Donnerstag, 31. März 2016

Seidenhaut

Vierzehn Tage sind vergangen seit jenem Abend.
Jene Nacht, die mir bewusst gemacht hat, wie endlich alles ist - und dass von einem Moment auf den anderen alles so anders sein kann.
Ich dachte, ich hätte mich wieder aufgerappelt.
Ich dachte, ich hätte wieder zu der Kraft in mir zurückgefunden.

"Meinst du nicht, dass du genug eigene Probleme hast?" fragt Herr Blau ab und an, wenn ich ihm von anderen Schicksalen erzähle, von Begebenheiten anderer, die mich beschäftigen, berühren, die mir dann oft tagelang im Kopf herumgehen.
"Doch, bestimmt", antworte ich dann, "aber ich interessiere mich nicht nur für mich selbst und für mein eigenes Leben. Ich interessiere mich auch für das, was um mich herum ist oder um Menschen, die ich kenne."
Wenn ich darüber spreche, dann nicht, weil ich eine Last in mir trage, die raus muss. Sondern weil ich mich mitteilen möchte. Weil ich Gedanken aussprechen möchte, darüber sprechen möchte, was mich beschäftigt, manches mehr, manches weniger.

Seit jener Nacht vor vierzehn Tagen bin ich schlagartig ruhiger geworden. Da ist so eine Stille in mir, die ich irgendwie nicht in Worte fassen kann. Keine traurige, keine bedrückende Stille - sondern so eine Stille, die mich bewusst aufnehmen lässt, was um mich herum geschieht.
Meine Haut... sie fühlt sich derzeit unglaublich dünn an und lässt zu vieles beinah ungefiltert hindurch.
Ich lese bei Goldi und spür unwillkürlich die Tränen in mir aufsteigen. Unfassbare hilflose Anteilnahme.
Ich lese bei Wolf und bin sehr betroffen. Erinnerungen werden wach an den eigenen Vater..
Ich lese bei Summer und empfinde immer und immer wieder Wehmut, weil ich wünschte, ich könnte diese Zeit noch mal haben: der Junge vier Jahre alt und mein kleiner Goldschatz... Ich wünschte, Entscheidendes ganz anders machen zu können - und ihn wirklich beschützt zu haben.
Ich lese bei Annika und seh sie vor mir, wie sie der gleichaltrigen Obdachlosen einen Zwanzig-Euro-Schein in die Hand legt.
Alle vier Blogger kenne ich nur von ihrem Schreiben, ich kenne sie nicht persönlich. Dennoch nehme ich Anteil an dem, was sie schreiben - und im Moment geht mir das alles doppelt tief unter die Haut.
Und manchmal reißt sie, die Haut, dünn wie Seide.

Seit jener Nacht vor vierzehn Tagen nehme ich mir mehr Zeit für Gespräche, selbst die simplen beim Bäcker. Noch heute werde ich auf das Angebot der E-Mail eingehen und einer Bloggerin die E-Mail schreiben, die mir angeboten wurde, sie schreiben zu dürfen. Seit jener Nacht schaue ich weniger Krimis, höre stattdessen viel mehr Musik. Seit jener Nacht nehme ich die Menschen um mich herum, selbst die in der U-Bahn, bewusster wahr. Halte den Kopf viel öfter gerade und lächle in Gesichter, die mir begegnen. Bin so erstaunt, wie oft das Lächeln erwidert wird - und finde es so schön.

Ich bin so viel weniger ungeduldig geworden - und ich finde es schön.
Wird vermutlich eh nicht lange anhalten. Doch für den Moment... ist alles gut so wie es gerade ist.

"Erzähl deiner Mutter nichts davon, sie weint dann nur wieder", hat mein Vater vor Jahren mal gesagt.
Er glaubt, sie sei schwach, schwächer als er - weil sie Gefühl, Anteilnahme und Tränen zeigt, im Gegensatz zu ihm.
Ich aber glaube, dass sie sehr viel stärker ist als er sich vorstellen kann.

10 Kommentare:

A. hat gesagt…

Man wird demütig und dankbar nach bestimmten Erlebnissen. Und alles dringt ungefiltert durch. Das -und nicht nur das- sind Phasen, in denen ich noch weniger verstehe, warum ich mich von Filmen/Büchern "unterhalten" lassen soll, in denen Menschen leiden/bloßgestellt werden. Das unterhält mich nicht. Das macht mich krank.

