Freitag, 11. März 2016

Synapsenkoller

An diesen von einem Freund "adoptierten" Begriff musste ich gestern denken, als ich mich von L Richtung M bewegte. Der recht bewegte Wellengang meines Lebens, das ständige Auf & Ab in jeglicher, vor allem aber emotionaler Hinsicht lässt mich manchmal tatsächlich wie einhundert Jahre alt fühlen UND auch aussehen. Herr Blau formuliert das dann zumeist recht diplomatisch: "Du schaust müde aus heute" und ich nicke dann nur kurz und knapp und wissend.
Aber wenn diese Form eines Synapsenkollers, dem ich schon längerfristig unterliege, ein was Positives bewirkt, dann eben zumindest die Geschmeidigkeit des Denkens. Einrosten jedenfalls werde ich vermutlich so schnell in meinem Oberstübchen nicht.

"Sobald es um deine Kinder geht, kratzt und beißt du um dich", wurde mir vor zwei Tagen gesagt. Ja vielleicht ist das so. Da unterscheide ich mich wohl kaum von einer Mama, die ihre Kinder nicht nur dafür auf die Welt gebracht hat, um das Kindergeld zu kassieren. Manchmal denke ich dann an meine Großmutter väterlichseits, von der mir meine Mama erzählte, dass die ihre drei Jungen wie eine Löwenmutter verteidigt und für sie gekämpft hatte, damit sie überleben. Andererseits aber denke ich eben auch, dass es nicht allein die Tatsache ist, für wen ich kämpfe - ob für die eigenen Kinder oder auch für andere. Meine Schwäche, glaube ich, liegt bei den (vermeintlich) Schwachen. Eine starke Persönlichkeit behauptet sich von allein, die richtet sich auch von allein auf, wenn es unfair wird. Hingegen die schwächere Persönlichkeit zuckt zusammen oder zurück - und wenn es dann unfair wird, dann mutiere ich zu Mrs. Hulk.
Vor zwei Tagen führte ich ein etwas längeres Gespräch mit meiner Mum.
Als mein Sohn noch kleiner war, etwa 5. Klasse, da sprach er viel mit sich selbst. Die von einer Lehrerin vermutete Schizophrenie bestätigte sich nicht: "Deutlichstes Merkmal der Schizophrenie ist, dass der Patient mit Menschen spricht, die gar nicht da sind, von denen er aber glaubt, dass sie da sind. Ihr Sohn jedoch hat in seinem Kopf eine eigene Welt aufgebaut, in derer sich die Figuren darin unterhalten. Das entspricht zum einen einer sehr großen Phantasie und Vorstellungskraft und zum anderen einem großen inneren Druck, von dem er sich in dieser Form freimacht."
Er besitzt die feinsten Antennen, die ich je an einem Menschen kennen gelernt habe; er spürt sofort, wer ihm "wohlgesonnen" ist und wer nicht - und zieht sich sofort innerlich entsprechend zurück. Verträumt ist er wie ich. Zurückhaltend am Anfang, so wie ich. Er wollte mir gar nicht glauben, dass ich damals, als ich mit 20 Jahren nach Sachsen kam, volle drei Monate mit keinem einzigen Kollegen auch nur ein einziges Wort sprach - weil ich mich das nicht traute. Bis eine etwa gleichaltrige Kollegin zu mir kam und mich ansprach: "Na sag mal, was bist du denn für eine?" Erst danach taute ich nach und nach auf. Weil man auf mich zugegangen war. 
Wiederum ein paar Jahre später bescheinigten mir meine Kollegen: "Deine Kinder haben dir gut getan. Du hast dich durch deine Kinder erst richtig entwickelt."
Heute kann sich keiner, der mich von damals nicht kennt, vorstellen, dass ich mal so ein Mäuschen war, das keinen Piep von sich gab.
Unsere Gesellschaft heute ist laut und schnell. Wer in diesem Strom nicht mitschwimmt, geht zumeist unter und ertrinkt - oder er findet einen Halm, an dem er sich festhalten kann.
Und ich frage mich: Müssen wir alle denn laut und schnell sein? Wollen wir niemandem mehr die Zeit lassen, anzukommen, sich zu entfalten, einander zuzuhören? Können wir keine Geduld und Gelassenheit mehr aufbringen, weil die Zeit heute eben eine andere ist? Time is Money?
In Blogs lese ich immer wieder mal "er/ sie denkt zu langsam, bewegt sich zu langsam, passt nicht".
Als ich Herrn Blau kennen lernte, wirkte er auf mich ziemlich angespannt und rastlos. Oft habe ich gesagt: "Lass doch mal los" und er antwortete: "Kann ich nicht, ich weiß nicht, wie das geht."
Im Grunde kann er es heute noch nicht, aber er ist spürbar gelassener geworden.

