Dieses Mal habe ich es nicht rechtzeitig geschafft. Es ist Null Uhr Vier.
Vor vier Minuten hat Dein Geburtstag geendet - nun bist Du zwanzig Jahre alt und empfindest dabei eine "Endzeitstimmung", wie ich selbst diese zu meinem Achtzehnten gefühlt hatte: "Jetzt bist du erwachsen, jetzt ist die Kindheit vorbei, jetzt dürfen sie alle möglichen Sachen von dir erwarten - und jetzt wirst du ganz schnell alt werden."
So ähnlich hast Du Dich geäußert, als wir am Mittwoch Abend nebeneinander auf Deinem Bett lagen und über alles mögliche philosophierten. Ich wagte mich irgendwie nicht zu fragen, aber irgendwie kamen wir dann doch auf deinen derzeit großen Kummer zu sprechen: Das Mädchen, das Du sehr gern hast, will auf einmal keinen Kontakt mehr zu Dir - und so sehr Du Dich auch bemühst, Du bekommst keine Antworten. Leider aber auch kein klares "Nein, ich will dich nicht mehr, nein, ich gebe uns keine Chance mehr."
Und während Du mir von den letzten Wochen erzählst und Du relativ entspannt wirkst, schaue ich Dich immer mal wieder von der Seite an und bewundere zum einen Deine Entwicklung, aber auch Deine Schönheit: die von innen. Du bist ein junger Mann geworden, der mir erst vor rund zwei Wochen erklärte: "Ich habe schon vor zwei Jahren aufgehört, an die Liebe zu glauben."
Mich hat das irgendwie getroffen. Natürlich weiß ich von all den Mädchen, die Du kennst, und ich weiß auch von denen, die Dir mehr bedeutet haben. Und natürlich weiß ich, dass Du mir nicht alles erzählst. Das musst Du auch nicht. Aber nicht mehr an die Liebe glauben?
"Ich weiß nur, dass sie ihren Vater nicht kennt, mit ihrer Mutter überhaupt nicht klargekommen ist, dass sie irgendwie in ner Jugendgruppe gelebt hat und jetzt, mit 18, in einer WG mit ihrer Freundin. Und dass sie mir ihre Arme nicht zeigen will und auch nicht will, dass ich sie danach frage. Vielleicht ist es ja die Freundin, die uns auseinanderbringen will - die kann mich nicht leiden, das beruht aber auf Gegenseitigkeit - aber vielleicht ist da ja auch noch mehr. Ich weiß zu wenig von ihr, aber sie spricht generell nicht gern über ihre Gefühle. Und auch nicht gerne über Persönliches. Wenn sie nicht will, spricht sie gar nicht mit mir und antwortet mir tagelang nicht auf meine Nachrichten. In einem Moment ist alles gut und im anderen kommt dann wieder 'Es hat irgendwie keinen Sinn.' Und wenn ich nachfrage, spricht sie einfach nicht mit mir. Sie sagt mir nie, was los ist und ich hänge hier, über fünfhundert Kilometer weit weg und dreh am Rad. Würde am liebsten zu ihr fahren - aber was mach ich, wenn sie mich da am Bahnhof stehenlässt? Ihre Tante sagt, ich soll das lieber nicht machen, das könne sie gar nicht haben."
Ich frage Dich, ob es tatsächlich das ist, was Du willst: eine Beziehung zu einem Mädchen, die alles andere als unbelastet und unbeschwert ist; eine Beziehung zu einem Mädchen, die nicht willens oder nicht in der Lage ist, Gedanken, Wünsche, Vorstellungen zu äußern - aber sofort schlecht über Dich spricht, wenn die Dinge anders sind als sie es haben wollte.
"Ich will nicht einfach so aufgeben", sagst Du und lächelst und für einen Moment kann ich sehen, wie viel mehr sich hinter diesem Lächeln versteckt.
