Montag, 7. Dezember 2020

What If I'm Wrong


Es ist noch längst nicht acht Uhr und ich bin so müde, dass ich mich am liebsten schlafen legen möchte. Doch dann würde ich verpassen, wenn der Junge nach Hause kommt. Und auch, wenn er immer die Augen verdreht, wenn ich ihn ganz sehr umarme, so weiß ich doch, dass er sich freut, wenn ich zu ihnen nach Hause komme. 
Ein klein wenig Weihnachtsstimmung habe ich schon in ihr Zuhause gebracht, habe ihnen ein Abendessen zubereitet und möchte die Zeit, die wir hier haben, genießen. Gerade jetzt möchte ich umso mehr, dass sie es gut haben..

Vor gut einer Woche, vielleicht ist es auch noch ein paar Tage länger her, da debattierte ich mit einer Freundin über persönliche Befindlichkeiten und auch über die aktuellen Entwicklungen. Irgendwann schrieb sie mir, dass ich auf jedes schlüssige Argument ihrerseits ein schlüssiges Gegenargument hätte - und das war ein Moment, in dem ich mich irgendwie schlecht fühlte mit dieser Aussage. Mir ist bewusst, dass ich bei aller "Pflegeleichtigkeit" durchaus auch mal anstrengend sein kann. Nur geht es mir nicht darum, mich im Recht zu fühlen oder auf meiner Meinung zu beharren. Mit jedem Dialog habe ich die Chance, mich selbst zu hinterfragen, meinen Standpunkt zu hinterfragen - und diesen auch anzupassen oder gar zu wechseln, sofern die Argumente sich für mich stimmig anfühlen. Das bedeutet aber auch, nicht alles widerspruchslos hinzunehmen, sondern auch mal so lange zu fragen, bis mein Bauchgefühl mir signalisiert: Okay, gut jetzt. 
Doch je tiefer wir in die Debatte stiegen, desto mehr wurde mir vor allem eines bewusst: Eigentlich.. bin ich müde. Eigentlich weiß ich viel zu wenig. Eigentlich habe ich überhaupt keine Ahnung von vielen Dingen - und erlaube mir dennoch, eine Meinung zu haben. Eine Sicht auf die Dinge, von der ich genauso weiß, dass es vollkommen egal ist, was ich denke und was ich nicht denke. Ob ich falsch liege oder nicht. Es spielt einfach keine Rolle. 
Mit eben jener Freundin debattierte ich schon vor gut einem Jahr darüber, ob und was ich einem bestimmten Menschen glauben kann und glauben soll. Irgendwann in dieser Diskussion fragte sie mich: "Warum ist es dir so wichtig, ob das stimmt oder nicht?"
Damals konnte ich ihr nur vage auf diese Frage antworten, inzwischen weiß ich konkret, wann mir die Wahrheit wichtig ist: wenn es etwas mit mir selbst macht. Wenn ich nach Offenbarungen anderer nicht mehr schlafen und an kaum etwas anderes denken kann. Wenn ich nach Wegen suche, ob und wie ich dem anderen helfen kann, wenn man gemeinsam weint - dann will ich wissen, dass all das.. nicht auf einer Lüge basiert. Ich will nicht, dass mit dem Empfinden eines anderen Menschen gespielt wird - und ich will auch nicht, dass mit meinem Empfinden gespielt wird. 

