Dienstag, 15. Dezember 2020

Jerusalema


Dass ich schon seit etlichen Jahren kein Radio mehr höre, stelle ich vor allem immer wieder in der Rubrik "Musik & Hits" bei Quizduell fest. Ich hab überhaupt keine Ahnung mehr, was heute so gehört wird, ich kenne nur noch die Musiker von "früher" und bei manchen Bandnamen würde ich eher beispielsweise eine Käsesorte statt einer angesagten Band vermuten. 

Vor zwei Tagen entdeckte ich bei Facebook das Tanz-Video vom Herzzentrum Leipzig, untermalt mit einem Hit, der schon 2019 viral gegangen sein soll. An mir völlig vorbeigegangen - wie gesagt: selber schuld, wenn man nur eigens angelegte Songlisten rauf & runter hört ;) 
Bei diesem Video jedenfalls hatte ich eine Wahnsinns-Gänsehaut, nicht nur der Intention wegen, nicht nur Sehnsucht nach Leipzig und überhaupt wegen. Denn allem voran empfand ich vor allem eins: pure Lebensfreude. Das Bedürfnis, vom Drehstuhl aufzustehen und mitzumachen. Tanzen für den Moment, und dann am liebsten weitertanzen zur Tür hinaus...
Leider hat das Herzzentrum ihr wunderbares Video nicht auf youtube veröffentlicht (aber wer auch bei FB ist: https://www.facebook.com/heliosparkklinikum/ ), dafür fand ich eine Kurzversion der Uniklinik Leipzig. Sicherlich habe ich beim Rumstöbern auf youtube festgestellt, dass sich an dieser Tanzchallenge bereits etliche Kliniken bundesweit beteiligt hatten, aber ich wollte eben... Leipzig ♥️

Am vergangenen Wochenende habe ich mich vertieft darin, Überraschungen für einige wenige, für mich besondere Menschen vorzubereiten, weil es soviel mehr Spaß macht, etwas von sich abzugeben, das anderen (hoffentlich) Freude bereitet. Dabei habe ich diesen Song in Endlosschleife gehört und mich wunderbar dabei gefühlt. Und ich habe mich gefragt, was ich wohl tun würde, wäre ich allein, hätte nicht wirklich jemanden bei mir und so kurz vor den Weihnachtstagen auch nicht wirklich die Chance darauf, daran etwas zu ändern. Würde ich mich in das Schicksal ergeben oder würde ich mir etwas überlegen? Das Jahr 2003 fiel mir wieder ein, Weihnachten 2003. Die Jungen bei ihrem Vater, die Familie hunderte Kilometer weit weg und ich dort in meiner kleinen Wohnung mit dem mir gegenüber gebrochenen Versprechen: "Ich lasse dich Weihnachten doch nicht alleine."
Ich sah mich wieder mit der Flasche Rotwein (bis heute trinke ich keinen Rotwein mehr) in meinem Bett liegen und so lange auf das Leben anstoßen, bis ich vor lauter Selbstmitleid und einigen Prozenten im Blut erst das Heulen anfing und dann irgendwann darüber einschlief.
Würde ich das so wieder haben wollen?
Im Leben nicht. 
Aber damals setzte irgendso ein Denk- und Fühlprozess ein, den ich erst Jahre später wirklich bewusst in Worte fassen konnte: Ich kann mich nicht auf einen anderen Menschen verlassen, ich will mich auch nicht mehr auf einen anderen Menschen verlassen, weil ich dann völlig abhängig davon bin, ob der andere Mensch sein Wort hält oder nicht. Und tut er es nicht, stürze ich ab und falle tief. 
Mir ist das ja damals nicht zum ersten Mal passiert - da aber zum letzten Mal.
Von dem Moment an habe ich Stück für Stück (bewusst und unbewusst) daran gearbeitet, nie mehr abhängig von einem anderen Menschen zu sein. Nicht mehr davon abhängig zu sein, ob jemand mit mir sein konnte oder wollte. Es musste immer einen Plan A und einen Plan B geben, und Plan A beinhaltete zunächst vor allem erstmal mich und das, was ich mir für den Tag X vorgenommen hatte. Plan B war demzufolge höchstens die wundervolle Ergänzung. 
Was mich schon immer auf die Beine und nach vorn gebracht hat, war der unbedingte Wille nach Leben. Waren die Hoffnung und die Zuversicht. Woraus ich immer geschöpft habe, war und ist nach wie die Lebensfreude. Das bedeutet natürlich nicht, dass man nicht trotzdem dann und wann am Boden liegt und heult, aber spätestens nach drei Tagen kotzte ich mich selber an, stand auf, duschte, zog mir einen Lidstrich und ging wieder hinaus in die Welt. 



