliegenden Tagen am Meer. Hineinspringen, ob der Kälte zittern, kreischen, eintauchen, auftauchen, in die Wellen werfen, mich von ihnen ans Ufer tragen lassen und doch wieder zurücktauchen, zurückschwimmen... Unendliche Weite wie ein kleiner Fisch in einem Ozean, unendliche Freiheit. Hineinwerfen in die weißen Schaumkronen, bis es überall prickelt auf jedem Zentimeter meiner Haut. 

"Du hattest so ein geiles Strahlen um dich herum, als du aus dem Urlaub kamst. Aber einen Tag drauf wars schon wieder vorbei."

Wir haben keinen einzigen Tag ferngesehen, wir waren jeden Tag im Meer baden, ganz gleich, ob es regnete oder die Sonne schien. Haben die Halbinsel mit dem Rad erkundet, wundervolle kleine reetgedeckte Gasthöfe entdeckt, unter deren Dach selbstgebackener Kuchen geboten wurde. Ich liebe es, die Augen zu schließen und dem breiten ruhigen Dialekt der Einheimischen zuzuhören, die Beine auszustrecken und an nichts denken zu müssen. Abends die Spielkarten auszupacken oder auf ein Konzert zu gehen, mitzusingen, so aus vollem Herzen, bis die Stimme bricht und die Augen funkeln. An anderen Abenden mich ins Bett zurückziehen können, in einem Buch lesen, während sich die anderen im Wohnbereich über Gott und die Welt unterhalten. Dem Regen lauschen und die Augen schließen.. Ich liebe es, ab und an allein zu sein, für mich allein zu sein. Ich muss ab und an für mich allein sein.

