Freitag, 10. Februar 2017

Das Leben nach dem Sterben



Ich bin nicht sicher, ob es mir gelingt, diesen Post (aus Gründen) nicht all zu persönlich zu schreiben, aber ich möchte es versuchen..

Ich bin das mittlere von drei Kindern und wie es bei vielen "Sandwichkindern" so ist, gehen sie zwischen ihren Geschwistern unter - oder sie empfinden es zumindest so. Schon recht früh habe ich mir etwas für mich selbst gewünscht, das nur mir gehört. Auch und vor allem Liebe. Wie wenig ich tatsächlich damit umgehen konnte, zeigte mir die erste "große" Liebe: Mehr als einen einzigen schüchternen Kuss vor der Haustür gab es nicht, er wagte es nicht und ich erst recht nicht.
Die erste zaghafte Beziehung scheiterte bereits nach wenigen Wochen, weil er einfach keine Geduld mit mir hatte.
Die erste richtige Beziehung scheiterte aus verschiedenen Gründen und weil ich meinen heutigen Ex-Mann kennen lernte und von zu Hause fortging. Damals glaubte ich, ich wäre am Ende meiner Reise angekommen und das würde von nun an mein (hoffentlich erfülltes) Leben sein. Glaubte, dass die Ohrfeige ein Ausrutscher war. Dass Beleidigungen und Erniedrigungen ja nicht von Herzen, sondern "nur" aus der Wut heraus kamen, an der ich möglicherweise auch schuld war. Weil, eigentlich liebte er mich doch, auch wenn er immer ausführte: "Ich muss dir nicht sagen oder zeigen, dass ich dich liebe, du weißt auch so, dass das so ist und außerdem kann ich das auch nicht so zeigen." Wenn ich genau diese sechzehn gemeinsamen Jahre betrachte, über die ich heute keine Lust mehr zu sprechen habe, die mir aber immer noch 14 Jahre nach dem Ende - wie gerade jetzt - eiskalte Finger und ein Zittern verursachen - war es vermutlich nur eine Frage der Zeit und mit Sicherheit auch nicht schwierig, mich in einen Mann zu verlieben, der so ganz anders war.
Mir eröffnete sich damit eine bis dahin völlig unbekannte Welt und ich fand heraus, dass all mein sehnsüchtiges Träumen und Verlangen tatsächlich nicht nur in Kinofilmen existierte, sondern dass ich einfach nur den falschen Mann geheiratet hatte. Ich kann nicht beurteilen, ob ich bis dahin eher unscheinbar gewesen war, aber ich kann zumindest sagen, dass ich in diesem einen Jahr angefangen habe, mein eigenes Ich zu entwickeln. Ich fand heraus, was ein Milchkaffee ist und dass ich die Farben rot und weiß liebe. Dass ich keine blond gefärbten Haare mehr wollte und dass mir an der Grenze zum erheblichen Untergewicht einige Kilogramm mehr durchaus besser standen - und ich trotzdem immer noch eine Frau war, die man lieben konnte. Dass Liebe sich aber auch nicht darüber definiert und Liebe auch vor allem ein Miteinander bedeutet. Eine Zweisamkeit, die am Vormittag des 3. Aprils 2003 von jetzt auf gleich endete. Viel zu viele Fragen, auf die keine Antworten mehr kamen. Viel zu viele Empfindungen, die kein Ventil mehr hatten. Viel zu viel Schmerz, dessen Abgrund mich kaum tiefer reißen konnte. In dieser Zeit habe ich nicht gelebt, ich habe funktioniert. Tagsüber eine krampfhaft aufrecht erhaltene Fassade, die nur nachts komplett demontiert werden konnte, wenn keiner hinsah und keiner zuhören konnte. Dieses elende Loch in der Brust, das ich nicht zu schließen vermochte.
Man glaubt, man steht niemals mehr auf und manchmal glaubt man, dass das auch egal ist, ob oder ob nicht. Man ist nicht mehr man selbst, man sieht nur noch nach außen so aus, während in einem drin alles schon tot ist.
Genau dasselbe ist mir drei Jahre später an einem Tag im August noch mal passiert.
Da fragt man nichts mehr, da fühlt man nichts mehr.
Man hadert mit sich und der Welt, warum und wofür es das gebraucht hatte. Diese Frage führte mich immer wieder zu einer Erkenntnis zurück: Ohne dem wäre ich noch immer in dieser Ehe, vermutlich. Was bis heute dann aus mir geworden wäre, darüber denke ich nicht nach. Ich weiß nur, dass alles passieren durfte, aber nicht das. Nie nie wieder dieser Mensch und diese Ehe. Dann lieber allein als so.
Und ich glaube, dass genau hierin mein "Motor" liegt. Der, der mich antreibt, für mich und für meine Vorstellungen einzutreten. Ich glaube an die romantische, zärtliche Liebe, weil für mich persönlich Liebe ohne Romantik nicht geht. Ich glaube daran, weil ich sie erfahren habe. Weil ich sie heute leben kann. Mir sind nach 2003 einige Menschen begegnet, die gut waren, die auch gut zu mir waren oder für mich gewesen wären. Und trotzdem war es einfach... nicht DAS. Wie oft habe ich mit mir gehadert und gedacht: "Stell dich doch verdammt noch mal nicht so an, was willst du eigentlich, so bleibst du immer alleine."
Aber ich konnte niemanden neben mir aushalten, der mich nicht erfüllte. Der es nicht vermochte, die Sehnsucht in mir zu stillen und mich ankommen zu lassen. Wenn du neben jemandem liegst und daran denkst, dass dir einfach was fehlt, dann weißt du, dass du nicht da bleiben kannst, wo du gerade bist. Dann war ich doch lieber allein. Anfangs ohne, später aus eigener Überzeugung heraus.