Ist eine Kindheit noch eine Kindheit, wenn wir mit 3 Jahren schon erste englische Begriffe lernen, in den Vorschulkindergarten gehen, ein Instrument spielen und tanzen oder singen lernen und die Freizeit so vollgepackt ist, dass bereits das Grundschulkind einen Kalender braucht?
Wie oft habe ich letztes Jahr bei Facebook Postings gelesen, in denen die Kindheit von früher vermisst wird. Dann denke ich an meine Brüder und mich. Als wir draußen herumtobten, auf Bäume kletterten, vom Rad stürzten oder in Jauchegruben fielen. Uns hat keiner gleich zum Logopäden oder Therapeuten geschickt und für alles, was irgendwie anders war, eine Diagnose gestellt. Man hat uns einfach Kind sein lassen, mehr oder weniger wild. Die Pubertät hat dann eh vieles reguliert, das nächste der erste Freund, die erste Freundin und das Leben den Rest.
Wir hatten die Zeit.

Ist mein Sohn Autist? Besitzt er autistische Züge? "Ich denke das nicht", sagte meine Mum, die meinen Sohn bis zur 6. Klasse jeden Sommer in den Ferien bei sich hatte. "Er ist nur sehr schüchtern, solange er denkt, dass er nicht dazugehört. Da kann man nicht drauf warten, dass er auf einen zukommt. Da muss man hingehen, auf ihn zugehen. Oder sich aber nicht darüber beklagen, dass er so still ist. Denke mal dran, wie du früher warst."
Ich habe es ja nicht vergessen.
Und ihre Worte bestätigten mein eigenes Bauchgefühl.
Bestätigten auch die Auseinandersetzungen, die Herr Blau und ich zuweilen führten und in denen ich ihm sagte, dass es einfach sei, eine Nuss zu knacken, die eh schon halb offen ist. Dass sich aber niemand die Mühe macht, auch eine geschlossene Nuss knacken zu wollen. Weil jeder nur noch mit sich selbst beschäftigt sei. Und das sei es nun? Die Gesellschaft aus offenen oder halboffenen Nüssen - und der Rest geht auf die Halde?

Mir gings nicht so gut die Tage. Ich schlief schlecht und bei geringsten Anlässen brach der Juckreiz erneut aus. Ja, ich glaube, dagegen hilft letztlich auch kein Kokosöl. Seit Anfang Dezember habe ich schlappe 7 Kilo abgenommen, eine Erkrankung folgt der anderen, sei es Lunge, sei es Niere.
"Du musst zur Ruhe kommen", werde ich oft von mehreren Seiten gemahnt, und dann möchte ich mittlerweile am liebsten aufschreien "Ja dann lasst mich doch auch verdammt noch mal zur Ruhe kommen!"
Einen Tag ist es so, den nächsten Tag wieder anders.
Synapsenkoller vom Feinsten - der Kopf läuft auf Hochtouren. Kein Wunder irgendwie, dass ich total durcheinander träume und Herr Blau mich manchmal weckt, weil ich im Schlaf hyperventiliere oder weine.