Und du bleib mal so lange wie möglich in diesem Zustand, in dem alles gut ist, wie es gerade ist. Ist gut so, oder? ;)

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Es kommt drauf an: Sendungen bei RTL & Co. vertrage ich nicht mehr - weil es viel zu wenig um den Menschen selbst geht.
Dafür aber sah ich letztens eine Reportage über eine junge Frau, die für eine Woche in eine Wohngemeinschaft eingezogen ist. Eine Wohngemeinschaft ausschließlich mit Bewohnern, die unter Alzheimer (oder Demenz) leiden. Natürlich ist einem bewusst, dass der Umgang vor der Kamera ein anderer ist als im Alltag, wenn keiner hinschaut. Dennoch... Ich war berührt und fasziniert gleichermaßen. Berührt davon, wenn man an den eigenen Partner keine Erinnerung mehr hat, an sein früheres Leben keine Erinnerung mehr hat ("War ich eigentlich mal verheiratet?") - und fasziniert davon, wie die - in diesem Fall ausschließlich - Frauen ihr Leben dort gestalteten. Basteln, Karten spielen, Musik hören, Witze reißen (meist anzügliche ;)) oder einfach nur beieinander sitzen und fernsehen.
So oft mich ein Mensch mit seinen Aktionen erschreckt, so sehr interessieren mich Menschen dennoch in ihrer Vielfältigkeit. Auch dann, wenn nicht immer alles gut ist. Weil das Leben so nicht ist: Es ist einfach nicht immer alles gut - und das ist eben auch ein Bestandteil unseres Seins.

Und ja - im Moment ist wirklich alles gut so wie es ist. Während Hr. Blau schon wieder "freidreht" und sich über Kinkerlitzchen aufregt, lehne ich mich entspannt zurück, genieße ein Schoko-Ei aus Mutterns Päckchen und denke lediglich: "Wat willer?" :)

Anonym hat gesagt…

Liebe Helma,
du hast so eine wundervolle, starke Art, dich mit den Dingen auseinander zu setzen und doch noch immer den Punkt zu finden, über den du sagen kannst, dass alles gut so ist. Bewundernswert ♥
Ich wünsche dir viel Schönes und Erholsames in der nächsten Zeit!
Liebe Grüße
die Eremitin

A. hat gesagt…

Reportagen (gute) sind was anderes, finde ich. Die sind das echte Leben und das gehört nun mal dazu. Meine Einschränkung gilt für Filme (sensationsheischend/krawallig) oder schrottige TV-Formate. Alles andere wäre in einer Käseglocke leben und irgendwann böse auf der Erde aufschlagen. Und spätestens die regelm. Besuche im Pflegeheim konfrontieren mich eh mit dem "echten Leben" ohne Zuckerguss. *seufz*

Herr Blau...ts...fahr den mal wieder runter! ;D

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Anna, ach Du meinst diese krachbummschießkaputt-Filme, oder? :) Nä, die kann ich sowieso nicht ab.

Liebe Eremitin, danke! Ihr werdet ja lesen, ob sich das in der nächsten Zeit so erfüllt ;)

Anonym hat gesagt…

Liebe Helma, und nun habe ich Gänsehaut... mir geht es wie dir. Ausgelöst durch Punkt. Aufmerksamer, ruhiger, bewusster durch das Leben. In Berlin immer Kleingeld in der Tasche, obwohl ich selbst nur noch wenig in der Geldbörse habe. Ich gebe bewusst und gern. Ich lächle bewusst und gern. Manchmal überkommen mich die Emotionen und dann weine ich. Und ich lasse es zu. Es ist alles endlich. Jede Zeit, jedes Leben. Die Bewusstheit darüber, lässt mich ruhiger werden und aufmerksamer. Achtsamer.
Ich lese so gern bei dir!
*umarm*

Summer

Anonym hat gesagt…

Liebe Helma, und nun habe ich Gänsehaut... mir geht es wie dir. Ausgelöst durch Punkt. Aufmerksamer, ruhiger, bewusster durch das Leben. In Berlin immer Kleingeld in der Tasche, obwohl ich selbst nur noch wenig in der Geldbörse habe. Ich gebe bewusst und gern. Ich lächle bewusst und gern. Manchmal überkommen mich die Emotionen und dann weine ich. Und ich lasse es zu. Es ist alles endlich. Jede Zeit, jedes Leben. Die Bewusstheit darüber, lässt mich ruhiger werden und aufmerksamer. Achtsamer.
Ich lese so gern bei dir!
*umarm*

Summer

Goldi hat gesagt…

Du Liebe, Danke Dir und entschuldige:-*

Bevor ich weiter schreibe:

Du hast die Kraft und Du hast Dich aufgerappelt, aber so wie Deine Söhne keine kleinen Jungs mehr sind, so bist Du auch nicht mehr die Frau, die Du vor 15 Jahren warst. Deine Kraft ruht in Dir, sonst wärst Du nicht ruhig, Du nimmst Dich, Herrn Blau, die Jungs, Dein Umfeld, die die Du liest intensiver wahr. Wie sollte das möglich sein, wenn Du nicht die Kraft dazu hättest?

