Mittwoch, 8. November 2023

Die kostbaren Augenblicke


Die Zeit, sie vergeht so irrsinnig schnell. 
Gerade haben wir noch mit Herzklopfen das neue Jahr ersehnt, uns vorgestellt, was es an hoffentlich Gutem bereithalten würde, haben Pläne geschmiedet oder auf eine Zeit gehofft, die losgelöster wäre von Zweifeln, Ängsten. Auf eine Zeit, die Gutes mit sich bringen würde.
Gerade haben wir noch das erste zarte Grün in den Gärten und an den Bäumen in der Straße bewundert, die Mäntel gegen die Sommerkleider getauscht, im Meer gebadet, barfuß Muscheln und Steine gesammelt und über den weiten Horizont des Meeres geschaut, die Augen mit der Hand abgedeckt ob der Sonnenstrahlen. In der Sonne gelegen und in der Nacht die verbrannten Stellen auf der Haut mit leichter Creme abgedeckt.
Und hat man sich nur ein einziges Mal umgewendet, ist der Herbst schon herangekommen, hat die Bäume in goldrote Farben getaucht, für kurze Zeit nur, und jetzt rieseln sie Tag für Tag zu Boden.. Das Schnarren der Raben kündigt sie an, die kalte Zeit..
Und nun ist es beinah zum Greifen nah, das Ende dieses Jahres. Ein Jahr, von dem ich für mich noch nicht entschieden habe, wie es sich anfühlen soll.
"Geht es dir gut?" hat der Mann mich gestern Morgen gefragt.
Was soll ich darauf antworten?
Ich habe ein schönes, warmes Zuhause.
Ich habe einen Job; einen fordernden - aber einen guten.
Ich habe gesunde Kinder, soweit.
Ich bin selber gesund, soweit.
Was kann man anderes darauf antworten, als dass es einem gut ginge?
Und dennoch.. kann ich nachts kaum noch schlafen, drehe und wende ich mich hin und her, decke mich auf, decke mich zu, starre mit großen Augen in die Dunkelheit und versuche, all diese Gedanken aus meinem Kopf herauszubekommen, die mich am Schlaf hindern. 
Eine Zeitlang habe ich mich gefragt, ob es am Älterwerden liegt, dass so viele Dinge mich sorgen. Doch wenn ich mich so umhöre.. Dann ist es längst keine Frage des Alters mehr. 

Es hat mal eine Zeit gegeben, in der ich mir einen Raum für mich gewünscht habe. Ein kleines Hotelzimmer irgendwo in irgendeiner Stadt, die ich nicht kenne. Fremde Straßen, fremde Hausnummern, fremde Zimmer mit einem Bett darin nur für mich ganz allein. Einer Kommode, einem breiten Fensterbrett, auf dem ich mich niederlassen und hinausschauen könnte. Mich herauslösen aus dem Alltag und hineintauchen in eine fremde Welt, die meine Sinne inspiriert und mir Zeit und Raum nur für mich selbst ermöglicht. 
Als ich den Song "Motel" für mich entdeckte, fühlte ich mich an längst vergangene Zeiten und längst verblichene Erinnerungen berührt. An Nächte in irgendwelchen Motels. An meine Sehnsucht, zu verreisen, die Tasche hinten auf dem Rücksitz mit nichts darin außer einigen Kleidern, ein paar Büchern und dem Strohhut. 

Die Realität aber hier und jetzt ist, dass ich von früh bis abends arbeite und immer dann, wenn ich denke, endlich mal wieder etwas Luft am geschnürten Hals zu bekommen, neue Forderungen auf den Tisch bekomme. Den Deadlines und Terminen hinterherjage, weil dieses "was heute nicht wird, wird morgen" nicht das meine ist. Weil die Gleichgültigkeit anderer mich wahnsinnig macht. 
Im Kopf all die Arbeit und all die privaten Sorgen, die mich bis unter die Haarwurzeln belasten, die ich hier aber nicht ausbreiten mag. Aber da ist dieses Gefühl... dass alles an mir zerrt und zehrt. Dass ich nicht mehr zur Ruhe finde, im Kopf nicht und in der Seele nicht. Und dabei zusehe, wie ich jeden Tag an meiner Mühe scheitere, versuchen zu wollen, dass es allen gut geht, dass alle gut zueinander sind.. 
Schon längere Zeit zittern meine Hände, vibriert mein ganzer Körper, die Herzfrequenz am Anschlag.
Ich weiß gar nicht, wie lange das her ist, dass es mir so ging, aber gestern Mittag hab ich mich im Büro im Badezimmer eingeschlossen und nur geweint. So richtig geweint wie früher als Kind. 
Darüber sprechen kann ich nicht, weil ich gar nicht weiß, mit wem. 
Den wenigen, denen ich im Büro vertraue, mag ich es nicht sagen. Wir haben alle unsere Sorgen, wir haben alle zu tun. 
Der Mann hat mit sich zu tun. 
Den wenigen, denen ich außerhalb des Büros vertraue, haben ganz andere, elementare Sorgen - da muss ich ihnen nicht mit meinen Luxusproblemen kommen. 
Stattdessen höre ich mir die Sorgen und Probleme anderer an und denke mir, worüber beklage ich mich eigentlich..
In den letzten Wochen habe ich oft gemalt - aber ich spüre schon, bevor ich mich an meinen Maltisch setze, ob "es fließt oder nicht". Und da fließt irgendwie nichts mehr. Der Kopf ist blockiert, die Seele nicht frei. Ich habe Angst bekommen vor der Zukunft, wenn ich höre und sehe, was in der Welt passiert, was hier bei uns passiert. Ich frage mich, wohin ich gehen kann, um mich all dem zu entziehen - und wie ich es anstelle, dass der Mann und meine Kinder mit mir kommen. 
Ich zucke zusammen, wenn ich höre und lese, wie Menschen miteinander sprechen, miteinander umgehen. 
Mir wird das Herz schwer, wenn ich höre und sehe, wie innerhalb der Familie übereinander gesprochen und miteinander umgegangen wird. 
Mir wird das Herz noch schwerer, wenn ich mich fragen muss, ob dieser eine Geburtstag der letzte Geburtstag sein wird, den wir feiern.

Ein kluger Mensch hat mal gesagt: "Wir brauchen viele Jahre, bis wir verstehen, wie kostbar Augenblicke sein können."

Und warum leben wir sie dann nicht?

Dienstag, 19. September 2023

Nachtgedanken


Vor kurzem hab ich ein Mini-Interview gesehen mit einer Krankenschwester aus England, glaube ich. Sie hat schon viele Menschen beim Sterben begleitet und auf die Frage, was diese Menschen so kurz vor ihrem Abschied am meisten beschäftigte, antwortete sie: Als erstes sagen die Menschen, sie hätten weniger arbeiten und mehr das Leben genießen sollen. (Das zweite habe ich vergessen.) Und als drittes sagen die Menschen, sie hätten das Leben führen sollen, das sie wirklich wollten - und nicht das, was man von ihnen erwartete.