Dennoch hinterfrage ich: "Das kann ich verstehen, sehr gut sogar. Aber mit 18? Mit 20? Wo der Himmel eigentlich voller Geigen hängen sollte, wo ihr euer Leben genießen solltet, weil alles andere noch früh genug kommt? Und wo sie ein Mensch ist, der Gefühle weder zeigt noch darüber spricht, der dich tagelang im Ungewissen lässt? Der keinen Sex mehr will, weil es ihm zu einseitig ist? Nach drei gemeinsamen Wochenenden? Der dir das aber auch weder sagen noch sonstwie kommunizieren kann und dir lediglich sagt 'Dir muss doch klar sein, dass es einen Grund hat, dass ich nicht mit dir schlafen will?' - und das wars dann? Ja, sie ist sehr schön, aber ist das denn alles? Ist es das einzige, das einen Menschen besonders macht?"
Vor vier Tagen fragst Du sie, ob sie am Wochenende zu Deinem Geburtstag bei Dir sein möchte - und Du bietest ihr an, alle Kosten dafür zu übernehmen. Weil Du gehört hast, dass die Fernbeziehung eigentlich ihr Problem ist - und die finanzielle Belastung. Sie antwortet bis heute nicht.
Und dann wartest Du. Jeden Tag. Du wartest nicht so sehr auf die Antwort auf Deine Frage. Du wartest, dass sie sich überhaupt meldet. Heute Abend, als ich aus dem Büro komme, kurz die frische Wäsche zusammenlege, bevor wir in die Stadt zu Deinem Lieblingsitaliener fahren, da bist Du eher still und in Dich gekehrt - und Du wirkst unglaublich erwachsen.
Ich spüre, wie sehr Du immer noch wartest und Du sagst: "Ich verstehe nicht, dass sie sich nicht wenigstens einfach mal so meldet. Wenigstens, um mir zu meinem Geburtstag zu gratulieren."
Das verstehe ich auch nicht.
Wie gerne möchte ich Dich einfach nur an mich drücken - und das mache ich auch: unter dem Vorwand, dass Du ja immer noch ein Geburtstagskind bist.
Letztes Jahr zu Deinem Geburtstag bist Du überraschend krank geworden, ziemlich krank sogar. Dieses Jahr bist Du wieder krank - nur anders.
"Weißt du, wie blöd das ist, dass man bei jeder eingehenden Nachricht hofft, dass die von ihr kommt - und dann sieht, dass sie doch nicht von ihr ist?"
"Oh ja, ich kenne dieses Gefühl sehr, sehr gut. Man kann eben leider auch einfach nur nichts dagegen tun. Man muss warten, bis es aufhört, weh zu tun."
Wir essen, wir reden alle drei über alles mögliche, aktuelle Ereignisse und Dein Bruder erzählt von sich. Ich bemerke, wie abwesend Du bist und wie Du immer stiller wirst. Das geht mir irgendwie durch und durch. Es erinnert mich an das Gefühl wie damals, als Du erst ein paar Tage alt warst und man mir sagte, Du hättest eine ausgeprägte Neugeborenen-Gelbsucht, und dann legte man Dich zwei volle Tage in diese Art Brutkasten unter blauem Licht und einer Mütze über den Augen. Mit nichts bekleidet außer einer Windel, und Du weinst leise und irgendwie herzzerreißend - und ich stehe davor und weine mit Dir. Sobald ich Dich herausnehmen darf, um Dir zu trinken zu geben, wirst Du ruhig und still in meinem Arm. Zur Ruhe findest Du nicht - erst als unsere Hebamme Dich zu mir bringt und sagt: "Der hat keinen Durst, der will zu seiner Mama, na klar" und dann schläfst Du ganze vier Stunden auf meinem Bauch, bis die grobe Kinderschwester kommt und Dich wieder entreißt mit den Worten "Na also so geht das ja auch nicht, wo kommen wir denn da hin?"
So ähnlich fühle ich mich heute neben Dir.
Ich kann Dir nicht helfen, und das wissen wir beide.
Aber ich bin da, und das wissen wir auch beide.