Seidig dünne Haut ist Schutz (hast Du mal versucht ein gespanntes Seidentuch mit der flachen Hand einzudrücken?), sie gibt nach, umschmeichelt, hält trotz der Dünne warm und sie lässt Dich emotional beweglich bleiben.

Vielleicht war der Filter vor dieser Zeit stärker, vielleicht hast Du aber mit der Seide auch einfach die Möglichkeit für Dich entdeckt vieles schöner, wärmer und weicher zu sehen, das grobe abprallen zu lassen und nur das, was Dir gut tut durch die fein verwebten Fäden auf- und anzunehmen? Ein Blickwinkel? Ich weiß es nicht, ich schreibe einfach,ohne groß zu Denken bzw. zu reflektieren.

Zu meinem Eintrag von heute:
Jetzt wo ich Deine Zeilen lese, wird mir erst bewusst wie schlimm es sich für Dich und wahrscheinlich Andere liest. Das war gar nicht gewollt.

Ich bin traurig, ja, aber so wie Du sehr ruhig. Er war nicht der Erste und wird wahrscheinlich auch nicht der Letzte sein, der vor mir geht, ein Thema das uns alle mehr oder minder begleitet.

Es ist unfassbar, traurig und ungerecht ja, aber die Dankbarkeit für eine gemeinsame Zeit, für gemeinsam verbrachte Stunden ist auch da. Ebenso wie die dünne Haut.

Ich kann schon seit einigen Monaten bestimmte Formate nicht mehr sehen, will verschiedene Talkrunden nicht sehen, weil ich mich aufrege und an manchen Tagen vermeide ich selbst die Nachrichten, einfach weil ich es nicht ertragen kann. Aber dafür gibt es eben auch bei mir die anderen warmen Momente, das Lächeln von Menschen weil man sie wahrnimmt und anlächelt, kleine Dinge die nichts kosten, außer einen Moment des innehalten.

Und Momente wie dieser hier, bei Dir lesen und auch wenn der Kaffee immer noch aussteht sich auf eine Art nah zu sein, die berührt und dafür Danke ich Dir, denn mit Deinen Worten zauberst Du immer wieder Momente der Nähe und Wärme :-*

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Goldi, wofür entschuldigst Du Dich???? Das musst Du nicht!!! Du bist nicht verantwortlich dafür, wer was wie aufnimmt, was Du schreibst!

Zu den TV-Formaten: Bei mir ist das seit Monaten genauso - und inzwischen geht es mir auch wieder besser. Auch meide ich nach wie vor FB, seit 8 Monaten schon, und vermisse nix.
Ja der Kaffee steht noch aus - aber das nächste Frühjahr, der nächste Sommer kommt ganz bestimmt - und wer weiß, wann Hr. Blau & ich uns mal auf Tour begeben können - oder ich alleine :)

FrauHummel hat gesagt…

Liebe Frau Ziggenheimer, du beschreibst da eine Veränderung, die ich selber bei mir seit ein paar Jahren beobachte. Ich habe oft das Gefühl, dass alles, was ich sehe, höre, wahrnehme auf direktestem Weg in mein Innerstes schiesst und mir jede Menge Anlass dazu gibt, diese Wahrnehmungen in Gedanken zu verarbeiten. Vieles, was mich früher relativ wenig tangiert hat kann heute Anlass dafür sein, dass ich entsetzliche viele Gedanken darum kreisen lasse. Manchmal tut mir das wirklich nicht gut, und deshalb halte ich mir das alles vom Leib, so gut es eben geht. Ich schaue kaum noch Nachrichten. FB lese ich nicht mehr, weil da so viel Trauriges und Schlimmes zu sehen ist- alleine diese furchtbaren Videos teilweise, wo es um Tierquälerei und ähnlich Entsetzliches geht...! So richtig dünnhäutig bin ich geworden während der schlimmen Krankheit meiner Mutti und erst recht nach ihrem Tod. Diese Zeit hat mich extrem geprägt.... Aber diese Dünnhäutigkeit hat auch ihre Vorteile, denn man nimmt auch das Schöne im Leben viel intensiver wahr! Und so hat, wie immer, mal wieder alles seine 2 Seiten, nichtwahr??
Ich glaube, es wäre gar nicht mal so verkehrt, wenn noch ein paar Menschen mehr sich eine dünne Haut zulegen würden. Auf dieser Welt ist so viel Roheit, Gier nach Macht und Geld, egal, wer, was und wieviel dabei auf der Strecke bleibt, dass mir manchmal übel wird. Man kann nur hoffen, dass viele Menschen sensitiver werden und spüren, um was es auf dieser Welt wirklich geht.....
Hab ein feines WE, liebe Grüsse!