Mir gingen bei diesen Worten zwei Dinge durch den Kopf. Zum einen, dass ich nach all den Jahren immer noch sehr erleichtert darüber bin, dass das Leben vor nun genau zwanzig Jahren eine völlig andere Richtung eingenommen hatte. Damals sagte ich zu dem Mann, von dem ich mich gerade erst getrennt hatte, dass wir beide alle Möglichkeiten in der Hand hielten und nun jeder für sich etwas daraus machen könnte. Das Richtige für sich tun könnte. 
Würde ich diesen Weg nicht gegangen sein, damals, dann wäre ich vermutlich Jahre später nicht mehr gegangen - und würde irgendwann vor meinem Ende all das bedauern, was ich eben nicht getan habe..
Mir gingen auch die Worte des heutigen Mannes durch den Kopf, der vor sehr langer Zeit mal zu mir sagte, dass ich vielleicht nicht genug arbeiten würde, wenn ich nicht so viel Geld verdiene.
Dazu muss ich sagen: Ich hab immer gern gearbeitet, weil ich es liebe, eine Aufgabe zu haben. Etwas habe, an dem ich mich messen und an dem ich wachsen kann. Das, was ich mache, hab ich immer mit Herzblut gemacht. Arbeit habe ich nie gescheut. Vielleicht kann man eher sagen, dass ich in einer Berufsgruppe unterwegs bin, für die mir die eine oder andere Zusatzausbildung oder Qualifizierung fehlt, um dort mehr Gehalt zu bekommen. 
Bis heute habe ich weder das eine noch das andere nachgeholt - die Gründe hierfür sind verschieden - aber wo ich heute angekommen bin, das erfüllt mich mittlerweile doch mit einem guten Gefühl. Oder Stolz - darf man Stolz überhaupt noch sagen? Inzwischen sind ja so viele Worte und Empfindungen negativ besetzt, dass ich heute schon noch mehr überlege, was ich sage und wie ich es ausdrücke.
Jedenfalls, die Position, die ich heute hab, verbunden mit dem Gehalt, das ich seither bekomme, fordern eben auch ihren Tribut. Dass ich arbeite, auch wenn ich erkrankt bin; dass ich auch mal arbeite, wenn ich im Urlaub bin; dass ich vor allem im Home Office oft zehn Stunden am Tag arbeite - das hab ich alles schon vor Gehalt und Position gemacht - aber heute werde ich eben auch dafür bezahlt. 
Ich denke, ein Stück weit wird einfach von mir erwartet und auch vorausgesetzt, keinen Dienst nach Vorschrift zu machen. Das war zwar noch niemals meine Einstellung, dennoch führt meine Arbeitsweise auch heute noch immer wieder zu Diskussionen mit dem Mann. Er wünschte sich, ich würde weniger arbeiten - nur wäre ich ohne Herzblut und Engagement eben nicht da, wo ich heute bin..
Gleichwohl ist Abgrenzung nach wie vor ein großes Lernthema für mich. Sicherlich bin ich da schon vorangekommen, aber da.. ist noch Luft nach oben, würde ich sagen. 

Nach dem Urlaub im Sommer hab ich mich so herrlich entspannt und erholt gefühlt - und dieses Empfinden hielt eben einfach nicht lange an. Jetzt sind wir für einige wenige Tage nach Italien gefahren. Ich liebe dieses Land, ich liebe diese Lebensart - auch wenn ich immer wieder schmunzeln muss, weil die Italiener so furchtbar hektisch sprechen. Aber ich liebe ihr Essen, ihre Lebensart, insbesondere der Menschen in der Toskana, fernab von größeren Metropolen. Ich bin wirklich sehr gern hier - und frage mich öfter: Wo möchte ich später mal sein, wenn ich nicht mehr arbeiten muss?
An die Küste - und welche? Kann ich das auch dann bezahlen, wenn der Mann nicht mehr bei mir ist? 
Wie finanziert sich mein Leben dann überhaupt? Genügt die Vorsorge? Genügt das Einkommen nach dem Arbeitsleben? Was brauche ich selbst und wieviel brauche ich, um glücklich zu sein?
Ich glaub, diese Antwort ist.. ziemlich einfach.
Eigentlich.. brauche ich nur die Musik und das Malen. 
Einen kleinen bezahlbaren Wohnraum für mich finde ich ganz sicher, ganz gleich wo. 
Eigentlich.. mache ich mir da nicht wirklich Sorgen. 
Nur Gedanken. Hin und wieder. Mal mehr, mal weniger..

Und inmitten dieser Gedanken stolperte ich über die Gedanken einer anderen Bloggerin und deren "Prokrastinationsstöckchen".. Wann immer ich solche Fragen lese, formuliere ich selbst beim Lesen fremder Antworten meine eigenen...

1. Wo ist Dein Handy?
Neben mir. "Du und dein Handy" murrt der Mann ja oft. Irgendwie hat er recht. Das Teil und ich sind vermutlich schon sowas wie ne Symbiose eingegangen. Aber da ist einfach auch alles drauf, was ich brauch. Ganz voran - dank Spotify - eine ungeahnte Fülle an für mich toller Musik.

2. Dein Partner?
Steht grad draußen in der Nacht aufm Balkon. Er hatte schon geschlafen, war wieder aufgestanden und nun wartet er, dass ich hier fertigwerde und mich mit ins Bett begebe :)

3. Deine Haare?
Wachsen wieder. Gott sei Dank. War doch bisschen erschrocken, wieviel beim letzten Friesemeistergang abgesäbelt worden war. 

4. Deine Mama?
Die ist beim Papa.

5. Dein Papa?
Der ist bei der Mama.

6. Dein Lieblingsgegenstand?
Hm. Ich habs nicht so mit Superlativen. Vermutlich bin ich da typischer Zwilling: Kann mich so schlecht festlegen :)
Der Mann hingegen würde ja jetzt sofort sagen: "Na dein Handy!"

7. Dein Traum von letzter Nacht?
Hm, gruselig.. Ich träumte, ich stünde in einem Wohnhaus (irgendwie ähnelte es dem Haus, in dem ich mit dem Ex lebte) unten an der Tür und irgendein Mann wollte, dass ich rauskomme und mit ihm mitgehe. Mir wurde jedoch bewusst: Eh das geht schief, der ist gefährlich.
Also hab ich die Tür zugeschlagen und versucht, in eine der Wohnungen zu fliehen, bevor der Mann die Tür öffnen und mich jagen konnte. Aber da gab es keine Wohnungen und in diesem Haus und keine Tür, die sich für mich öffnete.. Da bin ich aufgewacht.
Ich hatte sehr, sehr lange Ruhe vor beklemmenden oder gar Alpträumen. 
Jetzt geht die Scheiße hoffentlich nicht wieder von vorne los.

8. Dein Lieblingsgetränk?
Na gut, das ist einfach ;)

9. Dein Traumauto?
Klein und handlich muss es sein. Und ich bin noch immer ein Fan von Audi. Kann mir nicht helfen, war schon immer so. Der Mann zeigte mir heute so nen kleinen Fiat 500 oder so - kennt Ihr sie noch, diese alten, runden Modelle? Er meinte: "Das wird später mal dein Stadtauto" und ich grinste breit. 

10. Der Raum, in dem Du Dich befindest?
Im Wohnbereich der Ferienwohnung. 

11. Dein Ex?
Ich denke an dieser Stelle nach vorn, nicht zurück.

12. Deine Angst?
Oh, hm, mehrere: vor Höhe, vor Enge. Begraben, verbrannt zu werden, ohne wirklich tot zu sein. Am schlimmsten: Angst um die Kinder. Je oller, je doller. 

13. Was möchtest Du in 10 Jahren sein?
Glücklich. 

14. Mit wem verbrachtest Du den gestrigen Abend?
Mit dem Mann. Ich malte, er las. 

15. Was bist Du nicht?
Geduldig. Knitterfrei. 

16. Das Letzte, was Du getan hast?
Grußkarten malen. Verlege mich grad vom Steine bemalen auf Grußkarten malen und übe mich hierbei in Aquarell. Da ist aber noch wirklich ganz, ganz viel Luft nach oben. 

17. Was trägst Du?
Ein Sommerkleid.

18. Dein Lieblingsbuch?
Ein ganzes halbes Jahr. Da ist sooo unfassbar viel von mir in der Protagonistin.
(Und grad stell ich fest, ich kann ja doch in Superlativen ;))

19. Das letzte, was Du gegessen hast?
Spaghetti Bolognese. Selbst gemacht. Danach war ich so satt, dass ich kein Abendessen mehr brauchte.