Der Kopf war frei, die Seele atmete frei - ich war frei. Vermutlich ist das auch der Grund, dass es sich für mich immer so anfühlt, als käme ich aus einer völlig anderen Welt, wenn ich wieder nach Hause zurückgekehrt bin. Das neue Zuhause, an das wir uns noch immer nicht so ganz gewöhnt haben. Zu groß der Raum, den wir wählten. Und inzwischen weiß ich auch, woran es liegt: Es fehlt noch meine ganz persönliche Note. 
Vermutlich sind Küche und Schlafbereich am ehesten das, was an mich erinnert. Bunt, geradlinig und zugleich verspielt, gelassen und zugleich unruhig... Lebendige Farben in einem ruhigen Rahmen..
In beiden Räumen mischen sich am ehesten mein nicht-erwachsen-werden-können-und doch-längst-den-Sandalen-entwachsen...
Das ist es vermutlich auch, warum ich mit dem Wohnbereich noch nicht "fertig" bin: Er ist für mich zu geradlinig, zu erwachsen... Über Wochen habe ich darüber nachgedacht, was ich anders gestalten, was ich anders haben möchte. Vorgestern Abend endlich die zündende Idee.. Es sind Bilder, die noch fehlen.. Bemalte Leinwände. Die Motive arbeiten im Kopf, eigentlich sind sie aber auch schon fertig... Mit der Umsetzung wird es etwas länger dauern.
Für den langen Weg vom Wohn- in den Schlafbereich habe ich den Mann von meiner Idee überzeugen können: großformatige schwarz-weiß-Fotografien in schwarzen Rahmen. Eher ruhige, sinnliche Motive.
Wenn wir doch nur die Zeit finden könnten für das, was wir uns überlegt haben.
Wenn wir doch nur überhaupt Zeit finden könnten..
Seit wir nach L zurückgekehrt sind, fühlt es sich an, als würden die Tage zwischen meinen Fingern zerrinnen. Würden die Zeiger der Uhr wesentlich schneller rotieren und die Abfolge aus Tag und Nacht wie im Zeitraffer vor meinem erstaunten Blick vorüberziehen.
Möglicherweise dem Umstand geschuldet, dass ich wieder mehr im Büro als im Home Office bin.
Mir ist bewusst, dass ich anderes hätte aushandeln können. Dass ich andere Bedingungen hätte festmachen können. 
Wie oft ich darüber nachgedacht hatte, das Unternehmen zu verlassen. Die Angebote, die mir das ermöglicht hätten. Bis das Unternehmen verkauft und mir in diesem Zuge eine neue Rolle übertragen worden war, der ich mich verpflichtet fühle. Die mir Angst macht vor mir selbst, in die ich mit jedem Tag mehr hineinwachse und die mich zugleich jeden Tag neu meine Grenzen spüren lässt. 
Wenn ich am Abend die Tür aufschließe, fühle ich mich unendlich müde. Möchte nicht reden, nicht zuhören, nicht gefordert sein. Doch dann... Meist hat der Mann schon etwas zum Abendessen vorbereitet. Er erzählt von seinem Tag, während ich den Blick nach draußen auf den herrlichen Kastanienbaum richte. Ich liebe Kastanienbäume so unfassbar sehr!
Manchmal schweifen die Gedanken ab, manchmal kann ich die Konzentration halten, manchmal antworte ich, meistens lasse ich ihn einfach nur reden und höre zu. Und dann.. dann kann ich fühlen, wie die Ruhe in meinen Körper kriecht, sich in jedem Zentimeter von mir ausbreitet. Wie Gedanken langsam austrudeln ähnlich einem Brummkreisel von einst in der Ecke liegenbleiben. Manchmal lassen wir die Musik im Hintergrund spielen, während wir uns ein Glas Weißwein einschenken und ich den Mann zwischen den Korbstühlen und den Blumen auf dem Balkon zum Tanzen verführe. Dann lehne ich meinen Kopf an seine Brust, schließe die Augen, völlig selbstvergessen.. kann alles um mich herum und in meinem Kopf ausblenden, irgendwo ganz tief nach hinten in den letzten Winkel des Bewusstseins schieben.. und einfach nur genießen..
Manchmal aber schlüpfen wir abends noch in die Turnschuhe, fassen uns an die Hände und laufen hinein in den Park, atmen die Wärme des Tages.. Und dann erzählt der Mann von Gott und der Welt. Hin und wieder schmunzle ich über seinen Redebedarf. So wie ich mich fühlte in den ersten Jahren nach dem Umzug nach M. 
Manchmal aber.. machen wir einfach auch gar nichts. 
An dieser Stelle muss ich grad unwillkürlich grinsen, weil mir der Inder einfällt, der damals, 2016 auf unserer Reise durch Rajasthan, zum Mann sagte, ich sei ganz anders als er - er sei so ein Unruhegeist, wolle so viel wie möglich an Erlebnissen in einen Tag verpacken, während hingegen ich diejenige sei, die in sich ruhe und nicht so viel braucht, um glücklich zu sein. Interessant, oder? Dass ein Mensch so punktgenau das Wesen eines anderen erfassen kann, den er ja eigentlich gar nicht kennt. 

Jedenfalls.. seit ungefähr zehn Tagen sind wir wieder da, sind wir zurück vom Meer. In Momenten wie diesem hier gerade jetzt fühle ich mich wohl. Ich sitze hier im Küchenbereich an genau dem Holztisch, den ich mir immer gewünscht habe. Es ist dunkel, nur Kerzen stehen im Wohnbereich, die ihr zartes Licht hier herüberbringen. Es gibt zwar eine Trennwand zwischen Wohnbereich und Küche, aber keine Türen. Ich liebe es.. Luftige Räume, an die wir uns aber eben auch beide erst gewöhnen mussten. 
Ich höre den Song im Dauerrepeat, so wie ich es aktuell jeden Morgen und jeden Abend tu.
Und schmunzle grad bei dem Gedanken an den Blick des Mannes vor zwei Tagen, als er am Abend vor dem Haus auf mich wartete und ich da angefahren kam, die Scheiben heruntergelassen, das Haar zerwühlt, der Rock aufgebauscht, die Wangen rosa und die Musik...
"Sag du nochmal, ich soll die Musik leiser machen", hat er mich gerügt und ich hab einfach gelacht. 
Manchmal .. ist die Musik alles, was ich für den Moment brauche. Ich liebe sie genau aus diesem Grund, diese dreißig Minuten zwischen Büro und Zuhause.

