Montag, 8. Februar 2021

31

 


Ja Hase, in diesem Jahr habe ich irgendwie den Zeitpunkt verpasst, Dir rechtzeitig um 0 Uhr diesen Geburtstagsgruß zu schreiben. Da waren wir die letzten zwei Tage doch mehr auf die Wetterlage fokussiert und darauf, ob ich nun zu Euch kommen kann oder nicht - und nun sitze ich hier mit meiner ersten Tasse schönen heißen Kaffee (kennst mich ja :)) und schreibe Dir diesen Brief. Denn da sein kann ich in diesem Jahr nun nicht, aber glücklicherweise gibt es heutzutage viel mehr Möglichkeiten, den anderen zu erreichen. DICH zu erreichen.

Dieses Foto von Dir neben noch ein paar anderen fiel mir vor wenigen Wochen in die Hände. Wonach ich eigentlich gesucht hatte, weiß ich gar nicht mehr. Aber ich saß dann da auf dem Fußboden, schaute mir die Fotos durch und lächelte tatsächlich auch mit ein bisschen Wehmut. Wie klein und unbedarft Du da noch warst. So wissbegierig,so fröhlich. Ich weiß noch genau, wann und wo dieses Foto aufgenommen wurde. Bei Deinen Großeltern, die beide heute nicht mehr da sind, seit vielen Jahren schon nicht mehr. Die Brille, die Du da trägst, ist die Brille Deiner Großmutter. Und so klein Du damals auch warst, als sie starb - in Deiner Erinnerung ist sie nicht nur immer noch gegenwärtig, sondern Du kannst Dich auch an vieles noch erinnern. An viel mehr, als ich gedacht hätte. 