20. Dein Leben?
Es fühlt sich vieles neu und ungewohnt an. Mit dem Rückzug von M nach L haben der Mann und ich die Seiten getauscht. Jetzt ist er fast ausschließlich im Home Office, während ich wieder mehr ins Office gehe. Wie sehr mich das noch anstrengt, spüre ich daran, wie sehr ich mich auf diese kleinen Kurzurlaube freue. Kein "wir machen nur einen Urlaub im Jahr", sondern "wir verteilen unsere freien Zeiten auf zwei-, dreimal im Jahr" - und ich genieße das nicht nur, ich brauche das momentan wirklich. 

21. Deine Stimmung?
Ausgeglichen. Entspannt. Hier hab ich überlegt, ob ich das schreibe. Weil.. Immer, wenn ich hier im Blog schrieb, dass es mir grad gut geht oder so, dann und wirklich immer dann ist im Anschluss irgendetwas vorgefallen, was mir genau diese Stimmung wieder genommen hat..
Ich bin nicht abergläubisch, aber nach der x-ten Wiederholung schleicht sich dann doch ein etwas mulmiges Gefühl ein. 

22. Deine Freunde?
Fast alle wieder in der Nähe - nur liegts hauptsächlich an mir, dass ich nur wenige wiedergesehen habe und es auch noch keine Wiederholungen gab. Ich muss mich noch reinfinden in den neuen Rhythmus in L. Womit ich auch wieder beim Lernprozess des Abgrenzens wäre ;)

23. Woran denkst Du gerade?
Oh da bin ich typisch Frau und typisch Zwilling: In meinem Kopf gehts grad zu wie auf nem Jahrmarkt. 

24. Was machst Du grad?
Na bloggen??!!

25. Dein Sommer?
Oh, ich hab eins festgestellt: Ich bin kein Sommerkind mehr. Am Winter mag ich nicht, dass die Bäume kahl und die Landschaft oft so trist ist.
Was liebe ich also? Genau. Den wundervollen Herbst mit seinem goldgelben Kleid. Ich freu mich so auf die Zeit meiner rosafarbenen Strickhandschuhe, den Strickstrümpfen und den Boots, dem Schal und den heißen Kakao oder Milchkaffee.. DAS ist einfach meine Zeit!

26. Was läuft in Deinem TV?
Nichts. Im Urlaub brauchen wir den nicht. 

27. Wann hast du das letzte Mal gelacht?
Heute Abend über den Mann. Oder besser gesagt: Wegen dem Mann ;) Ein kleiner, aber bedeutender Unterschied. 

28. Das letzte Mal geweint?
Das ist eine Weile her und es ging um meinen Jungen. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. 

29. Schule?
Ich lerne jeden Tag etwas dazu.

30. Was hörst Du gerade?
Obigen Song (in Dauerschleife). Das ist so eine Kategorie, das hör ich am liebsten beim Autofahren, beim Bummeln in der Stadt, beim Sitzen in der Sonne...

31. Liebste Wochenendbeschäftigung?
Ausschlafen. Malen. Musik hören. Radeln. Spazieren gehen. Entdecken. Sehen. Freuen. Genießen. Alles - Hauptsache stressfrei.

32. Traumjob?
Öhm... Vor etlichen Jahren hätte ich noch gesagt: Was Soziales, was mit Kindern. Inzwischen bin ich mir darin nicht mehr so sicher. In Zeiten, wo selbst Grundschulkinder mit Dingen in die Schule kommen, mit denen ich nicht mal als Erwachsene in Berührung kommen wollte, weiß ich nicht mehr, ob das was für mich wär. 

33. Dein Computer?
Passt, wackelt und hat Luft. Sagt man so, oder? Grundgütiger, was soll ich denn zu nem Computer sagen? Was is das für ne Frage?

34. Außerhalb Deines Fensters?
Hier? Oder zu Hause? zu Hause hab ich endlich meinen geliebten Kastanienbaum vor dem Fenster. Nicht ganz soooo nah, wie ich mir das gerne gewünscht hatte, aber er ist da, es gibt ihn - und ich kann ihn mir jeden Tag anschauen, wenn ich frühstücke oder zu Abend esse.

35. Bier?
Äh igitt. Never ever.

36. Mexikanisches Essen?
Habe ich vor vielen Jahren mal gegessen. War sehr lecker. 

37. Winter?
Ist jetzt nicht so meine bevorzugte Jahreszeit. Ja es sieht toll aus, so eine verschneite Landschaft. Ich hab aber lieber trockene Straßen - und das ist für manche Städte noch immer eine Herausforderung. Die scheinen jedes Jahr aufs Neue überrascht, dass es sowas wie Schnee gibt.
In diesem Jahr aber freu ich mich vor allem auf die Weihnachtstage. Das erste Weihnachten, an dem wir nicht fahren müssen - und trotzdem die Familie bei uns haben. 
Für den Mann ist das hier nicht so einfach - er vermisst M und er vermisst seinen Sohn. 
Ich kann das absolut nachempfinden, das hab ich die letzten acht Jahre auch so empfunden. Es wird für immer unser Spagat bleiben, denn meine Kinder werden nicht nach M wechseln - und der Sohn des Mannes nicht (zurück) nach L.
Und M selbst.. Es ist nicht so, dass ich die Stadt nicht vermisse. Es ging so schnell und so einfach, mich dort einzuleben, das hab ich nie gedacht. 
Wohnen möchte ich dort dennoch nicht für den Rest meines Lebens.
Zu weit weg vom Meer, zu teuer für mich allein, sollte es eines Tages so kommen. Es ist auch einfach zu weit weg von meinen Söhnen, von denen einer noch mit vielem hadert und dankbar ist, nicht vergessen zu werden.

38. Religion?
Ich habs nicht damit. Im Namen der Religion ist schon so unendlich viel Unglück über die Menschen gebracht worden. Wenn überhaupt, würde ich am ehesten zum Buddhismus passen. Unterwerfen würde ich mich jedoch keiner Religion. 

40. Auf Deinem Bett?
Da liegt aktuell jetzt wieder der Mann, weil dem das hier alles zu lange gedauert hat :)

41. Liebe?
Liebe ist ein großes Wort. Auf Worte gebe ich nichts mehr. 
Aber es ist ein wunderbares Lebensgefühl. Und davon hab ich, glaub ich, ganz viel. 

So, und weil es jetzt 1:10 Uhr ist und ich auch langsam müde werde, verabschiede ich mich von Euch und meinen Nachtgedanken.

Montag, 11. September 2023

Auf leisen Sohlen


Da hab ich mich nur einmal kurz umgesehen - und schon neigt sich der Sommer dem Ende entgegen. Auch dann, wenn er noch einmal so richtig auffährt und alles aus sich herausholt, was dem Menschen um diese Zeit noch geboten werden kann.
So wie am gestrigen Tag, als wir uns die Fahrräder nahmen und zum See radelten.
"Gib auf deinen Rock acht", mahnte der Mann, während ich ihm lachend davonfuhr und es genoss, wie Sonne und Wind die Haut streichelten und der Rock im Wind flatterte. 
Ich meine.. wir sind inzwischen im September angekommen - und haben gestern im See gebadet, der noch so gar nichts von Spätsommer oder gar Herbst anmuten lassen wollte. Auch färbt sich noch nicht einmal das Laub.

Aber da ist der Ruf der Raben vor unserem Fenster, die mit ihrem Schnarren den Herbst ankündigen. Wie sie da sitzen im Kastanienbaum auf der einen Seite oder auf der Platane, wenn ich von meinem Bett aus zum Fenster hinausschaue. Es war übrigens genau dieser Blick, der den letzten Ausschlag gab, dieser Wohnung zuzusagen. Gibt es etwas Schöneres, als vom Bett aus auf sattes Grün schauen zu können? Ja freilich, gibt es - das Meer :) 
Gleichwohl.. wäre da ja immer noch mein ganz persönliches Dilemma - die Frage des Wohnens am Meer oder in einer Metropole - oder bestenfalls mit beidem zusammen. Jedoch dazu das Land verlassen zu müssen, dazu wäre ich zumindest in der aktuellen Zeit noch nicht bereit.
Erst wenn sie ihren eigenen Lebensmittelpunkt gefunden haben, die beiden Jungen.. Erst wenn ich weiß, dass es da jemanden gibt, der ihre Ängste, ihre Sorgen, ihre Glücksmomente, ihr Lachen teilt - erst dann könnte ich es mir vorstellen zu gehen. Noch einmal ganz woanders hinzugehen..
Beim Jüngeren stehen die Zeichen sehr gut hierfür, der Ältere wird mehr Zeit dafür benötigen. 
Es hat eine Zeit gegeben, in der ich mir sagte: Er hat alle Zeit der Welt und auch ich kann warten auf das, was mir, was uns wichtig ist.
Jedoch las ich unlängst diese Zeilen "Es gibt Dinge im Leben, die man nie sagt, weil man glaubt, man hätte noch ein ganzes Leben lang Zeit. Man hat kein Leben lang Zeit. Nie."
Und irgendwie.. stimmt das ja auch. So irgendwie halt. 