Gestern Mittag musste ich im Nachhinein dann über mich lachen. Wie schnell ich mich auf eine Situation einstelle. Müde nach der Nacht und den letzten Auseinandersetzungen bzw. Diskussionen im Job. Müde nach dem Frühstück mit Sohn 2 und der Klärung der letzten Formalitäten, die wir noch zu erledigen haben, bevor er ab April übergangsweise zum Bund geht. Dann klingelt das Telefon und der Vermieter der Wohnung, die wir vergangenen Samstag besichtigten und die unser absoluter Favorit war, sagt zu mir: "Ich wollte Ihnen nur sagen, dass wir uns das durchaus mit Ihnen vorstellen könnten."
Ich geriet in Nullkommanix aus dem Häuschen! Gerade noch ruhig und still und maulfaul, sprudelte ich vollkommen über und so schnakten wir ungefähr zwanzig lustige Minuten lang, witzelten und redeten und er sagte: "Eigentlich will ich ja nur sicher sein, dass ich ordentliche Leute kriege, die nicht die AfD wählen" und beinah hätte ich auf meinen Blog verwiesen: "Lesens mal da und dort, da könnense ganz beruhigt sein" - hielt dann aber freilich trotz allem Überschwangs an mich.
Oder er erwähnte, dass der Vormieter gerne die Bäume vorm Haus deutlich beschnitten haben wollte, weil ihm das Licht fehle - während ich fast vom Stuhl fiel: "Lassen Sie die Bäume bloß wie sie sind! Es gibt doch eh schon viel zu wenig Grün in der Stadt!"
Und so können wir nun Ende April, Anfang Mai die Wohnung beziehen, die vor allem Herrn Blau's Kriterien entspricht: von der Lage, vom Preis und so weiter her. Das Zimmer für mich zum Arbeiten ist kleiner als gedacht, ein Ankleidezimmer gibts gleich gar nicht - aber die Wohnung selbst ist wirklich ein Schnuckel vor dem Herrn - und ich... ich war ja war Zeit meines Lebens kompromissbereit!
Jedenfalls machte ich mich so euphorisch auf Reisen, dass selbst der Krankenwagen mit Blaulicht mir Platz machte auf der Autobahn. (Ich glaube ja immer noch, dass das Auto dran schuld ist: Ich habe das gerade mal ein halbes Jahr - und schon diverse Strafzettel mit ordentlich Gebühren und auch einem Punkt einkassiert. Ist mir zuletzt 2003 so gegangen. Es muss einfach am Auto liegen!)

Und nun? Bin ich wieder hier in M, bin müde, still - aber der Juckreiz hat etwas nachgelassen. Dafür träumte ich letzte Nacht, Herr Blau hätte ein Wochenende mit einer anderen Frau verbracht - und fand das nicht mal schlimm. Während ich alle meine Sachen zusammensuchte und allein bei dem Gedanken, wie er in einer anderen Frau steckte, wahnsinnig wurde. Als ich heut Morgen durch seine Berührung erwachte, war ich so durcheinander, dass ich ihn beinah angefaucht hätte: "Nimm bloß deine Finger von mir!" - aber glücklicherweise realisierte ich rechtzeitig, dass ich eben nur wieder geträumt hatte.
Freut Ihr Euch auf das Wochenende? Ich mich auch!

8 Kommentare:

~ Clara P. ~ hat gesagt…

Herzlichen Glückwunsch zur neuen Wohnung :)
Und der Rest - möge es sich entwirren und beruhigen. Ich glaube, im Moment laufen ganz viele - einschließlich mir - auf Sparflamme. Es kann nur besser werden - noch 10 Tage bis Frühlingsanfang und die Temperaturen sollen endlich etwas höher klettern.

Lieben Gruss
Clara

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Danke Clara. Laut meiner Wetter App wirds hier nächste Woche jedenfalls wirklich richtig gemütlich. Hoffentlich ändert sich das nicht noch :)

A. hat gesagt…

Auch von mir Glückwunsch zur neuen Wohnung. Aber Frau Ziggenheimer... pass auf dich auf. Ich möchte jetzt wirklich nicht wie eine "Eso-Gesundheitsuschi" klingen, aber dein Körper gefällt mir nicht. *g* Also, weißt schon, wie ich das meine, ja? ;D

Luna hat gesagt…

Liebe Helma,

herzlichen Glueckwunsch zur neuen Wohnung!

Und falls Dir Alles zu bloede wird: Komm doch einfach fuer ein paar Tage hier in Irland vorbei. Noch sind wir hier und haben Platz. ☺

Goldi hat gesagt…

Hah, die Wünsche haben geholfen. Ich freu mich für Euch und wünsche viel Spass beim einpacken, umräumen, auspacken, neu gestalten und und und. Solch einen Vermieter wünsch ich mir auch.