Nach der letzten Aufzeichnung aus einer Sendeanstalt, in der drei Klinikärzte zu Gast waren, die mir die Freundin übermittelte und während der ich tatsächlich einige Male versucht war, zwischendrin auszuschalten und doch bis zur fast letzten Minute durchhielt, schrieb ich ihr meine - durchaus kritischen - Gedanken dazu und schloss mit der Intention, in der kommenden Zeit das Thema ruhen lassen zu wollen. Nicht weil ich die Diskussion scheute. Aber ich spürte, wie es in meinem Kopf arbeitete - und das in dem Bewusstsein, wie verschenkt diese Kopfarbeit war. Aktuelle Entscheidungen stehen, ob uns allen das nun so gefällt oder wir das in den Auslegungen gut heißen. 
Und als sie mir antwortete, dass ihr in vielen Dingen auch einfach das (Hintergrund-) Wissen fehlt und sie deshalb auf diejenigen vertraut, die Entscheidungen beeinflussen bzw. treffen dürfen, alles andere für sie zu schwierig und anstrengend sei, da dachte ich: Ja, sie hat recht. Es ist anstrengend und es ist irgendwie sinnlos anstrengend. 
Wofür tut man sich das an, wenn das Leben selbst.. die Lebenszeit so kostbar ist?
Vor siebzehn Tagen hat sich ein Mensch für immer verabschiedet. Ein Mensch, der per Definition vielleicht gerade so kein Kind mehr war, in seinem Wesen und aus verschiedenen medizinischen Gründen jedoch  das Kind geblieben war. Vielleicht ist dieser Abschied kein überraschender gewesen - aber zu sehen, wie sehr die Eltern unter diesem Abschied leiden, das ist kaum in Worte zu fassen. Und du kannst auch nicht wirklich etwas tun, außer ihnen zuzuhören, wann immer sie mit dir reden wollen, mit ihnen zu weinen, außer sie an dich zu drücken und einfach nur festzuhalten. Ihnen den Rücken freizuhalten von all den "irdischen" Dingen, für die ihnen noch immer Raum & Zeit fehlen. Tage, an denen sie sagen, sie möchten am liebsten überhaupt nicht aufstehen. Tage, an denen sie nur trinken, statt zu essen, und alles wieder zu erbrechen. 
Und mich berührt es umso mehr, weil ich selbst immer gesagt habe: Du kannst alles im Leben überstehen und irgendwie überwinden - aber nicht, wenn du dein eigenes Kind begraben musst. Selbst wenn du irgendwann an den Punkt gekommen bist, wo du ihn gehen lassen willst, weil alles andere auch kein wirkliches Leben mehr ist. Trotzdem bringt es dich um, wenn es eines Tages dann doch soweit ist und du derjenige bist, der seinem Kind die Augen schließen und ihn nach dem Waschen in den Sarg legen musst. 
In dem Moment spielt keine Rolle mehr, woran du glaubst oder glauben möchtest - da ist einfach nur noch Schmerz, den man versucht, mit aufzufangen, indem du auch nur irgendwas tust, dass es den Eltern leichter macht, sich nicht auch noch darum kümmern zu müssen. 
Und kaum bekommst du deine eigenen Gedanken und Empfindungen, dein Mitgefühl irgendwie wieder zurück in die Fassung, da erfährst du von der Diagnose eines anderen, den Du wirklich magst, und es zieht dir den Boden weg. In den Nächten danach konnte ich nicht mehr schlafen, las im Internet rauf und runter, was genau diese Diagnose bedeutet, wie sind vor allem die Chancen, aus dieser Scheiße lebend rauszukommen. Zog mir einen Film nach dem anderen rein, betäubte mich mit Musik. Allein wie er es seiner Frau und seiner Tochter sagen muss und wie er damit hadert, es irgendwie den Eltern sagen zu müssen.. Ich lese es, weil ihm für das Sprechen die Worte fehlen - und die Vorstellung dessen, wie er sich mit all dem fühlen muss, reißt mich mitten durch.
In solchen Momenten - aber da kann ich auch nur für mich sprechen - bin ich einfach nur dankbar, wenn ich in den Weihnachtstagen bei meinen Kindern sein kann, wenn ich den Mann mit mir nehmen kann, damit er bei seiner Mama sein kann. Vielleicht dürfen wir fünf alle an Weihnachten zusammen sein, vielleicht nun doch nicht - aber wie es auch kommen mag: Ich denke nicht mehr pro und nicht mehr contra - ich denke nur noch eins: Ich bin dankbar, wenn ich bei meinen Kindern sein darf. Ganz egal, ob es das Weihnachten ist, wie wir es uns gewünscht hätten, oder dass es vielleicht doch hätte anders gehen können. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte... dann, dass niemand einsam sein muss. Aber selbst auf meiner Blümcheninsel in meinem Kopf weiß ich, dass die Realität eine ganz andere ist. 