Vor einigen Tagen stand ich am Bahnsteig und habe gewartet. Auf die Bahn und auf einen Menschen, der mir sehr viel bedeutet.
Ich stand dort, ich hatte meine Musik in den Ohren und während der Blick langsam all die Menschen einfing, ihre Gesichter, ihre Mimiken, ihre Gestiken, da wünschte ich mir, ich könnte in die Bahn steigen. Würde irgendwo hinfahren, irgendwo aussteigen und mir anschauen, was mir dort begegnen würde. Und sei es einfach nur für diesen einen Tag. Vielleicht auch doch ein Zimmer irgendwo nehmen und anderentags wiederkommen. Reich angefüllt mit Eindrücken, mit Ideen, mit Inspirationen.
Das ist die eine Seite an mir.
Die andere ist ja - realistisch betrachtet - jene Seite, die Furcht entwickelt. Die, solange sie nicht losgelaufen ist, Furcht vor dem Weg entwickelt; davor, nicht wieder heil und gesund heimzukommen. Aus ganz verschiedenen Gründen, die - bei Tag betrachtet - ja alle irgendwie völlig substanzlos sind. 
Wenn ich daran denke, wie sorglos ich noch vor einigen Jahren war... Wenn ich daran denke, wie leichtsinnig ich genau genommen vor einigen Jahren noch war... Dann bin ich tatsächlich auch dankbar. Dankbar dafür, dass ich bei all den Dummheiten, die ich angestellt habe, immer noch Glück hatte.
Gerade muss ich ein bisschen lachen, weil mir die Tage an der Küste einfallen, zu denen ich mich spontan entschlossen hatte. Einfach ein Ziel herausgesucht, eine Unterkunft gebucht - und losgefahren. Um vor Ort festzustellen, dass sich das Zimmer, das ich meinte, gebucht zu haben, leider doch nicht im ersten Stock mit dem kleinen niedlichen Balkon und dem wunderbaren Blick auf das Meer befand, sondern im Erdgeschoss. Was zur Folge hatte, dass ich, kaum dass der Abend nahte, alle Vorhänge sorgfältig zuzog, auf dem Sofa statt im Schlafzimmer übernachtete (ich hab bis heute noch nicht verstanden, warum sich ein Sofa für mich sicherer anfühlt als ein Schlafzimmerbett) und mich blind und taub stellte, als jemand an der Wohnungstür rüttelte, während mir das Herz bis unter die Haarwurzeln schlug. Das Telefon mit eisernem Griff in der Hand, bereit, sofort den Notruf zu wählen, sollte die Eingangstür auch nur ein bisschen nachgeben wollen. 
Vielleicht war ja jener Zeitpunkt etwas ungünstig gewählt, vielleicht war die Jahreszeit weniger ansprechend. Vielleicht hätte ich mehr Menschen auf den Straßen, im Haus gebraucht, die mir ein Gefühl von Sicherheit vermittelten. Der Mann träumt ja oft von einem Haus in den Bergen. Er weiß, dass er mich davon niemals wird überzeugen können. Für ihn ist es der Reiz der Natur, der Stille, der Ruf der Berge. Für mich jedoch bedeutet es Einsamkeit und gruselige Nächte. 

Am Ende werden wir sehen, wohin es uns treibt. Wichtig ist doch eigentlich nur, dass uns die Zeit für all das bleibt, wovon wir träumen, was wir uns wünschen. Dass wir - wider besseren Wissens - eben doch alle Zeit der Welt haben, irgendwie. Weil man sein Leben doch nicht auf Kosten anderer führen kann. Oder besser gesagt.. Ich kann das nicht. Oder noch besser: Ich möchte das nicht. 
Unlängst sagte ich einer Freundin: "Mach mehr von dem, was sich für dich gut anfühlt". Woraufhin sie antwortete: "Würde ich ja gern, wenn nicht alle zwei Minuten jemand was von mir wollte."
Im ersten Affekt wollte ich antworten: "Dann grenz dich ab."
Ich habs dann aber nicht geschrieben. Weil Abgrenzung wichtig ist - aber nicht immer über allem und jedem steht. 

Mit dem Herbst, der nun auf leisen Sohlen naht, fühle ich jedoch, wie auch ich wieder stiller werde. Ich spüre das vor allem an der Musik, die ich momentan bevorzuge. Die Klänge werden langsam sanfter, sinnlicher, auch melancholischer. Die Gedanken werden sanfter, nachgiebiger, ruhiger. So als würde ich mich in einen Kokon aus eigen Gedanken, aus der Musik und den Bildern, die ich malen möchte, die ich ausprobiere zu malen, hüllen. Und wenig von dem, das um mich herum ist, durch diesen Kokon dringen kann. Mir tut sie gerade gut, diese Zeit. Um nicht zu sagen: Ich liebe diese Zeit. 
Dass das den Mann etwas verunsichert, kann ich spüren. Ich kann es fühlen, wenn er mich manchmal anschaut; ich kann es fühlen an dem, was er sagt und was er denkt. Für mich jedoch.. ist der Herbst irgendwie.. eine Zeit, in der ich mich befreie von all dem, was sich über das Jahr in meinem Kopf und in meinen Gedanken angesammelt hat. 

Sagte ich eigentlich schon, dass ich den Herbst unfassbar liebe? Ich bin schon sehr lange kein Sommerkind mehr. 

Dienstag, 8. August 2023

...cause when I wake up, I'm alone.


Viel zu lange wieder nicht geschrieben. Als gäbe es nichts zu erzählen oder wenigstens zu sagen. Ist ja nicht so, als wäre der Kopf nicht beschäftigt. Das ist er, ständig rollen alle möglichen Dinge hin und her. Manchmal beinah der Versuchung nachgegeben, etwas aufzuschreiben. Manchmal der Versuchung nachgegeben, Gedanken auszusprechen. Reaktionen abgewartet, diese im Kopf arbeiten lassen - und letztlich wieder geschwiegen. Dinge im Raum stehengelassen.

Jeden Morgen auf dem Weg ins Büro und jeden Abend auf dem Weg nach Hause lass ich die Fenster meines kleinen Grauen hinunter, weil ich es fühlen will: den frischen Wind, wie er mit den Haaren spielt, mit dem Rock. Ich liebe es, wie er mir um die Beine wuselt, unter dem Rock, unter der Bluse. Dann drehe ich diese Musik so sehr auf, dass der Sitz vibriert, dass die Noten buchstäblich auf der Haut tanzen. Dann fühle ich mich.. irgendwie frei. Frei im Kopf und in der Seele. Beinah so frei wie in den gerade zurückliegenden Tagen am Meer. Hineinspringen, ob der Kälte zittern, kreischen, eintauchen, auftauchen, in die Wellen werfen, mich von ihnen ans Ufer tragen lassen und doch wieder zurücktauchen, zurückschwimmen... Unendliche Weite wie ein kleiner Fisch in einem Ozean, unendliche Freiheit. Hineinwerfen in die weißen Schaumkronen, bis es überall prickelt auf jedem Zentimeter meiner Haut. 