Die neue Wohnung nimmt sicher dann auch wieder Anspannung raus und passend zum Frühling habt ihr dann einen Neustart mit wunderschönen Bäumen vorm Fenster.

Übrigens nicht vergessen: Du bist toll.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Ihr Lieben, ich danke Euch! Ja Anna, ich weiß, wie Du das meinst ;) Mir gefällt er auch nicht.

Liebe Luna, ja, ich hab da noch eine Einladung nach Irland offen, da wohnt nämlich noch jemand, den ich unbedingt mal besuchen möchte - und Herr Blau hat gesagt, er käme sehr gerne mit! Mal sehen, wie wir alles unter einen Hut bekommen, denn nach Indien gehts ja dieses Jahr auch noch.

Liebe Goldi, als Neustart empfinden Herr Blau und ich den Umzug auch - in so einiger Hinsicht. Wir freuen uns total drauf!!
Danke :*

Frau Vau hat gesagt…

Oh, das mit der Wohnung ist toll!! Das zeigt mal wieder, dass die "richtige" Wohnung, wie alles, was man wirklich braucht, auch irgendwann kommt!
Und das mit den Synapsen... mir gehts leider momentan genauso. Wirre Träume, ich schlafe schlecht.. und so weiter. Liegts am Frühling? Ich hoffe doch - denn lange halte ich das nicht mehr durch.
Und auch sonst - ich stimme allem absolut zu! Mein Sohn ist so ein "Opfer" des Schnell-Schnell-und-nicht-genau-Hinsehens. Er wirkt langsam, ist aber eigentlich nur zurückhaltend und ruhig, leider hat er den Nachteil, mit zwei Weibern aufgewachsen zu sein, die schnell und zackig sind - da fällt so ein blödes Urteil von der "Außenwelt" leider ziemlich schnell und unüberlegt. Dabei ist er ein so toller Kerl, der trotz seiner unendlichen Probleme seinen Weg macht und ich bin jeden Tag megastolz auf ihn.
Jetzt erst mal viel Spaß beim Umzug! (Ich liebe Umziehen - bis auf das Ein- und Auspacken, das Schleppen und den Stress - aber eine neue Wohnung kennenlernen, das Einrichten planen, die Farben auszusuchen etc - das ist wunderbar! Freu dich drauf!)

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Frau Vau, da gabs doch mal so n norwegisches (glaub ich) Sprichwort: "Das Glück kommt zu dem, der warten kann" - oder so :)
Ob dieser Synapsenkoller am noch fehlenden Frühjahr liegt? Ich bin nicht sicher, höre aber von so einigen, dass sie auch schlecht schlafen etc.
Die Zeilen über Deinen Sohn berühren mich echt total - es ist, als würdest Du von meinem schreiben. Auch ich sehe so viel Positives an meinem Sohn - neben den Dingen, die er tatsächlich nicht kann. Na und? Sind wir eine Gesellschaft aus Alleskönnenmüssern?
Am meisten bedrückt hatte mich die Aussage: "Sollte sich das mit Autismus bestätigen, dann wird es auch für ihn besser, weil es dann für solche die passenden Arbeitsplätze gibt."
Ich hatte jetzt ein paar Tage Zeit, diese Worte sacken zu lassen. Die vielleicht auch nicht so gemeint waren wie ich sie jetzt für mich reflektiere.
"Für solche" wie ihn.
Autismus hin oder her - der ist ja tatsächlich nicht mal als fragliche Diagnose aufgestellt. Aber die zentrale Frage, die mich seither noch mehr beschäftigt: Gibt es nur eine Klassengesellschaft? Die Gruppe der Schnellen und Lauten hier, die Gruppe der Langsamen und Leisen dort, die wiederum nächste Gruppe der Menschen mit Einschränkungen da.. Und so weiter und so weiter. Ich kann das nicht so nachvollziehen - auch wenn ich mir relativ sicher bin, dass es nur gut gemeint war. Aber ist gut gemeint auch gut gemacht?
Gibt es keine Gemeinschaft mehr, in der die Starken die Schwachen stützen - und in der die Starken von den Schwachen lernen? In der man gegenseitig gibt und nimmt?
Wer nicht passt, wird "ausgesondert" und zur Gruppe der zu ihm passenden gesteckt?