Sonntag, 21. Juli 2013

Der gläserne Mensch

In den Nachrichten ab und an, in diversen Ratgebern oder auch öfter mal von den gelben Seiten höre oder lese ich, dass ich im Internet nicht soviel von mir preisgeben soll: "Das Internet vergisst nie, und du weißt nie, wem deine Daten oder Fotos in die Hände fallen!"
Das ist sicherlich richtig.
In den Jahren, in denen ich immer mal wieder im Online-Dschungel unterwegs war, um neue Leute kennenzulernen (doch, das funktioniert wirklich, und ich habe echt fast nur positive Erfahrungen machen können), und wenn ich dort auch echte Fotos hatte, so habe ich immer noch darauf geachtet, dass Mann mich nicht lokalisieren konnte. Jedenfalls nicht, solange ich das nicht wollte.
Und auch wenn man irgendwann mal das Internet erfand, so bleibt ja dessen Entwicklung auch nicht stehen. Nicht umsonst muss man zum Beispiel bei Fratzenbuch immer mal die Privatsphäreeinstellungen ändern. Oder im Blog zur später erfundenen Kommentarmoderation und ähnlichem greifen, um irgendwelchen Vollidioten Einhalt zu gebieten.
Und das Ding mit dem Erkennen von IP-Adressen soll ja auch irgendwie geändert werden. Wobei ich festgestellt hab, dass das ja auch nicht immer stimmt. Ich hab mich nämlich mal selbst lokalisiert. Und festgestellt, dass ich in einem Ort im Rheinland saß. Hmm. Bloß dass ich da noch nie in meinem Leben war..
Es gibt da einen Blog, in dem ich seit Monaten immer mal mitlas, nur ganz unregelmäßig, so als ganz stille Mitleserin (nie was kommentiert oder sonst wie geschrieben), auch bin ich dort als Follower nie in Erscheinung getreten. Insofern habe ich eher nur am Rande mitbekommen, dass da eine angehende Ärztin über ihr Leben schrieb - und über die zarte, aber offenbar tiefere Liebe zu einer Frau, einer anderen Bloggerin, die wiederum Kinder hatte und obendrein Schwierigkeiten, sich zu ihrer lesbischen Liebe zu bekennen.
Heute nun las ich in ihrem Blog, wie verloren, belogen, betrogen und leer sie sich fühlt, die Ärztin: Die andere Frau - es hat sie nie gegeben. Die andere Frau, mit der sie seit über einem Jahr in Kontakt war - war in Wirklichkeit ein Mann. Ein Mann, der offenbar recht ausgeprägte weibliche Wesenszüge besaß und obendrein recht psychologisches Geschick. Wie sonst ist zu erklären, dass eine Frau über ein Jahr lang glaubt, sich mit einer Frau zu schreiben - und sich in diese verliebt?
Andererseits - und diese Frage hallt (noch) unbeantwortet in meinem Kopf: Wie ist es möglich, dass man über ein Jahr lang ausschließlich virtuellen Kontakt zu einem anderen Menschen hat, dass man nie mit ihm wenigstens telefoniert, den Klang der anderen Stimme hört, und sich so in diesen virtuellen Menschen verliebt? Wie ist es möglich, dass man sich so lange "hinhalten" lässt, ohne erfahren zu können, wer der andere wirklich ist?
Wer ist jetzt "schuld" (sofern man denn überhaupt von Schuld reden kann) an dieser Situation: Das Internet, das den Menschen gläsern und doch zugleich unsichtbar machen kann? Oder der Mensch dahinter, der sich eines Mediums bedient und vorgibt, etwas zu sein, das er nicht ist?
Ich meine, wenn aus Gebäudereinigern urplötzlich Seemänner werden können, nur um der Dame am anderen Ende des Landes zu imponieren, dann kann auch ebenso schnell aus einer Frau ein Mann werden - oder umgekehrt. Vor zwanzig, dreißig Jahren sind die Heiratsschwindler via Zeitungsanzeige durch die Lande gereist, um sich zu holen, was sie zu Hause nicht (mehr) bekommen konnten. Mit der digitalen Welt nun ist es einfacher geworden: Man muss nicht mehr von A nach B reisen, man kann sich verstecken, man kann sich so einfach als etwas verkaufen, das man einfach nicht ist.. und sich wenigstens vor dem Screen einen runterholen - entschuldigt bitte. Manch einem mag das ja genügen. CyberSex von heute.
Die Dimension des heute Gelesenen hat mich schon irgendwie... bestürzt. Enttäuschte, verletzte Gefühle, Verrat, Verlogenheit, Scheinwelten. Schmerz, Trauer, Wut auf der einen Seite. Was auf der anderen Seite passiert - wer weiß das schon. Den anderen Blog gibts nicht mehr, den Inhaber schon. So wie auch - dem Erzählen nach - der Seemannsblog urplötzlich verschwand, nachdem er ein Angebot unterbreitete, das er nur eben nicht einhalten konnte.
Man fragt sich, was in solchen Leuten vorgeht und dann wieder sage ich mir: Ich will es eigentlich gar nicht wissen. Mein Leben hat mich gelehrt, erst hinter die Fassade(n) zu schauen, bevor ich etwas glaube, bevor ich vertraue - aber ich muss auch nicht hinter jede Fassade schauen.
Weil nicht das Internet schuld ist und auch nicht die Möglichkeiten, die es bietet.
Am Ende jedenfalls ist es immer der Mensch dahinter. Er lügt, er betrügt, er illusioniert, er spielt und er wechselt. Das ist nichts, was er nicht auch im wahren Leben tut. Nur so ist es eben einfacher.
Heute Abend auf einer Geburtstagsfeier begegnete mir eine junge Französin, Mutter von drei süßen Kindern. Irgendwann erzählte sie mir, dass sie weder Nachrichten liest noch einen TV besitzt und auch sonst jegliche Unterhaltungen ablehnt, die mit hässlichen, gruseligen oder schlimmen Nachrichten kommen: Sie will sich einfach mit nichts belasten, damit sie nachts ruhig schlafen oder ihre Bilder malen kann.
Ob man das nun weltfremd und realitätsfern nennen kann? Ich weiß es nicht. Ich glaube aber, dass sie in jedem Fall ruhiger lebt als vermutlich viele andere. Und sich nicht Gedanken darüber machen muss, ob sie eine Zeit ihres Lebens mit einem Gegenüber verschwendet, den es in Wahrheit gar nicht gibt.
Ich muss jetzt erst mal zu Bett. Die gelben Seiten schnarchen schon. Unüberhörbar echt. Gott sei Dank.

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