"Du hattest so ein geiles Strahlen um dich herum, als du aus dem Urlaub kamst. Aber einen Tag drauf wars schon wieder vorbei."

Wir haben keinen einzigen Tag ferngesehen, wir waren jeden Tag im Meer baden, ganz gleich, ob es regnete oder die Sonne schien. Haben die Halbinsel mit dem Rad erkundet, wundervolle kleine reetgedeckte Gasthöfe entdeckt, unter deren Dach selbstgebackener Kuchen geboten wurde. Ich liebe es, die Augen zu schließen und dem breiten ruhigen Dialekt der Einheimischen zuzuhören, die Beine auszustrecken und an nichts denken zu müssen. Abends die Spielkarten auszupacken oder auf ein Konzert zu gehen, mitzusingen, so aus vollem Herzen, bis die Stimme bricht und die Augen funkeln. An anderen Abenden mich ins Bett zurückziehen können, in einem Buch lesen, während sich die anderen im Wohnbereich über Gott und die Welt unterhalten. Dem Regen lauschen und die Augen schließen.. Ich liebe es, ab und an allein zu sein, für mich allein zu sein. Ich muss ab und an für mich allein sein.

Der Kopf war frei, die Seele atmete frei - ich war frei. Vermutlich ist das auch der Grund, dass es sich für mich immer so anfühlt, als käme ich aus einer völlig anderen Welt, wenn ich wieder nach Hause zurückgekehrt bin. Das neue Zuhause, an das wir uns noch immer nicht so ganz gewöhnt haben. Zu groß der Raum, den wir wählten. Und inzwischen weiß ich auch, woran es liegt: Es fehlt noch meine ganz persönliche Note. 
Vermutlich sind Küche und Schlafbereich am ehesten das, was an mich erinnert. Bunt, geradlinig und zugleich verspielt, gelassen und zugleich unruhig... Lebendige Farben in einem ruhigen Rahmen..
In beiden Räumen mischen sich am ehesten mein nicht-erwachsen-werden-können-und doch-längst-den-Sandalen-entwachsen...
Das ist es vermutlich auch, warum ich mit dem Wohnbereich noch nicht "fertig" bin: Er ist für mich zu geradlinig, zu erwachsen... Über Wochen habe ich darüber nachgedacht, was ich anders gestalten, was ich anders haben möchte. Vorgestern Abend endlich die zündende Idee.. Es sind Bilder, die noch fehlen.. Bemalte Leinwände. Die Motive arbeiten im Kopf, eigentlich sind sie aber auch schon fertig... Mit der Umsetzung wird es etwas länger dauern.
Für den langen Weg vom Wohn- in den Schlafbereich habe ich den Mann von meiner Idee überzeugen können: großformatige schwarz-weiß-Fotografien in schwarzen Rahmen. Eher ruhige, sinnliche Motive.
Wenn wir doch nur die Zeit finden könnten für das, was wir uns überlegt haben.
Wenn wir doch nur überhaupt Zeit finden könnten..
Seit wir nach L zurückgekehrt sind, fühlt es sich an, als würden die Tage zwischen meinen Fingern zerrinnen. Würden die Zeiger der Uhr wesentlich schneller rotieren und die Abfolge aus Tag und Nacht wie im Zeitraffer vor meinem erstaunten Blick vorüberziehen.
Möglicherweise dem Umstand geschuldet, dass ich wieder mehr im Büro als im Home Office bin.
Mir ist bewusst, dass ich anderes hätte aushandeln können. Dass ich andere Bedingungen hätte festmachen können. 
Wie oft ich darüber nachgedacht hatte, das Unternehmen zu verlassen. Die Angebote, die mir das ermöglicht hätten. Bis das Unternehmen verkauft und mir in diesem Zuge eine neue Rolle übertragen worden war, der ich mich verpflichtet fühle. Die mir Angst macht vor mir selbst, in die ich mit jedem Tag mehr hineinwachse und die mich zugleich jeden Tag neu meine Grenzen spüren lässt. 
Wenn ich am Abend die Tür aufschließe, fühle ich mich unendlich müde. Möchte nicht reden, nicht zuhören, nicht gefordert sein. Doch dann... Meist hat der Mann schon etwas zum Abendessen vorbereitet. Er erzählt von seinem Tag, während ich den Blick nach draußen auf den herrlichen Kastanienbaum richte. Ich liebe Kastanienbäume so unfassbar sehr!
Manchmal schweifen die Gedanken ab, manchmal kann ich die Konzentration halten, manchmal antworte ich, meistens lasse ich ihn einfach nur reden und höre zu. Und dann.. dann kann ich fühlen, wie die Ruhe in meinen Körper kriecht, sich in jedem Zentimeter von mir ausbreitet. Wie Gedanken langsam austrudeln ähnlich einem Brummkreisel von einst in der Ecke liegenbleiben. Manchmal lassen wir die Musik im Hintergrund spielen, während wir uns ein Glas Weißwein einschenken und ich den Mann zwischen den Korbstühlen und den Blumen auf dem Balkon zum Tanzen verführe. Dann lehne ich meinen Kopf an seine Brust, schließe die Augen, völlig selbstvergessen.. kann alles um mich herum und in meinem Kopf ausblenden, irgendwo ganz tief nach hinten in den letzten Winkel des Bewusstseins schieben.. und einfach nur genießen..
Manchmal aber schlüpfen wir abends noch in die Turnschuhe, fassen uns an die Hände und laufen hinein in den Park, atmen die Wärme des Tages.. Und dann erzählt der Mann von Gott und der Welt. Hin und wieder schmunzle ich über seinen Redebedarf. So wie ich mich fühlte in den ersten Jahren nach dem Umzug nach M. 
Manchmal aber.. machen wir einfach auch gar nichts. 
An dieser Stelle muss ich grad unwillkürlich grinsen, weil mir der Inder einfällt, der damals, 2016 auf unserer Reise durch Rajasthan, zum Mann sagte, ich sei ganz anders als er - er sei so ein Unruhegeist, wolle so viel wie möglich an Erlebnissen in einen Tag verpacken, während hingegen ich diejenige sei, die in sich ruhe und nicht so viel braucht, um glücklich zu sein. Interessant, oder? Dass ein Mensch so punktgenau das Wesen eines anderen erfassen kann, den er ja eigentlich gar nicht kennt. 

Jedenfalls.. seit ungefähr zehn Tagen sind wir wieder da, sind wir zurück vom Meer. In Momenten wie diesem hier gerade jetzt fühle ich mich wohl. Ich sitze hier im Küchenbereich an genau dem Holztisch, den ich mir immer gewünscht habe. Es ist dunkel, nur Kerzen stehen im Wohnbereich, die ihr zartes Licht hier herüberbringen. Es gibt zwar eine Trennwand zwischen Wohnbereich und Küche, aber keine Türen. Ich liebe es.. Luftige Räume, an die wir uns aber eben auch beide erst gewöhnen mussten. 
Ich höre den Song im Dauerrepeat, so wie ich es aktuell jeden Morgen und jeden Abend tu.
Und schmunzle grad bei dem Gedanken an den Blick des Mannes vor zwei Tagen, als er am Abend vor dem Haus auf mich wartete und ich da angefahren kam, die Scheiben heruntergelassen, das Haar zerwühlt, der Rock aufgebauscht, die Wangen rosa und die Musik...
"Sag du nochmal, ich soll die Musik leiser machen", hat er mich gerügt und ich hab einfach gelacht. 
Manchmal .. ist die Musik alles, was ich für den Moment brauche. Ich liebe sie genau aus diesem Grund, diese dreißig Minuten zwischen Büro und Zuhause.