Was in damaliger Zeit, teils nächtelangen Gesprächen und Philosophierungen über das Leben und die Liebe eher noch wie eine unvorstellbare These für mich anmutete, entwickelte sich über die Jahre für mich zu einem Lebenskonzept: Heute kann ich sehr gut allein leben, mir selbst sehr gut genug sein und mein Leben auch dann mit genug Leben und Lieben füllen, wenn ich allein bin. Ja, ich bin dankbar für jeden Menschen in meinem Leben und dankbar dafür, dass ich es aktuell nicht allein leben muss. Jedoch die Furcht vor dem Alleinsein habe ich verloren - und das war eine meiner wichtigsten Lehren aus früheren Jahren. 

Was würde ich also heute mit all meinem Wissen anfangen? Was würde ich heute in Tagen wie diesen tun wollen? Ich würde mich sozial engagieren. Ehrenamtlich, aus Gründen. Ich würde das Internet rauf und runter lesen, mich informieren, wo Hilfe und Unterstützung gebraucht wird - und wo sie aktuell überhaupt angenommen werden darf. Ich glaube, dass die Dankbarkeit von Menschen das wirklich großartigste Geschenk ist, das man bekommen kann. Die Dankbarkeit in ihren Augen, in ihrem Lächeln. Nie vergesse ich das Lächeln in den Augen des alten Mannes, der im letzten Jahr bei uns immer am U-Bahn-Ausgang auf den eiskalten Steinplatten saß. Dem ich immer etwas zu essen und einen heißen Tee brachte und mich neben ihn kniete. Diese kleinen blauen Augen in dem überaus faltigen, runzligen Gesicht. Die Worte, die er zu mir sagte und die ich nicht verstand. Manches geht einfach ohne Worte. Wie er lächelte mit dem Mund fast ohne Zähne. 

Auch wenn du denkst, dass du nichts hast, hast du immer noch genug, um anderen davon abzugeben. Dann bist du nicht nur nicht allein, du bist dann auch.. beschenkt. Und alles ist immer noch besser, als zu Hause mit einer Flasche Rotwein dem Selbstmitleid zu frönen. Jedenfalls, wenn es länger als drei Tage dauert. 

5 Kommentare:

Lutz hat gesagt…

Mach Dir mal keinen Kopp, wenn Du bei der aktuellen Musik nicht mehr ganz up to date bist. Glaube mir, das ist auch so ein Altersdingens. Womit ich jetzt nicht sagen will, dass Du alt wärst! Wie käme ich denn dazu?! Niemalsnicht! ;-) Aber wenn man jenseits der 20 ist, dann geht man nicht mehr jeden Musiktrend mit, selbst wenn man das vorher vielleicht noch so gemacht hatte. Was ja auch nicht bei jedem so ist. Und mit jedem Jährchen entfernen sich aktuelle Musik und der eigene Musikgeschmack immer ein klein bisschen weiter voneinander.

Bis knapp an meine beginnenden Vierziger habe ich mich auch noch grob mit der aktuellen Musik befasst, fand einiges auch richtig toll. Aber das nahm immer mehr ab. Da waren die 80er und die 90er viel mehr nach meinem Geschmack, da konnte ich auch mal richtig austicken. Und nun unbedingt und auf Krampf auf die jeweils aktuelle Musikwelle aufspringen zu wollen, nur um einfach auch mit dabei sein zu wollen? Nö! Ich hatte schon immer meinen eigenen Kopf und bin sogut wie nie der Meute nachgelaufen. In der Musik nicht und im Leben auch nicht. Im Gegenteil. Es reizt mich häufig sogar, in Diskussionen den Adcocatus Diaboli abzugeben. Mitläufer haben wir eh schon viel zu viele. Was uns alle aber nur weiterbringt, ist, wenn wir uns auch mit Widersprüchen konstruktiv auseinandersetzen müssen.