Ich schaue auf die Fotos von damals und schaue auf Dich heute. Wie groß Du geworden bist - und mit 1,95 m der größte von uns allen. Du schaust also auf uns alle hinunter - doch das aber nur körperlich. Denn in Deinem Wesen bist Du alles andere als herablassend. Im Gegenteil, Du bist zwar reserviert und zurückhaltend (geworden), aber Du bist wertschätzend (also zumindest mit Menschen ;)) und vor allem unfassbar sozial. 
Dir ist in Deinem Leben niemals etwas geschenkt worden, Du musstest Dir alles erkämpfen und für alles kämpfen. Wenn ich mir ein was im Leben wünschte, dann das, dass Du endlich ankommst, dass Du zur Ruhe kommst. 
Als Dein Bruder im letzten Jahr entschied, sein Zimmer umbauen zu müssen und dass die noch junge Wohnwand leider keinen Platz mehr finden würde und Du sagtest: "Na also DIE würdsch ooch nehmen", da war dies der Startschuss für Deinen Bruder und mich, Dir eine Grundlage zu schaffen. Wir waren uns einig: Was auch immer kommen kann und soll und wird, das fängt immer an einem grundlegenden Punkt an - und der, so meinten wir, beginnt in Deinem Zuhause. 
Dein bunt zusammengewürfeltes Zimmer aus Möbelstücken, die nicht nur alt, sondern auch abgewohnt und einfach nicht schön waren. Nichts, wo man sich wirklich gern jemanden einladen wollen würde.
Schau ich heute drauf, denke ich: JETZT kann er, wenn er es will. 
Sogar Dein Bruder sagt: "Es ist das erste Mal in den sechs Jahren, dass sein Zimmer schöner ist als meins."
Ungefähr zur selben Zeit hast Du Deinen neuen Job angetreten. Nicht, weil Dein alter Chef Dich nicht mehr wollte - ganz im Gegenteil. Zum ersten Mal in Deiner Laufbahn hast Du es erlebt, das jemand um Dich kämpfte, Dich einfach halten wollte. Er hatte Dir einiges versprochen, wenn Du dafür bleibst - und wenn Du mich fragst: Ich hatte das Gefühl, dass er es auch tatsächlich ernst meinte. 
Die Crux war eben nur: Man kann nie sagen, wie lange er sich an diese Zusagen gehalten hätte - und ob er Dir eines Tages nicht doch das eine oder andere wieder "weggenommen" hätte. Eine unkalkulierbare "Größe". Die, wo Du jetzt bist, birgt auch Unsicherheit - denn Du wirst zweimal für ein Jahr befristet. Ein normales Prozedere in Konzernen, habe ich von mehreren Seiten gehört. Es kommt also auf Dich an. Wie Du Dich machst, ob Du Dich engagierst und wie Du Dich einfügst.
Und auch hier muss ich sagen, hast Du mich ausgesprochen überrascht.
Eigentlich kenne ich Dich als einen Menschen, der seine Rituale pflegt und an seinen Gewohnheiten hängt. Veränderungen liegen Dir nicht.
Als Du zum Beispiel Dein "neues" Zimmer am Abend betratst, war das einzige, das Du sagtest: "Mutsch, du weißt doch, ich will mein Bett nicht ans Fenster!"
Und der zweite Satz war: "Wo ist meine Matratze?"
Damals musste ich wirklich lachen. Denn das alte schmale Bett war natürlich rausgeflogen und mit diesem auch die Matratze, die sich langsam, aber sicher durchlag.
"Mir egal", sagtest du, "ich hab mir meine Kuhle da reingesessen und die will ich zurück."
Natürlich gabs die nicht zurück und Du wusstest das auch. 
"Ein einfaches Danke würde mir auch reichen", habe ich gelacht und mir die schmerzenden Muskeln gerieben, während Dein Bruder nur mit den Augen rollte. 
Aber so bist Du inzwischen geworden: Harte Schale, weicher Kern. Du bist in Deinem Leben so oft verletzt worden, dass Du Dich heute schützt. Es ist gar nicht mal so schwer, durch Deine Schale zu dringen, aber manchmal denke ich, dass es Zeit wird, dass Du Dein Leben mit jemandem teilst. Nicht weil Du nicht allein sein kannst. Ganz im Gegenteil, das kannst Du sehr gut.
Aber eigentlich möchtest Du das gar nicht - auch wenn Du nicht daran glaubst, dass sich das je ändern würde. (Ich schon, wie Du weißt, und ich kann Dir wirklich ehrlich nicht sagen, woher ich dieses sichere Gefühl habe. Es ist auch keine Hoffnung, sondern tatsächlich.. ein sicheres Bauchgefühl.
Und doch stelle ich fest: Je länger Du allein lebst, desto mehr pflegst Du Deine Gewohnheiten, desto mehr kultivierst Du sie. Das bedeutet nicht, dass Du Dir damit Deinen Weg verbaust - aber Du bist ein Mensch,  den man entdecken muss, den man für sich entdecken muss. 
Wobei... Wenn ich das hier so schreibe und wenn ich darüber nachdenke... Da sind wir beide uns ja auch irgendwie ähnlich. Auch mir fiels nie wirklich schwer, Anschluss zu finden - aber ich war auch nie jemand, den man auf den ersten Blick unbedingt für sich gewinnen wollte. 
An der Stelle... denke ich dann doch wieder, dass es im Grunde egal ist, was Dein Umfeld denkt: Du machst Dein Ding. So war es immer schon. Wie oft hieß es "Das kann er nicht/ das schafft er nicht" - und Du hast allen das Gegenteil bewiesen. Ich liebe Deinen Kampfgeist, Deinen Ehrgeiz, Deine Loyalität, ich liebe vor allem Deine Persönlichkeit. Du bist unbedingt verlässlich. Gibst Du einmal Dein Wort, weichst Du davon auch nicht mehr ab. Du bist zutiefst aufrichtig. Zwar kennst Du Notlügen, aber Du magst sie nicht - und grundsätzlich Lügen lehnst Du ab. Das kommt für Dich nicht in Frage. Und ich liebe das wirklich an Dir. Weil es vor allem eins vermittelt: Auf Dich kann man bauen, auf Dich kann man sich verlassen. Du hast ein sehr starkes Wesen. Irgendwie musste ich mich bei Dir niemals sorgen, ob Du vom Weg abkommst, ob Du an falsche Freunde gerätst, ob Du Dir irgendwann mal was spritzen würdest oder gar kriminell werden könntest. Du bist einfach niemand, der alles dafür geben würde, irgendwo dazuzugehören. Du besitzt ein ausgesprochenes Gerechtigkeitsempfinden - und sobald Du spürst, dass da etwas in eine falsche Richtung geht, dann tust Du es nicht. Du würdest nie niemals jemandem schaden. 