Und meinen nächsten möglichen Urlaub möchte ich mit meinen Eltern verbringen. Ganz egal, ob es nur vier oder fünf oder sieben Tage sein können oder dürfen. Hauptsache, man ist beieinander. 
bikerlara hat das auf Twitter - für mich wundervoll - in Worte gefasst: "Glück kann durch einander kommen." Und wir wissen schließlich einfach nicht, wie viel Zeit wir mit einander haben. Sicher ist nur, dass sie begrenzt ist. 

8 Kommentare:

Juna hat gesagt…

Ich kann dich verstehen und diskutiere gerne mit dir. Jemand der dich kennt, weiß, dass du nix böses in Absicht hast, sofern man dich bisher anständig behandelt hat, daher Frage, Grübel und mach so weiter. Wenn bspw. von mir manchmal keine Antwort kommt, ist es weniger wegen "keine Antwort haben" mehr wegen "voll von anderem"...

Zum Abschied des... der Schmerz für die Eltern absolut verständlich, bei all deiner Fürsorge und Anteilnahme, pass dennoch auf dich auf und lass dich nicht zu sehr vereinnahmen, du hast gerade da schon oft genug negative Erfahrungen gemacht.

Fühl dich gedrückt

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Juna, danke für Deine Worte. Ich denke, die Freundin empfand das auch nicht als böswillig - aber eben als anstrengend. Und in jenem Moment fühlte ich mich als Belastung, die ich einerseits gar nicht sein will und andererseits wurde mir bewusst, dass ich selbst eigentlich.. viel zu müde bin inzwischen für diese Art der Kopfbelastung. Ob ich nun darüber sinniere, was sich für mich richtig oder falsch anfühlt, ist sowas von egal.

Zum zweiten Absatz kannste Dir mit dem Blauen die Hand reichen - der sagt in letzter Zeit öfter dasselbe. Ich weiß auch, dass er recht hat und dass er es vermutlich auch nicht mehr hören (bzw. glauben) kann, wenn ich sage "Ja, du hast recht, das muss ich", weil ich in der Praxis dann oft doch das Gegenteil tue. Für mich muss ich öfter sortieren, wann etwas in die Kategorie fällt "Jetzt ist ein Moment X, wo Belastung sein muss" oder in Kategorie "Das muss jetzt Zeit haben". Das Ding ist nur.. Wenn das Telefon aufblinkt, weiß ich eben noch nicht, in welche Kategorie etwas fällt.
Als am 21.11. - ein Samstag - das Telefon klingelte, da wusste ich allerdings, warum der Anruf kommt. Und selbst wenn das eine Krise im blauen Ziggenheim heraufbeschworen hätte, ich hätte nichts anderes tun als rangehen können :( Und ich bin dem Blauen noch jetzt sehr dankbar für seine Reaktion, den Film auszustellen und leise Musik aufzulegen, als ich irgendwann dann mit verheulten Augen aus dem Nebenzimmer kam.

Finchen hat gesagt…

Ich finde das auch immer so schrecklich, dass die Diagnosen mittlerweile immer näher "einschlagen". Wie Eltern sich fühlen, wenn das Kind auf welchem Wege auch immer geht, kann und mag ich mir überhaupt nicht vorstellen...

Fühl Dich gedrückt.
Wir sind uns sehr, sehr ähnlich, ich hätte genauso wie Du das Netz durchforstet nach der Diagnose.

Die Welt ist manchmal ganz bitter und ungerecht. Und Corona wirklich eine unserer leicht zu tragenden Sorgen.