In den letzten zwei Tagen haben wir so offen wie noch nie auch über meine Kindheit gesprochen, über Dinge, die und wie ich sie erlebt habe - und Du sagst zu mir: "Ich hatte diese Angst nie. Nie. Ich wusste immer, dass ich geliebt werde und da bin ich auch echt froh drüber."
Seit zwei oder drei Jahren bist Du nun auf der Suche nach dieser anderen Liebe, die jeder Mensch wenigstens einmal in seinem Leben erfahren haben sollte.
"Ich glaube nicht, dass ich noch mal so einer begegne wie ihr. Und ich glaube nicht, dass ich mich noch mal so fühlen kann wie bei ihr. Ich glaube nicht, dass es noch größer geht."
Ich lehne meinen Kopf an Deinen Kopf.
"Wäre es aber.. irgendwie nicht schade, wenn man mit zwanzig Jahren schon alles gesehen und erlebt hätte? Was sollte denn da noch kommen? Du hast noch so wahnsinnig viel Zeit..."
Später erst fällt mir auf, dass das die fast identischen Worte waren, die meine Mum zu mir sagte, damals, als ich 34 Jahre alt war und glaubte, mein ganzes Leben sei mit jenen Erfahrungen nun vorüber.
Natürlich war es nicht vorüber.
Im Gegenteil.
Es hat da erst richtig begonnen.
Und das, mein Schmunzelhase, das wünsche ich Dir auch. Dass Du Tiefen überwindest und sie Dich aber nicht brechen, sondern Dich stark machen. Dass sie Dir nicht das Selbstvertrauen nehmen und Dich auch nicht abbringen von dem Weg, den Du für Dich gehen möchtest.
Ich wünsche Dir von Herzen, dass Du Dich glücklich und geliebt fühlst und dass Du immer Türen findest, durch die Du gehen kannst und magst. Dass Du in jedem neuen Tag auch die Möglichkeiten erkennst, die jeder einzelne Tag mit sich bringen kann.
Das alles... wusste ich mit zwanzig nicht. Ich wusste es auch noch nicht mit vierunddreißig. Aber ich habe es gelernt - und ich hadere nicht damit, keine zwanzig oder vierunddreißig Jahre alt mehr zu sein. Es ist nicht entscheidend, welche Zeit wir schreiben. Es ist entscheidend, wie wir uns fühlen und wie wir leben.
Deinen aktuellen Kummer rede ich Dir nicht klein, ich messe ihn auch nicht an anderen schlimmen Dingen. Es wird immer ganz vieles geben, das noch schlimmer ist. Das erdet - aber es ist kein Universalschlüssel.
Aber eines kann ich Dir versprechen: Ich werde immer, immer für Dich da sein. Dir zuhören, Dich begleiten, Dich auffangen. Das wird sich auch niemals ändern. Und wenn es etwas gibt, das ich für Dich tun kann, dann werde ich es tun.
Du warst schon als Baby, als Kleinkind und auch als Teenie ein Sonnenscheinchen. Und ich wünsche Dir von ganzem Herzen, dass ein Teil dessen immer in Dir bewahrt bleibt.
Sagte ich Dir schon, dass ich es liebe, Dich lachen zu sehen?
7 Kommentare:
Herzlichen Glückwunsch an Deinen Sohn. Chapeau an Dich, so viel Liebe in Worte gefasst, so warm und herzlich Du bist großartig.
Ach seufz ... ich habe nie eine schönere Liebeserklärung einer Mutter an ihren Sohn gelesen. Es wird immer Menschen geben, die andere Menschen absichtlich verletzen, damit sie ihren eigenen Schmerz nicht so arg spüren.
Ich wünsche ihm nachträglich noch alles Gute zu seinem Geburtstag (sagst ihm das?) und vor allem wünsche ich ihm die Kraft und die Stärke, dass er sich nicht von anderen Menschen ruinieren lässt!!
✨Einen herzlichen Glückwunsch dem jungen Mann.
Möge ihm das neue Lebensjahr viel Freude und Schönes bescheren. 🎉🐞🌻🌞✨
Weißt Du, liebe Helma, eine edle Pflanze wächst nicht auf Asphalt.
