Mittwoch, 4. Oktober 2017

...so that we can choose each other



Es scheint verkehrte Welt, in der der Mann diese Tage in L verbringt, während ich hier in M Abende lang damit zubringe, mich auf dem Fußboden auszustrecken, die Augen zu schließen und die Musik durch den Raum perlen zu lassen. Das ist beinah wie früher...
Und es ist die Musik, die mich an jene Zeit erinnert. Die Zeit vor dem Sprung in ein anderes Leben.
Das Gefühl vor diesem Sprung, das sich anfühlte wie... auf einem Fünfmeterturm zu stehen, natürlich mit Fingern, die krampfhaft die Brüstung umklammert halten und im Kopf immer nur dieser Gedanke: "Wenn du JETZT nicht springst, dann tust du es nie." Und in deinem Kopf laufen Bilder ab, ganz viele, Bilder, die du noch gar nicht kennst, die du noch nicht gelebt hast, und Bilder, die die bisherigen Jahre in die Zukunft tragen. Und innerhalb dieser Sekunden wägst du ab: Willst du die kommenden Jahre wie die vergangenen leben und kannst du das noch aushalten?
Und obschon die Antwort auf diese Frage noch nicht ganz klar im Bewusstsein formuliert ist, klopft dir dein Herz so arg, dass du glaubst, man könnte das Pochen in den Schläfen sehen - und ob du wirklich schreist oder auch dieser Schrei nur noch in deinem Kopf ist, ist vollkommen egal:
Du bist bereits gesprungen.
Da war etwas in dir selbst, das dein eigenes Ich an den Rand des Sprungbretts gedrängt hatte und dir gar keine Wahl mehr blieb.
Und dann bist du eingetaucht, du bist untergegangen, aber wo du vorher noch dachtest, du würdest dir mindestens den Hals brechen oder wenigstens alles würde dir weh tun, stellst du verwundert fest, dass du nicht ertrinkst - und dass das Wasser dich sogar trägt, wenn du nur die Arme ausbreitest und du dich mit beiden Füßen kraftvoll vom Boden abstößt.

Die letzten Tage habe ich viel gelesen und wenig geschrieben. Ich habe gelesen von Beziehungen, die erst welche werden mögen - oder auch nicht. Ich habe gelesen von Verantwortung, die wir für die Menschen übernehmen bzw. haben, die wir lieben. Und ich mag das, es so zu sehen, so zu empfinden und so auch zu leben. Ich mag es zu sehen, wenn Menschen füreinander einstehen, wenn Menschen einander helfen - oder sich einfach nur zwei Fremde anlächeln, irgendwo zwischen U-Bahn und zwei Terminen.
Verantwortung übernehmen bedeutet für mich persönlich nicht, in einer Beziehung zu bleiben, die nichts Erfüllendes mehr hervorbringen kann, egal von welcher Seite. Möglicherweise hat man sich zu Beginn einer Beziehung noch gar nicht wirklich gekannt - und sich auch nicht die Zeit gelassen, herauszufinden, wer der andere eigentlich ist und was ihn ausmacht. Ob das mit dir selbst harmoniert, harmonieren kann für länger als ein oder zwei Monate, ein oder zwei Jahre. Denn für den anderen kannst du nicht denken und auch nicht entscheiden - aber für dich.
Und ich erinnerte mich beim Lesen fremder Posts an die Worte einer klugen Frau, die vor einigen Jahren zu mir sagte: "Wenn ich noch einmal höre, dass jemand sagt, dass er Sie nicht liebt, dann werde ich aber mal so richtig wütend. Natürlich liebt er Sie - aber er tut es auf seine Weise. Und es ist ganz allein an Ihnen, herauszufinden, ob seine Liebe das ist, was SIE wollen. Ob es das ist, was SIE glücklich macht."