Du glaubst nur nicht an Dich.
Dass Dein alter Chef Dich halten wollte, hieltst Du nicht für ein Kompliment an Dich, sondern sahst das ganz pragmatisch: "Ich bin ja auch der einzige, der sich jeden Dienst aufdrücken lässt."
Das sehe ich anders. Denn wenn man seinen Job nicht gut macht, dann spielt es keine Rolle, ob man in 6 Stunden oder in 10 Stunden "versagt". Und wenn man nicht gut in seinem Job ist, dann will man denjenigen auch keine 10 Stunden haben - dann ist man froh, wenn derjenige nach 6 Stunden heimgeht. Und sich über kurz oder lang was Neues sucht. 
Schon vor einem Jahr hatte Dein Chef Dich von sich aus angesprochen und Deine Entwicklung gelobt. Dass Du so weitermachen sollst und man dann über eine Gehaltserhöhung sprechen kann. 
Ob er zu dem Zeitpunkt schon wusste, dass Dir manche Kollegen das Leben richtig schwer machten? Dass sich ein Umgang eingeschlichen hatte, der sich zum Mobbing entwickelte?
Im letzten Sommer hat Dein Chef Dich darauf angesprochen und Ihr habt sehr lange miteinander gesprochen. Erst da hast Du nach und nach einiges erzählt oder bestätigt. Eigentlich musste er es Dir aus der Nase ziehen, denn Du bist ein Mensch, der die Dinge für sich selbst klären und regeln will - und nicht zum Vorgesetzten geht. So wie die eine Kollegin Dich anmaulte: "Dann geh doch zu M. und beschwer dich über mich." Und Du sagtest: "Wieso sollte ich das tun, ich will nur meine Ruhe und meine Arbeit machen. Ich will mit den Leuten auskommen."
Und das sehe ich genauso: Man muss nicht mit jedem befreundet sein. Aber wenn man schon einen ganzen Tag lang miteinander arbeitet, dann sollte man schauen, dass man miteinander auskommt. Sich Dinge sagen kann, die nicht gut laufen, aber auch nicht jeden Tag aufeinander einhacken oder sich unnötig das Leben schwer machen. 

Ich bin noch heute überrascht, wie problemlos der Wechsel für Dich im letzten Jahr war. Auf die Frage, wie es Dir im neuen Job gefällt und ob Du Dich wohlfühlst, rollst Du immer nur mit den Augen: "Wieso fragt mich das jeder?" Und ich sage dann: "Weil es uns wichtig ist zu wissen, ob es dir gut geht."
Und das ist ja auch nicht nur mir wichtig :)
Du erzählst fast nichts von Deiner neuen Arbeit. Aber eins ist mir aufgefallen: Du wirkst entspannter. Ausgeglichener. Natürlich gibt es Tage, wo Dir manches zuviel ist und Du einfach nur in Ruhe gelassen werden willst. Die haben wir alle. Aber die grundlegende Tendenz... Du fühlst Dich gut an. Und Du glaubst gar nicht, wie wahnsinnig mich das für Dich freut. 
Es gab Zeiten, da hast Du öfter mal angerufen, wenn irgendwas schiefging oder Du bei irgendwas Hilfe brauchtest. Inzwischen meldest Du Dich fast gar nicht mehr :)

Auf meinem Schreibtisch hier stehen zwei Fotos: Das da oben mit der Brille und das andere mit Deinem Bruder, das Ihr mir vor drei Jahren zu Weihnachten geschenkt habt. Dazwischen liegen rund 30 Jahre. Ich schau sie mir oft im Wechsel an und so oft denke ich: Ich wünschte mir die Zeit zurück, als Du noch so klein warst. Wie vieles würde ich heute anders machen. Die Zeit mit Dir und dann später mit Deinem Bruder würde ich heute so gern und viel mehr genießen. 
Mir tut es bis heute weh, dass ich Vergangenes nicht mehr ändern bzw. auch nicht zurückholen kann. Denn es zählt wirklich nur das Eine: dass es Dir und Deinem Bruder gut geht. Dass Ihr zufrieden seid. Dass Ihr Euch ein Leben aufbauen könnt, das Euch glücklich macht. 
Dass Du Furcht vor Enttäuschungen hast, weiß ich.
Aber vor allem weiß ich, dass Du das kannst - und dass Du in Deinem ganz eigenen Tempo gehst, auch wenn Du selbst manchmal denkst, das würde sowieso nie und überhaupt. Auch wenn Du selber manchmal ungeduldig bist.