Denn.. Viel zu oft liege ich nachts wach, kann nicht schlafen, kann nicht einschlafen, drehe mich von der einen Seite auf die andere, liege ausgestreckt auf dem Rücken und schaue in die Nacht. Betrachte das Lichtspiel vorbeifahrender Autos auf der Jalousie vor dem Fenster. Denke an Themen, die mich beschäftigen, an die Menschen, die in meinem Kopf wohnen, an die Kinder, an meine Familie, an politische Debatten, an denen ich mich nur noch selten beteilige, weil ich zunehmend skeptisch bin bei Menschen und Meinungen, die nur eines zulassen: den eigenen Standpunkt. 
Der Mann weiß das alles. 
Und er hat geschimpft, als ich vor etwa zehn Tagen jemanden zum Haus des Vaters begleitete, in dem jener überraschend zwar, aber wenigstens in einem hohen Alter zwei Tage zuvor verstorben war. Das ist.. ein Anblick, den zumindest ich nicht so einfach vergessen kann. 
Am Abend, als ich heimkam, da wollte ich.. irgendwie nix mehr. Nichts essen, nichts trinken, nicht reden, nichts hören: Ich war durch. Empfand nur noch dieses tiefe Bedürfnis, mich in mein Bett zurückzuziehen, die Decke über mir auszubreiten und die Augen zu schließen. 
"Haben wir denn nicht genug mit unserem Leben zu tun?" hat der Mann geschimpft und ich weiß genau, er hat nur geschimpft, weil er sich sorgte. Das sind dann immer so Momente, in denen ich in mich hineinlächeln muss: Mich beschäftigen sehr viele Dinge; mir gehen viele Dinge sehr oft und sehr tief unter die Haut und manches überwinde ich nie. Aber es.. schwächt mich nicht. Ich muss dann nur Zeit für mich haben, Zeit für die Musik. Und Zeit für einen Pinselstrich. 


Dieses Bild ist eigentlich eine Fotografie, die ich vor einer Weile auf Instagram entdeckte und die mich wirklich ganz sehr berührt. Manchmal denk ich, es gibt viel zu wenig Liebe - und dabei ist Liebe.. doch ein Grundbedürfnis.. Vielleicht, weil die Menschen ja immer denken, sie hätten noch genug Zeit für alles? 

7 Kommentare:

DrSchwein hat gesagt…

Prima letzter Satz.

angelface hat gesagt…

berührend liebe Helma..
da spricht eine kleine Seele zu uns am Morgen, sie ist aufgewacht und möchte gehört werden,
sie hat die Freiheit des loslassens am Meer gespürt und an der ZUwendung geschnuppert die ihr entgegengebracht wird, weiß um die Macht der Liebe und wursctelt sich nun wieder in ihren Alltag durch.
Bewahre dir dieses gefühl, es ist so kostbar und wird immer seltener wo man es spürt, dass die Liebe das wichtgste nicht käufliche im Leben ist..
ein sehr berührender Beitrag, der deine Gedanken so nah zu uns führt...

danke... herzlichst angel

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Angel, mir fehlt irgendwie die Zeit zum Schreiben - und wenn ich dann doch mal dazu komme, dann ist ein einzelner Post angefüllt mit - gefühlt - tausend Dingen, die im Kopf rumschwirren und ob ihrer Fülle kaum sortiert werden können. Für dieses Sortieren brauche ich eigentlich das Schreiben. Nicht selten, und so war es auch gestern, fühl ich mich danach erleichert. Als hätte ich einen schweren Rucksack in die Ecke gestellt.
Oft nehme ich mir vor, mir mehr Zeit für mich und meine Bedürfnisse zu nehmen. Momentan kommt das aber noch zu kurz; genauso, wie vieles anderes auch. Ich sag mir aber auch oft, dass ich mich an die Umstellung von M nach L zurück und dem damit für mich deutlich veränderten Rhythmus einfach nur gewöhnen muss. Dann klappts auch wieder besser mit der Eigenorganisation ;)