So ein außergewöhnlich reflektierter, weiser, bemerkenswerter Jungerwachsener.
Kein Wunder bei einer derart Wunder- und Liebe- vollen Mutter. 🌹❤️
Sorry für den Emoticon-Overkill, aber ich tippsel per IPad. Das verlockt... 🐣
Liebe Goldi, danke. Die Posts zu den Geburtstagen der Söhne sahen sonst wohl eher immer anders aus, waren eher an die Vergangenheit bis heute gerichtet, während es hier nur ums heute ging - und wohl auch weniger um den Anlass selbst. Gleichwohl... musste ich mal eben alles rauslassen, das mir hier durch Kopf & Bauch zieht.
Liebe AnnJ, er kennt meinen Blog - und zu Geburtstagen liest er dann auch :) Das ist dann also so, als würdeste es ihm selbst gesagt haben :)
Liebes Vibesbild, ja ja, das mit den Emoticons kenn ich auch! Grad am iPhone oder iPad - ja, das verlockt wirklich! Danke für Deine Worte - ich bin mal gespannt, was er nächste Woche zu Euren Glückwünschen sagt, wenn ich wieder hinfahre :)
Herzlichen Glückwunsch nachträglich auch von mir!
Deine Söhne haben so ein Glück, eine Mutter wie dich zu haben und mit so einer Vor- und Herzensbildung können sie ja kaum anders, als irgendwann [richtige Zeit, richtiger Ort und so] auf einen wunderbaren Menschen zu treffen, der genau diese Liebe erwidert. Einfach so. Ohne Spielchen und sonstiges. Weil es nämlich so ist, dass das, was du [auch unbewusst] suchst, auch nach dir sucht und irgendwann findet man es/sich zwangsläufig. [Ich glaube das wirklich und an irgendwas muss man ja glauben. ;)]
Mag ja sein, dass er offiziell "aufgehört hat, an die Liebe zu glauben", aber irgendwann findet sie ihn doch, weil es nicht anders geht. Zumal ich eh sehr misstrauisch bin, wenn mir jemand erzählt, dass er "nicht mehr an die Liebe glaubt. Schutzbehauptung. Anderenfalls wäre es ein Leben wie ein "Walking Dead"-Zombie... wobei es vielleicht bezeichnend ist, dass diese Serie so ein Dauerbrenner ist, scheint ja irgendwie "in" zu sein, nicht an "die Liebe" zu glauben. Tragisch. Wo "die Liebe" doch so viele Gesichter hat...
P.S: "Eine edle Pflanze wächst nicht auf Asphalt" - das ist ja auch ein Satz zum Aufschreiben und neben den Schreibtisch kleben. Gefällt mir sehr.
Liebes Frl. K, ich danke Dir! Ich denke genauso, dass es sich um eine Schutzbehauptung handelt - zumal er ja gerade erst 20 geworden ist. Er hat viele Mädchen kennen gelernt, aber ich habe ihm auch immer gesagt, dass er sich nie wirklich genug Zeit genommen hat. Er gab viel zu schnell alles und - aus meiner Sicht - auch viel zu schnell auf. Aber mit 20 wirklich desillusioniert zu sein, das kann ich mir nicht vorstellen. Nicht bei ihm. Ich denke aber nicht, dass er das sagt, weil es "in" sein mag, sondern weil er seit 2 oder 3 Jahren aktiv danach "schaut" und noch keinem Mädchen begegnet ist, von dem er glaubte, wirklich verliebt gewesen zu sein. Bis auf die letzte, wies aussieht. Vermutlich ist er eher "zu ungeduldig". Den Unterschied von Quantität und Qualität wird er genauso lernen :)
Ich wünsche es deinem Sohn sehr! Ich glaube ganz fest daran, dass er daran wächst und Größeres erfahren wird... es ist irgendwo ein Bauchgefühl vermischt mit eigener Erfahrung... Summer
Kommentar veröffentlichen