Okay, aber ich schweife ab. Jedenfalls habe ich mich vor ca. 10 Jahren vom aktuellen Musikgeschmack verabschiedet. Das heißt nicht, dass ich neuere Musik komplett links liegenlassen würde. Wenn ich etwas höre, das mir gefällt und worüber ich eher zufällig gestolpert bin, dann kann ich das auch toll finden. Aber das sind dann in der Regel eher einzelne Songs, die mich inspirieren, und nicht gleich das ganze Lebenswerk eines Interpreten. Zum Beispiel ist "Happy" von Pherrell Williams so ein Song (okay, ist auch schon wieder ein paar Tage alt). Immer wenn ich den höre, steigt mein Stimmungslevel gleich mal um 2-3 Stufen nach oben.

Und da darf es dann eventuell auch gern mal die Cover-Version von anderen Interpreten sein, ganz besonders wenn diese so genial wie die von Pentatonix ist. https://www.youtube.com/watch?v=uJ4diEohODE Wobei ich bei Pentatonix von meiner Grundregel abweiche, weil ich deren Musik eigentlich durchgehend super finde. Aber Ausnahmen bestätigen die Regel. Und in unserem Alter muss man nun wahrlich nicht mehr jeden Trend hinterherlaufen, erst recht nicht, wenn das vielleicht nur Schund ist. Wie meinte schon Danny Glover in "Lethal Weapon": Ich bin zu alt für den Scheiß. ;-)

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Haha Lutz, na vielen Dank auch für die Blumen :D Aber ne, nen Kopp mache ich mir nicht, mir fällt das nur regelmäßig auf und inzwischen umgehe ich diese Kategorie bei Quizduell, weil die entweder nach ganz alten Dingen fragen, für die ich noch zu jung bin *kreisch* oder eben nach diesem neumodischem Kram, von dem ich noch nie gehört habe. Grad in den Singlejahren und den Abenden und Nächten, die ich bei youtube versank, da war ich "bestens" informiert. Nicht weil ich die Musik hörte, aber man stolpert ja über vieles, wenn man nach etwas sucht. Und in Zeiten von Musiktagging und so ist aber auch die Suche ja vieeeel einfacher geworden ;)
Um das, was angesagt war, gings mir aber auch nie. Mir muss Musik ins Ohr gehen, in den Bauch und direkt in die Knie. dann ist es meine ;)

Jaaa die Mucke der 80er, die läuft hier auch ganz gern, bevorzugt vom Mann. Er hat da nicht nur haufenweise LPs gekauft gehabt und etliche Playlisten bei iTunes und nun neuerdings auch bei Spotify. In meinen Listen mischen sich eher Indie, Rock, Pop und vor allem Alternative.

Happy war jetzt nicht so ein Song für mich, demzufolge auch die Coverversion nicht - aber ich finde es schon geil, wie man Acapella so eine Stimmung verbreiten kann. Das machen die echt gut!

Hinsichtlich Trends habe ich schon immer gesagt: Mich interessieren Trends nicht, ich setze meine eigenen *kreisch*

Anonym hat gesagt…

Ich habe mir gerade noch rechtzeitig Nachwuchs organisiert. Deshalb ist es mir möglich, tiktok zu empfehlen . Da bekommt man in der Regel jeden Trend direkt mit.
Lg magenta :)

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Ha Magenta, ich glaube, da muss ich kommende Woche doch mal meinen Junior interviewen, der dürfte mit 25 wohl auch noch jung genug sein, oder?? Tiktok hab ich zwar irgendwo mal gelesen und sehe ab und an bei whatsapp entsprechende Filmchen, das wars dann aber auch :)
Ist das eigentlich sowas wie Snapchat oder so?

Lutz hat gesagt…

Vielleicht findest Du im Repertoire von denen ja auch Songs, die besser zu Deinem Geschmack passen. Die covern so ziemlich alles, was bei 3 nicht auf dem Baum ist. Von 80er-Songs wie "Mad World" über "Hallelujah" von Leonard Cohen, aber auch neuere Lieder wie "Havana" (finde ich mega) bis hin zu ganzen Weihnachts-CDs. Da kann man bei Youtube mithilfe der automatischen Vorschlagliste auch sehr vieles finden.

Ich habe ohnehin einen Faible für a capella. Schon als Junge habe ich mir gern die Comedian Harmonists angehört, denn wir hatten eine Schallplatte von denen zu Hause. Ich finde es einfach traumhaft zu hören, was herausragende Stimmen alles so ohne Instrumente fabrizieren können. Und durch das Beatboxing kann das heutzutage nochmal eine ganz andere Qualität erhalten.