FrauHummel hat gesagt…

Das Bild ist so zauberhaft- und drückt so gewaltig viel aus....
Dein letzter Satz ist der, den ich mir (viel zu oft) stelle: habe ich noch genug Zeit? Denn ich liebe das Leben, gehe in ihm auf. Und doch bin ich auch so ein "Denker", der viel zuviele Gedanken wälzt, sich von ihnen gefangennehmen lässt und sich selber das Leben manchmal schwerer macht, als es sein müsste. Um einem herum ist so viel Chaos, die Welt ist Chaos- und trotzdem: ich will teilnehmen. Ich will es verstehen, irgendwie. Denn sich einfach abzuwenden macht es nicht einfacher. Es birgt nur andere Gefahren...
Ich kann deine Zeilen so gut nachvollziehen! Wahrscheinlich, weil es mir oft so ganz ähnlich geht.

Dies und Jenes hat gesagt…

Genug Zeit für alles - bereitet mir gerade schmerzen im Kopf, denn ich werde nicht die Zeit für alles haben wie ich es mir vorgestellt habe. Zeit werde ich sicher haben aber anders. Nich so wie vorgestellt eine feine Zeit zu zweit der Mann und ich. Nicht ganz frei von Sorgen, Verwantwortung, die Gedanken ob ich alles richtig gemacht habe, ob es nicht doch falsch war, ob ich für eine Person richtig entschieden habe.

Ja zu schreiben gäbe es vieles. Ein Buch würde es füllen. Da fällt mir ein. Ja ich werde weiterschreiben. Meine Gedanken sortieren. Klarheit schaffen.

So jetzt aber erstmal Ferien. Drei Wochen. Davon geht es ein paar Tage ans Meer. Die Tage brauche ich wir alle.

Das Durcheinander da draußen versuche ich auszuschalten. Ich muss und will auch nicht (mehr) alles verstehen. Sicher wird die eine oder andere Entscheidung von "denen da oben" mein Leben betreffen, Entscheidungen fordern. Doch das gehe ich gelassen an.

Das Leben ist manchmal nicht fair. Gemein und fies eben.

Wünsche Dir dass du in L ankommst und es genießen kannst.

Liebe Grüße
Ursula

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Frau Hummel, ja genauso empfinde ich das auch: Ich will die Dinge verstehen (können). Manchmal.. Gerade in so Zeiten wie diesen, denke ich allerdings öfter mal, dass ich manchmal vielleicht doch lieber genieße, was ich habe - und weniger nachdenke oder mich mit Dingen beschäftige, die mir nicht so guttun. Weniger aus "wegsehen wollen" als mehr aus "Selbstschutz". Ich will nicht verbohrt werden und mir auch nicht selber die Lebensfreude nehmen. Manchmal ist da mehr Schatten als meine Sonne ertragen kann.
Aber andererseits.. gehört wohl alles irgendwie dazu.
Ich suche sie noch immer, diese gesunde Balance.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Ursula, Dein Urlaub dürfte inzwischen vorbei sein (leider ;)) - und ich hoffe, Du und Ihr habt ihn genießen können.
Zeit für etwas haben - das ist irgendwie Luxus, oder?
Wobei eine Kollegin mich letztens prüfend anschaute, dann lächelte und meinte: "Du trickst dich selber aus" - als es darum ging, dass ich sagte, ich sei aktuell abends oft zu müde für das eine oder andere. Ihre Worte gehen mir seither immer mal wieder durch den Kopf. Vermutlich hat sie recht ;)