Denn.. Viel zu oft liege ich nachts wach, kann nicht schlafen, kann nicht einschlafen, drehe mich von der einen Seite auf die andere, liege ausgestreckt auf dem Rücken und schaue in die Nacht. Betrachte das Lichtspiel vorbeifahrender Autos auf der Jalousie vor dem Fenster. Denke an Themen, die mich beschäftigen, an die Menschen, die in meinem Kopf wohnen, an die Kinder, an meine Familie, an politische Debatten, an denen ich mich nur noch selten beteilige, weil ich zunehmend skeptisch bin bei Menschen und Meinungen, die nur eines zulassen: den eigenen Standpunkt. 
Der Mann weiß das alles. 
Und er hat geschimpft, als ich vor etwa zehn Tagen jemanden zum Haus des Vaters begleitete, in dem jener überraschend zwar, aber wenigstens in einem hohen Alter zwei Tage zuvor verstorben war. Das ist.. ein Anblick, den zumindest ich nicht so einfach vergessen kann. 
Am Abend, als ich heimkam, da wollte ich.. irgendwie nix mehr. Nichts essen, nichts trinken, nicht reden, nichts hören: Ich war durch. Empfand nur noch dieses tiefe Bedürfnis, mich in mein Bett zurückzuziehen, die Decke über mir auszubreiten und die Augen zu schließen. 
"Haben wir denn nicht genug mit unserem Leben zu tun?" hat der Mann geschimpft und ich weiß genau, er hat nur geschimpft, weil er sich sorgte. Das sind dann immer so Momente, in denen ich in mich hineinlächeln muss: Mich beschäftigen sehr viele Dinge; mir gehen viele Dinge sehr oft und sehr tief unter die Haut und manches überwinde ich nie. Aber es.. schwächt mich nicht. Ich muss dann nur Zeit für mich haben, Zeit für die Musik. Und Zeit für einen Pinselstrich. 


Dieses Bild ist eigentlich eine Fotografie, die ich vor einer Weile auf Instagram entdeckte und die mich wirklich ganz sehr berührt. Manchmal denk ich, es gibt viel zu wenig Liebe - und dabei ist Liebe.. doch ein Grundbedürfnis.. Vielleicht, weil die Menschen ja immer denken, sie hätten noch genug Zeit für alles? 

Donnerstag, 29. Juni 2023

I feel too much and drive too fast


Bist Du eigentlich auch ein Fan von Grey's Anatomy gewesen?
Und kannst Du Dich erinnern, dass die immer dann, wenns mal wieder richtig beschissen lief, in ihrer Butze getanzt haben wie die Blöden? Arme hoch, Beine abwechselnd hoch - sich so richtig die Seele freitanzen.
So habe ich heute Abend bei diesem Song hier getanzt, wild und völlig unkoordiniert, und dann habe ich mich aber trotzdem nicht wirklich besser gefühlt, sondern so sehr geweint, dass mir das Wasser buchstäblich zugleich aus den Augen und aus der Nase lief. 
Wir haben uns alle noch nicht erholt vom Schock über den Tod unseres ersten Enkelkindes. 
Ich habe mich aber auch noch immer nicht erholt vom Schock über die schweren Erkrankungen in meiner Familie und bei Menschen, an denen mein Herz so sehr hängt. 

Ist es nicht komisch, dass ich mich an unsere letzte Begegnung kaum erinnern kann, dafür aber unsere allererste Begegnung vor vielen Jahren in mein Gedächtnis gebrannt ist? Ich weiß sogar noch genau, was Du anhattest und wie Du Dein Haar trugst. Wir kannten einander überhaupt nicht zu jener Zeit, wir wussten überhaupt nichts voneinander - aber es war einer der schönsten Abende in meinem Leben. 
Vielleicht, weil es nicht so oft passiert, dass man jemandem begegnet, von dem man meint, man würde einander schon ewig kennen und sei nur mal eben kurz fort gewesen. Genau genommen.. passiert genau das ja.. eher selten. 





Mindestens genauso intensiv erinnere ich mich an unsere Trips nach Berlin, im Sommer und auch in den Vorweihnachtstagen. Soll ich Dir sagen, dass ich dieses Foto von unserem Trip nach Berlin so total liebe? Ich liebe es, daran zu denken, wie wir uns das größte Stück Torte schmecken ließen, das Starbucks zu bieten hatte. Voll fett Buttercreme und Schokolade, was soll der Geiz, so zart kommen wir ja doch eh nie wieder zusammen. 
Ich liebe den Moment, als Du meinetwegen in der Tiefgarage des Kaufhauses blank gezogen hast, weil Du nicht mehr hören konntest, wie sehr ich Deine Bluse bewunderte. 
Noch immer seh ich mich ängstlich an den Fensterriegel krallen, als Du auf meine Worte: "Also ich könnte das ja nicht, so mit dem Auto durch Berlin fahren, ich würde mich hier nie niemals zurechtfinden" unbekümmert antwortetest: "Ich war hier auch noch nie, ist für mich auch das erste Mal."
Ich liebe dieses Foto, weil es mich an diese unbeschwerte Zeit erinnert, die wir meistens hatten. 

Mindestens ebenso deutlich erinnere ich mich an unser Telefonat vor über einem Jahr. Seh mich noch immer dort liegen, in meinem Bett, nach links gewandt, den Kopf auf das Kissen gebettet und das Telefon zwischen Ohr und Kissen. Seh mich, wie ich die Augen geschlossen hatte, während wir miteinander sprachen, leise, flüsternd beinah. Mit sanften, zarten Worten hast Du die Träume in den Papierkorb zerknüllt, die wir seit Jahren in den wundervollsten Farben in unsere Köpfe malten. Kurioserweise hatte sich genau das irgendwie.. total richtig angefühlt. Es war Zeit, das Träumen zu beenden, das Träumen über Dinge, die sowieso - bei Tag betrachtet - keine reelle Chance bekommen hätten.
Du hast viel geredet an jenem Abend, vielleicht, weil niemand wusste, ob Du nach der Operation am Tag darauf noch würdest sprechen können.

Konntest Du. 
Bis auf dass alle Deine Haare weg und unzählige Klammern in die Haut getackert waren, warst Du... warst Du einfach wieder da. Für Dich hätte ich mir aus Solidarität tatsächlich auch den Kopf geschoren, es tatsächlich ernsthaft erwogen - aber irgendwie war ich dann doch auch erleichtert, dass Du das bei weitem gar nicht von mir erwartet hast. Ich meine, ich wurde mit einem Eierkopf geboren und das hat sich leider auch bis heute immer noch nicht verwachsen. S is halt nur Haar über diese Eierei gewachsen.
Bei unserem ersten Wiedersehen danach in Deinem Zuhause hast Du mich derart mit Koffein versorgt, dass ich fast schon argwöhnte, dass hier Restbestände zu entsorgen seien, bevor sie bitter würden. 
An unser vorerst letztes Wiedersehen erinnere ich nur noch den Augenblick auf der Bank bei Deinem Lieblingsbäcker, höre ich Dich reden wie Du immer gesprochen hast und wie vertraut der Klang Deiner Stimme auf mich wirkte.
Du sehnst Dich nach Alltag, nach Normalität, vielleicht sogar nach wild rumliegenden Socken in Deinem minimalistischen, wunderbar aufgeräumten Zuhause, sofern die das einzige sein würden, die Dir das Leben schwermachten. 
Dieser Alltag war so nah, zum Greifen nah schon - und jetzt ist alles so ganz anders gekommen.
Ich habe es gelesen, während ich gerade dabei war, mich auf den Weg zum Supermarkt zu machen.
Ich habe es gelesen und nicht sofort begreifen können. Las Deine Zeilen mehrmals. Wieder. Und wieder. Und wieder. Konnte mich nicht mehr auf den Weg zum Supermarkt besinnen, fand einfach den Weg nicht mehr. Wusste nicht mehr, was ich einzukaufen hatte, wusste nicht mehr, wo das Brot liegt, wo die Milch steht. In meinem Kopf war einfach nur noch Leere. Aber in meinem Bauch, da war so viel mehr los. Wer braucht schon Milch, wer braucht schon Brot? Wie sehr wollte ich alles einfach nur stehen- und liegenlassen, wie sehr wollte ich einfach nur zu Dir fahren und Dich in die Arme nehmen. Einfach nur festhalten. 
Aber im Moment kannst Du das nicht und im Moment willst Du das nicht, hat mir Dein Mann geschrieben - und ich kann das so wahnsinnig nachempfinden. 