Betrachte ich mein Leben heute, sehe ich, dass ich um so vieles weitergekommen bin. Dass ich sicherlich liebend gern auf die eine oder andere Erfahrung verzichtet hätte, weil sie mir einen Teil meiner Unbeschwertheit genommen haben. Weil sie mich verändert haben und ich mir nicht sicher bin, ob das nun gut für mich war oder nicht. Aber ich bin innerlich nicht mehr tot. Heute bin ich mehr denn je ich selbst, auch wenn ich damit nicht "jedermanns Geschmack" bin und auch nicht jeder das gut so findet wie es ist. Aber ich bin ich, ich muss und ich will auch nicht jedem gefallen und mit all dem Gewesenen habe ich zumindest gelernt, für mich selber einzustehen und zu kämpfen. Um da hinzukommen, wo ich hin wollte, als Mädchen, als junge Frau und auch jetzt noch immer.

Wenn das Gewesene der Preis dafür war, dann war er sehr hoch, verdammt hoch.
Das Leben heute aber ist ein so viel besseres, schöneres als es vor der Begegnung 2002 war. Und das ist es, was am Ende zählt.




11 Kommentare:

Nelly aus Sachsen hat gesagt…

Der Schritt aus der emotionalen Gewalt 8auch der körperlichen) ist so unglaublich schwer. Oft glaubt man daran zu zerbrechen. Und der Weg ist so verdammt lange und anstrengend.
Aber irgendwann fällt einem alles leichter und dann...dann hat man eine unglaubliche Kraft.
Sehr bewegende Geschichte

Moya hat gesagt…

Ein sehr sehr beruehrender Text.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Genau das ist es Nelly! Dann hat man eine unglaubliche Kraft, die man aber genau genommen schon vorher hatte, man wusste es nur nicht. Und es ist auch das Wissen um diese eigene Kraft, die wirklich gut tut. Weil sie einem selbst Sicherheit schenkt.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

In mir zittert alles grad, Moya, weil so vieles wieder hochgekommen ist. Aber heute schaffe ich es, mich selber davon wegzubringen und den Fokus wieder darauf zu richten, was gut, wichtig und vor allem richtig in meinem heutigen Leben ist.

Nelly aus Sachsen hat gesagt…

Ich kann das so nachfühlen. Ich bin kurz vorm Weinen

A. hat gesagt…

16 Jahre. Liegt mir beim Lesen deines Posts wie ein Klotz im Magen. 16 Jahre...

Irgendwie ist mir übel und mir fehlen auch gerade die Worte. Aber ich stell dir mal einen Kaffee hin oder lieber Kakao?

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Lieber Kakao... Ich hatte heute morgen schon einen Kaffee und mehr darf ich ja im Moment nicht..
Und ja, ich kann es heute gar nicht mehr glauben, dass das ganze 16 Jahre so ging. Dass ich einfach nicht eher den Absprung gefunden habe. Aber Hauptsache, ich bin da weg.

Goldi hat gesagt…

Ich konnte heute nicht ganz lesen, aber das was ich gelesen habe... drück Dich Du liebes Strahle...

Pyrgus hat gesagt…

Meiner Geschichte so ähnlich!Von 1986 bis 2003. Und auch diese gutmütigen Gedanken bei jeder Quälerei, immer dieses Gefühl, selbst schuld zu sein. Die ständige Hoffnung,dass es besser werden wird wenn ich nur endlich seinem Ideal entspräche. Irgendwann dann auch endlich der Mann, der es wert ist und mir gezeigt hat, dass es die Art von Liebe, an die ich immer geglaubt habe, wirklich gibt.

Vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar, hab mich gefreut! Und geantwortet :)
Lieben Gruß
Gabi

Lily hat gesagt…

Ich hab mir alles ausreden lassen. Meinen Geschmack, meinen Rest an Selbstliebe, meine Wahrnehmung, meine Freunde. Meine Freude an meinem Kind, was das Schlimmste war.
Ich bin seit 18 Jahren in keiner festen Beziehung mehr, und das ist immer noch gut- auch wenn ich mich manchmal frage (und auch von anderen fragen lassen musste) ob ich nicht zu anspruchsvoll bin. Aber nein. Besser ein ehrlicher leerer Platz neben mir als ein Loch im Herzen. Danke, Helma.

Nila hat gesagt…

Liebe Helma
Ich bin einfach nur sprachlos. Weiß gar nicht, was ich zu diesem berührenden Text schreiben soll. Der Kloß sitzt einfach zu tief.
Herzlichen Dank, dass du diesen Artikel veröffentlicht hast.
Liebe Grüße
Nila