Juna hat gesagt…

Liebes, das macht den Blauen aber auch aus und hätte auch der Beste sein können. "Pass auf" und warnen, aber dann "einfach" da sein und schützen. Der Blaue weiß doch sowieso, dass er dich nicht von deinem Handeln abhalten kann, er will dich ja auch wie du bist, trotzdem darf er sich sorgen und muss, wie der Beste auch, zwischendurch mal ein "Machtwort" sprechen ;-)Irgendwann kommt dann ja auch ein Teil davon in der Schaltzentrale an und unterstützt dabei deinen Weg zu finden ;-) (Ähnlichkeiten zu hier sind niemals gar nie nicht vorhanden ;-) )

Dies und Jenes hat gesagt…

Ich denke Freundschaften müssen das aushalten. Meinung sagen, anderer Meinung sein, seinen Standpunkt mitteilen aber eben auch zuhören und den anderen seine Worte aktzeptieren.

Stand heute - 6.49 Uhr bin ich unendlich dankbar. Ich wohne in vier Wänden, ich hab meine Kinder und Mann um mich und wir sind bis auf die eine oder andere kleine Macke, heute ziept das linke Bein, morgen fährts dem Mann in den Rücken, etcpp... gut da ist auch noch meine Seele und die Welt da draußen, aber ich krieg das hin irgendwie.

Drück dich und komm gut durch diese Zeit.

LG
Ursula
PS: ich höre gerade Am Arsch vorbei geht auch ein Weg die Fortsetzung..... hilft ungemein

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebes Finchen, ich zähle mich nach wie vor zu den Dankbaren, an denen diese ganze Corona-Scheiße (sorry) mehr oder weniger "unberührt" vorbeigeht. Was ich selber auch darüber denke oder empfinde - aber die Maske ist tatsächlich ein ganz geringes Übel. Dass man nicht ins Kino oder Fitnessstudio oder ins Lieblingslokal darf - auch. Ebenso stört mich weniger, dass ich nicht urlauben kann, wann ich wie möchte. Wenn nicht jetzt, dann eben im kommenden Jahr. Spätestens, wenn es wieder wärmer wird. Und zumindest aktuell gibt es keinen Anlass zur Sorge um meine Eltern. Also kann ich warten.
Aber mir ist auch wirklich jeden Tag bewusst, wie gut ich es damit habe. Und ich bin wirklich sehr, sehr froh, dass ich an den Weihnachtstagen mit und bei meinen Kindern sein kann. Zwar dürfen der Mann und ich nicht im Hotel übernachten (also an direkt an Weihnachten schon, aber das nutzt uns aufgrund der früheren Anreise nicht wirklich was), aber wir haben andere Lösungen gefunden, so dass wir uns wenigstens sehen können in dieser Zeit und ein paar Stunden zusammen sein können. Das ist - finde ich - in einer verrückten Zeit wie dieser beinah Luxus und sehr viel mehr, als andere haben.
Es ist aber auch so, dass ich mir trotzdem die Gedanken und Befindlichkeiten anderer anhöre und mit ihnen mitfühlen kann. Erst vor zwei Tagen "diskutierte" ich dann doch mit jemandem auf FB, der zu einem anderen, der von eigener Existenzangst schrieb, dass lieber der andere an seine Existenzgrenze geraten solle als die Krankenhäuser. Mir wurde das angezeigt, weil meine Nichte kommentierte, dass das doch richtig so sei. Faktisch/ sachlich gesehen vielleicht. Gleichwohl fehlt mir insbesondere auch in Zeiten wie diesen ein gewisser Grad an Einfühlungsvermögen. Mir fehlt, dass Menschen einander (besser) zuhören und aneinander rücken, anstatt weiter gespaltet zu werden. Und dabei beobachte ich, dass das nicht allein der Anonymität des Netzes zuzuschreiben ist. Sondern eine tendenzielle Entwicklung.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Juna, bei Deinem Kommentar habe ich seeeeehr breit gegrinst. :) :*

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Ursula, den Spruch kenne ich auch ;) Ich müsste vermutlich nur lernen, diesen Weg am Arsch vorbei auch gehen zu können. Wirklich oft gelingt mir das nicht, würde mich aber vermutlich relativ oft entspannen. Glücklicherweise gibts noch genügend alternative Wege für die Ruhe im Kopf :)
Ich wünsch Dir ganz von Herzen alles Gute!!