Ständig schleiche ich um mein Telefon herum, nehme es ebenso oft in die Hand und lege es dann doch wieder zur Seite. Ich will nicht ignorant sein und meine Bedürfnisse über Deine stellen. 

I feel too much and I drive too fast.

Es hat mehr als eine dieser Zeiten gegeben, in denen Du Deinen Hut genommen hast. So oft ich das verflucht habe, so sehr habe ich jede Zeit abgewartet, bis Du wieder da warst. 
Und genauso... mach ich das jetzt auch.. Und vielleicht.. versuche ich bis dahin das ja mit dem Raustanzen nochmal. 

I feel too much and I drive too fast.

Das Leben ist so richtig beschissen grad. Im Film wärs jetzt die richtige Stelle für ein Happy End. Oder wenigstens so was in der Art. Das wünsche ich mir nicht für mich. Ich wünsche es mir so sehr für Dich. Und für M. Für die Kinder und für meine Familie. Ich weiß, ist ne Menge. 
Zum ersten und zum letzten Mal eine höhere Institution, so sie es denn gibt, habe ich 2016 angefleht, damals auf dem Rückweg von Delhi nach München. Drei Wochen Indien - und ausgerechnet auf die letzten Meter erwischt es mich dann doch noch, so eine fiese Magen-Darm-Geschichte und hohem Fieber. Ja und dann quälst Du Dich da auf so ner blöden Bordtoilette, alles ruckelt und dann erzählt der Pilot was von unerwarteten Turbulenzen und dass sich alle anschnallen sollen. 
Ich sags noch mal: Bord-toi-let-te. Heruntergelassene Hosen, weil... na ja Du weißt.
Das war dann wirklich so ein Moment, wo ich mal eben kurz die Augen schloss und inniglich flehte: "Lieber Gott... wenn es dich wirklich gibt.. dann lass mich BITTE nicht so unwürdig ums Leben kommen!"

Du siehst.. Ich bin hier. Hier in meinem alten Zimmer in Leipzig. 
Was es auch immer da draußen gibt, ich hoffe, es hilft..

Samstag, 27. Mai 2023

Der Morgen über der Stadt


Früh am Morgen.
Über der Stadt ruht noch ein wenig der Schleier der Nacht, es ist still hier. Es sind kaum Menschen anzutreffen, während ich über den Gehweg eile, die Hände in den Taschen vergraben, den Kopf meist Richtung Boden geneigt.
Links von mir, auf der anderen Straßenseite, steht der Mann vom kleinen Getränkeladen in der Tür.
Er sagt nichts, er schaut nur, er lächelt, er winkt zum Gruß. Vor mir, ihm schräg gegenüber, öffnet ein Paar seinen kleinen Geschenkeladen. Sie reden leise miteinander, während er bedächtig die Markise herunterlässt. Über die Straße hinweg rufen sie einander einen guten-Morgen-Gruß zu.
Es ist genau dieser Moment, der mich im Bruchteil dieser Sekunde zurückversetzt in eine Zeit, eine ganz lange Zeit vorher. Eine wohlvertraute Zeit mit in Zucker gewälzten Apfelstückchen. Mit der kleinen Küche ohne Warmwasseranschluss. Mit der Toilette im Hof. Mit der gestärkten Wäsche draußen auf der Leine, die mit einem langen Stock oben gehalten wird. Mit Märchenbüchern und Geschichten von Gnomen und ihren Bärten aus Preiselbeerstrauch. Mit dem Kaufmannsladen gegenüber der Haustür und den leckersten Spritzringen meiner kleinen Welt. 

Wäre ich für einen Moment auf diesem Gehweg stehengeblieben, würde ich für einen Moment lang die Augen geschlossen haben.. dann wäre ich wieder dort. Dann könnte ich es nicht nur fühlen, dann könnte ich es nicht nur riechen: Ich wäre dann wieder dort, damals, vor so langer Zeit, vor der niedrigen Gartenpforte, barfuss im T-Shirt und dem knielangen, blau-weiß geblümten Rock mit der weißen Borte. Die Haare zu Zöpfen gebunden. Ich könnte wieder die Unbeschwertheit fühlen, mit der ich im Kirschbaum herumkroch, Kartoffelkäfer in den Eimer sammelte und Zuckererbsen von den Sträuchern pflückte. Mit der ich mit nackten Füßen über staubige Feldwege lief, zurück zum Haus der Großmutter, die für das anschließende Bad ihre Zinkwanne auf den Küchentisch stellte und das Badewasser in einem Teekessel auf dem Kohleherd anheizte.

Einfach war es weiß Gott nicht, dieses Leben. Aber ich selbst.. Ich wusste nichts von der Ernsthaftigkeit, die auf einen wartet, wenn man erwachsen geworden ist. In meinem Kopf war die Blumenwiese so hoch und prächtig, dass ich mich hineinlegen konnte wie in ein Bett, und von da aus konnte ich in den Himmel schauen, über mir die Schwalben und die Resthitze des Sommertages.. In meiner Welt.. war alles irgendwie noch an seinem Platz, war der Raum gefüllt von bunten Blumen, dem Duft nach Sommer und eben.. nach Unbeschwertheit. Ich wusste da noch nichts von dieser unendlichen Traurigkeit, die man fühlt, wenn ein Kind auf diese Welt kommt ohne einen Herzschlag. Wenn man selbst eine Mama ist, dann kann man diesen unfassbaren Schmerz irgendwie erahnen. Irgendwie..
Und dennoch.. steht man letztlich nur daneben und weiß, dass man nie wirklich erfahren wird, wie sehr der andere Mensch leidet. Ich muss zugeben, ich hatte bis zu dem Moment, wo die Kleine auf die Welt kam, die Hoffnung, die Ärzte würde irren. Ich meine, das tun sie doch öfter mal, oder nicht? Es könnte doch auch jetzt so sein, oder nicht?
Nein. Sie haben nicht geirrt. Und das war dann der Moment, an dem ich den ganzen Abend lang geweint habe. Gemeinsam mit dem Mann. 

Gestern habe ich an der Straße gestanden und auf die Bahn gewartet. Die Hände in den Taschen vergraben, die Augen geschlossen und das Gesicht der Sonne zugewandt. Er hat mir gut getan, dieser Moment. Da war ich beinah wieder in jener Zeit meiner Großmutter. Und für einen Moment lang konnte ich irgendwie verstehen, warum Peter Pan nie erwachsen werden wollte. 

Samstag, 8. April 2023

Angekommen und noch nicht angekommen

 Da waren wir nun. Zurück in L. Mit ungefähr einhundert statt dreißig Umzugskisten. Der Mann genervt vom ganzen Stress, der körperlichen Anstrengung und der Gesamtsituation. Ich müde und am Anschlag. Nochmal, da waren wir uns erst mal einig, werden wir einen Umzug nicht mehr selber machen. Sondern alles abgeben an Menschen, die das täglich machen. Auf jeden Fall aber werden wir dann an beiden Wohnorten Parkverbote beantragen, besser ist das ;) Also beantragt und genehmigt waren sie ja, die Papiere dazu hatte der Mann auch überall dabei - aber der Mann dachte, eben auch, er könnte sich das Geld für die Verbotsschilder sparen, weil da in M schon seit Wochen welche standen, an die wir dann einen Zettel anbrachten. Beachtet hat die Schilder natürlich kein Schwein, und in M, wo die Polizei für solche Sachen zuständig ist, wurde von den Beamten freundlich erklärt: "Diese Schilder sind leider nicht DIN-gerecht. Wenn sie das wären, könnten wir sofort abschleppen lassen, so aber dürfen wir das nicht." Herzlich willkommen in Deutschland :) Hat mich sehr amüsiert. 