Liebe ist für mein Empfinden, für meine Vorstellung sehr viel mehr als die Biochemie in unserem Kopf, sehr viel mehr als endlose Stoffwechselketten. Natürlich, weil ich es so sehen möchte. Natürlich, weil ich es so fühlen möchte. Und heute bin ich mehr denn je davon überzeugt, dass für das, was wir sind, ohne es sein zu wollen, der Grundstein bereits in der Zeit gelegt wird, wo wir noch Kind sind. Auf unsere kindliche Art und Weise Zuneigung geben und erfahren (wollen). An irgendeinem Punkt in unserem Leben verzweigt sich unser Weg und dann kommts wohl darauf an, wann wir wohin abgebogen sind.
Ich denke jedoch auch, dass wir nicht nur Verantwortung für die Menschen in unserem Leben haben. Wir haben diese genauso auch für uns.
Mit diesem Gedanken habe ich mich von meinem Ehemann und der Ehe verabschiedet. Dass ich schon sehr lange nicht mehr glücklich war - und dass ich nicht einmal meine Kinder glücklich machen kann, wenn ich es selber nicht bin. Dass wir jedoch nicht nur dafür zu sorgen haben, dass sie ausreichend zu essen, zu trinken, ausreichend anzuziehen und zum Spielen hätten. Damals hat er mich nicht verstanden, vielleicht auch nicht verstehen wollen - und für ihn war die Antwort auf alles zu einfach: Der andere Mann war schuld und all die Filme über Liebe, die mit der Realität so gar nichts gemein hätten.
Jedoch in meiner Vorstellung von einer Liebe, von einem Miteinander passte einfach auch nicht, dass man lediglich nach außen das Bild einer intakten Familie gab, während im Inneren alles kaputt war und vielleicht auch nie wirklich funktioniert hatte, weil die zwei Menschen, die einander begegnet waren, viel zu verschieden waren. In meine Vorstellung gehörten all die Erniedrigungen, Verletzungen von innen und außen nicht, die Ohrfeige das fehlende Argument ersetzte oder Tritte gegen eine verschlossene Tür eine vermeintliche Macht symbolisierte, die nur eines erreichen sollte: Angst und Nachgiebigkeit.

Also bin ich gesprungen, mit oder ohne einen anderen Mann - ich bin gesprungen.
Bis heute habe ich diesen Sprung nicht ein einziges Mal bereut, in keiner einzigen Sekunde, in keinem einzigen Atemzug. Alles hat sich seither verändert. Ich habe mich verändert.
Nur dass ich heute auch nicht sicher weiß, ob ich da bin, wo ich immer sein wollte.
Und so habe ich diese einsamen Tage beinah herbeigesehnt. Um nicht mehr nur noch zu reagieren auf all das, das um mich herum geschieht. Sondern mich selbst sehr bewusst wahrzunehmen, mich selbst wieder sehr bewusst zu fühlen und für mich herauszufinden, ob und was ich vermisse. Um für mich herauszufinden, was ich mir eigentlich (immer noch) wünsche.
Und so langsam formt sich mehr und mehr und immer deutlicher meine innere Überzeugung, dass ich mich von nichts und niemandem zu etwas drängen lassen werde, das nicht ich bin. Das nicht meinem Wesen entspricht. Wenn das, was mich, was meine Persönlichkeit ausmacht, nicht ausreicht, mich so zu lieben - dann ist es niemandes Schuld und dann ist dies auch nicht das Ende meines Lebens. Nicht das Ende der Welt. Jedoch dann sollte man sich einander in die Augen schauen und dazu bekennen.
Denn auch das ist Verantwortung gegenüber dem anderen: nicht nur sich selbst, auch dem anderen die Chance zu geben, sein Leben richtig leben zu können.
Ich hab sehr lange dafür gebraucht zu erkennen, dass jener Sprung damals ohne diesen anderen Mann das einzig Richtige war, das mir passieren konnte. Heute weiß ich, dass wir einen zu hohen Preis gezahlt hätten und so nicht miteinander glücklich geworden wären. Doch was ich stattdessen bekommen habe, ist für mich immer noch wertvoller: mich selbst.

4 Kommentare:

Pyrgus hat gesagt…

Das hast du gut geschrieben. Erst mal und vor Allem muss man mit sich selbst alt werden wollen :) Eine Beziehung gibt mir vielleicht nicht immer 100%ig das, was ich gerade brauche oder will, aber ich halte es so, dass, wenn unter dem Strich noch ein dickes Plus rauskommt, für mich alles in Ordnung ist. Denn da gebe ich dir vollkommen recht: Liebe ist mehr als Chemie.

Wenn ich allerdings merken würde, dass mein ganzes Sein in der Beziehung gedeckelt werden würde, wäre ich weg. Sowas von. Und dieses "sichewighinterfragen" ob man die damalige Beziehung für die Kids hätte retten müssen, habe ich aufgegeben. Es ging damals nicht. Punkt.
Ganz lieben Gruß
Gabi

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Gabi, das Retten der Ehe hab ich bis zur Entscheidung hinterfragt - mit der getroffenen Entscheidung kein einziges Mal mehr. Ich war - angesehen von den sonstigen Umständen- einfach nur erleichtert. Richtig doll erleichtert. Meine einzige Frage an mich war nur die eine: Warum bist du nicht viel eher gegangen?
Aber das war müßig, weil mans ja nicht mehr ändern konnte.

Ja, unterm Strich muss ein dickes Plus rauskommen und nicht in jeder Hinsicht bekommt man das, was man sich wünscht. Die Frage ist nur: Wie elementar ist das, was anders ist?

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Muss natürlich "abgesehen von den sonstigen Umständen" heißen. Ist schwierig mitm Handy 😎

Bohli hat gesagt…

Einfach nicht hinzuzufügen. Sich selbst erkennen und sich selbst sein und zu lieben ist mit das höchste. Halte es fest.