Du hast schon früher oft gesagt: "Ist ja klar, dass du an mich glaubst, ich bin ja auch dein Kind."
Aber eins kannst Du mir glauben: Es liegt nicht daran, dass Du mein Kind bist, sondern es liegt daran, dass ich an Dich als Mensch glaube. Weil Du so bist wie Du bist. Weil Du eine Persönlichkeit hast. Und weil es viel mehr Menschen wie Dich geben sollte. Das meine ich wirklich ehrlich.
Ich weiß genau, wie Du jetzt guckst, wenn Du das liest. Augenbrauen hoch, Augen rollen, der Mund verzieht sich. Und wenn ich daran denke, schmunzle ich. 

Ich lieb Dich wirklich, mein Junge, und ich bin wahnsinnig stolz auf Dich. Für das, was Du bis hierher aus Dir gemacht hast - und für das, wie Du Dich bis heute entwickelt hast.
Und ich freu mich wirklich auf alles, was jetzt noch kommt und wie es für Dich weitergehen wird.
Und ich freu mich darauf, dabei sein zu können, selbst von hier aus. 

Alles Liebe zu Deinem Geburtstag, mein Hase.
Heute Abend werden wir dann mal videotelefonieren - denn wir hätten da noch eine Überraschung für Dich :*

Deine Mama

7 Kommentare:

Finchen hat gesagt…

Ein wunderschöner Geburtstagsbrief.
Ich wünschte, ich hätte so eine Mutter wie Dich.
Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.

Ich höre nur von Fremden, dass es ja schon erstaunlich ist, was aus mir aus geworden ist bei meinen Eltern und meiner Kindheit.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebes Finchen, natürlich kenne ich Deine Kindheit nicht, Deine Eltern nicht. Aber glaub mir, grad angesichts dessen bin ich wirklich stolz auf meinen Jungen, dass er so geworden ist wie er ist. Dass er nicht gebrochen wurde. Mehr bzw. Genaueres möchte ich hier nicht schreiben. Die letzten Jahre haben mir aber vor allem eins gezeigt: dass es eines guten, starken Charakters bedarf - und dass er den hat. Es ist genau dieser Punkt, der mir immer wieder auf die Beine hilft, wenn ich mich zerfleische.

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Hallo, stolze Geburtstagsjungen-Mutter, deinen "Kurzroman: Mutterglück zum Geburtstag ihres Sohnes" habe ich jetzt ein zweites Mal gelesen. Ich kenne kaum jemand, die so lange, so liebe und so offene Briefe an ihre Kinder hier schreibt - es ist wirklich berührend.
Von "mir" hat dein Sohn seine unbedingte Wahrheitsliebe oder Lügenhasserei - na gut, vielleicht het er sie auch von dir geerbt, wäre ja wahrscheinlicher. Aber seit 1980, als ich ein halbes Jahr von meinem Ex so penetrant belogen wurde - seitdem habe ich beschlossen, höchstens mal eine "Freundlichkeitslüge" durchgehen zu lassen, wenn ich der anderen Person nicht weh tun will. Andere habe ich meist nicht mehr nötig.
Ganz liebe Grüße mit Herz (ich merke mir nie, wie ich diese hier über die Tastatur erstellen kann) schreibt dir Clara

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Kurzroman!!! :D Ich hab so gelacht grad, Clara, aber ja, Du hast ja recht. Da bin ich wohl (mal wieder) etwas ausgeschweift ;)
Ich glaub, ich habs schon mal gesagt, aber die Briefe lesen die Jungen wirklich. Es ist das einzige, was sie in diesem Blog lesen - und der Große äußert sich ja nie wirklich dazu. Aber ich weiß, was es mit ihm macht, und das ist für mich die Hauptsache :)
Der Jüngere ist da anders. Wenn ich da bin, drückt er mich ganz sehr; wenn ich nicht da bin, schickt er mir über whatsapp seine Herzen und so :)

Grit hat gesagt…

Herzlichen Glückwunsch an den Sohn, mögen all seine Wünsche und Träume in Erfüllung gehen. Auch ein Wassermann - das sind die Allerbesten! :);) (Ich und Sohnemann gehören auch in diese Kategorie) Was für ein schöner, berührender Geburtstagsbrief, liebe Helma. Viele Grüße, Grit.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Danke Grit :)

Gretel hat gesagt…

<3