Andererseits frage ich mich: Was genau wollen wir eigentlich abgeben? Das Einpacken würde der Mann sowieso wieder selber machen wollen - immerhin bewahrt er eine Unmenge an Erinnerungsstücken auf, an die er keine fremden Finger lässt. Möglicherweise hat sich das auch ausgezahlt - es ist tatsächlich nichts kaputtgegangen, nichts bis auf ein einziges Teil aus Glas, von dem ich mir ein erleichtertes Grinsen nicht verkneifen konnte "Es gibt doch noch einen Glas-Gott!" Ich meine, Dekanter mögen gut und praktisch sein. Aber wenn man in der Realität so ein Teil lediglich im Schrank zu stehen hat, das nicht nur Platz wegnimmt, sondern auch pottenhässlich aussieht, dann kann man schon mal dankbar sein, dass einzig dieses Teil sich von dieser irdischen Welt verabschiedet hat ;) Aber auch sonst war ich in den letzten Monaten beim Einpacken und auch jetzt zuletzt beim Wiederauspacken immer wieder erstaunt, WAS der Mann da so alles aufbewahrt. Also nicht, dass mich wer falsch versteht: Ich mag es, Erinnerungsstücke aufzubewahren, die habe ich auch. Und ich mag es, Dinge zu schätzen. Aber.. muss man wirklich ALLES aufheben? Nein, ein Messi ist er nicht, Gott bewahre. Aber zuletzt standen in unserem Wohnbereich noch acht Kisten. Acht, von denen er sagte: "Das mach ich mal in Ruhe, du kannst ja schon mal anfangen und deins da ausräumen." Nur dass da von mir gar nichts mit drin war: Jede Kiste geöffnet, hineingeschaut, wieder zugemacht: Was seins war, sollte und wollte er selber verräumen. Nicht nur einmal hatten wir uns in diesen Tagen angefaucht: "Fass einfach meine Sachen nicht an!"

Als die Kisten dann aber so drei, vier Tage immer noch rumstanden, wurde es mir unter den Fingernägeln doch etwas kribblig. Bevor mein innerer Vesuv aber ausbrechen konnte, erbarmte er sich, sortierte aus und um und die leeren Kisten wurden zusammengefaltet, verschnürt und in den Keller gebracht. Im Gegenzug drohte sein Lavastrom alles im Umkreis von rund fünf Metern gnadenlos zu vernichten, als wir bei Ikea vorm Click & Collect standen, der Typ mit dem Lastenwagen kam und ich zum Mann meinte: "Siehste, geht doch" - und der Typ dann aber sagte: "Wartense mal ab, da kommen noch zwei!" Als diese drei Lastenwagen vorm Gefährt des Mannes standen, da wurde mir selbst etwas mulmig und ich dachte noch: "So, jetzt krachts gleich" und dann brach der Ätna auch schon aus: "Sag mal spinnst du, was hast du denn da alles eingekauft?!"   "Alles das, was auf meinem Merkzettel stand, den wir am Montag extra noch mal Stück für Stück durchgegangen sind", erklärte ich sanft, aber mit etwas Sicherheitsabstand, den ich dann  flugs vergrößerte, als ich feststellte, dass ich versehentlich einen Juteteppich zuviel eingekauft hatte. Kann ja mal passieren, immerhin bastelten wir wochenlang an dieser Ikea-Liste, bis ich final auf Kaufen gedrückt hatte. Diesen überzähligen Juteteppich konnte ich auch problemlos zurückgeben und wir waren noch nicht mal ganz zu Hause, da war die Erstattung auch schon an mich unterwegs. Also manchmal macht mir das ja schon alles ein bisschen Angst, wie digital die Welt geworden ist, wieviel nur noch digital geht - und ob wir da noch hinterherkommen, wenn wir dreißig Jahre älter geworden sind. Aktuell aber stelle ich immer wieder fest, dass diese digitalen Möglichkeiten tatsächlich auch wirklich was Gutes haben. Es geht halt einfach so vieles einfacher und schneller.

Jedenfalls habe ich nicht nur festgestellt, dass ich, wenn man nicht alleine, sondern mit einem gemeinsamen Hausstand umzieht, natürlich nicht alles an einem einzigen Abend verräumen und morgens alles an seinem Platz wiederfinden kann; ich habe aber auch festgestellt, dass mir das in all den vierzehn Tagen auch irgendwie regelrecht schietegal war. Wir waren beide tagelang müde und irgendwie am Anschlag, wir haben einfach nur geschaut, dass die wichtigsten Dinge, wie Essen & Schlafen,  geordnet waren, und der Rest folgte nach und nach in aller Ruhe.

Jetzt wohnen wir seit drei Wochen in L, genießen den herrlichen Platz, den wir mit der doppelten Quadratmeterzahl genießen, genießen, was wir von hier aus fußläufig alles erreichen können: zur einen Seite den wunderbaren Park, zur anderen Seite die Innenstadt oder auch die Mama des Mannes. Ich genieße, dass ich, wann immer ich will, innerhalb von zehn Minuten meine Jungs sehen kann und dass ich bei jedem morgendlichen und abendlichen Verkehrschaos immer anti-zyklisch fahre und trotz Weg ins Office immer entspannt unterwegs bin. Das einzige, woran ich mich gewöhnen muss, ist, dass ich jetzt eben nicht mehr bis 7.45 Uhr im Bett liegen, anschließend Zähne putzen, Käffchen kochen und mich entspannt am Schreibtisch niederlassen kann, gerne auch in Flanell-Schlafhosen mit Strickpullover und dicken Socken - sondern dass der Wecker nunmehr beinah jeden Morgen noch vor sechs Uhr klingelt und ich vor sieben Uhr mit müden, verquollenen Augen hinaus in die Kälte muss. Das bedeutete in den ersten Tagen, dass ich bereits abends noch vor acht auf dem Sofa gähnte und unmittelbar danach auch einschlief - aber der Mensch gewöhnt sich ja an alles, man muss ihm nur die Zeit dazu lassen ;)

Jedenfalls.. Wir sind wieder da - und auf die Frage im Umfeld, ob wir uns schon angekommen fühlen, musste ich überraschend gestehen: Noch nicht. Die Wohnung fühlt sich noch ungewohnt an, fast wie eine Ferienwohnung, die wir nur vorübergehend besiedeln. Im Gegenzug ist es selbst für mich ein komisches Gefühl, dass die Wohnung in M jetzt nicht mehr unsere ist, dass wir dorthin nie mehr zurückkehren werden. Ich werde meinen Hausarzt vermissen und auch meinen Rheumadoc. Ich werde die Isar vermissen und sogar die U-Bahn. Überhaupt werde ich einiges vermissen, tatsächlich. Aber wie ich ja grad sagte: Der Mensch gewöhnt sich an alles, solange man ihm die Zeit dazu lässt :) Und ich bin hauptsächlich froh, wieder da zu sein. 

Dienstag, 28. Februar 2023

In einer Welt vor dieser Zeit

Seit ich damals aus dem Elternhaus auszog, da hatte ich diesen Wunsch:
Eines Tages wollte mir einen richtig schönen Esstisch kaufen, so einen echten aus Holz. Nichts Geschnörkeltes, nichts mit geschnitzten Verzierungen oder kunstvollen Details. Einfach einen schlichten, echten rechteckigen Holztisch.
An diesem wollte ich mit der Familie sitzen, frühstücken, zu Abend essen, Karten spielen, Backgammon oder Halma oder Scrabble spielen, Probleme besprechen.
So kannte ich das aus meiner Kindheit: Sämtliche Familienangelegenheiten wurden zumeist in der Küche besprochen, am großen Esstisch, alle ringsrum versammelt. 
Bis heute vermittelte das für mich.. ein Zuhause - und kann es nur schwer erklären oder begründen.

In meiner ersten eigenen Wohnung gab es keine Küche, nur eine kleine Nische mit einem Zweiplattenherd ohne Backofen. In meiner zweiten Wohnung gab es eine schmale Küche, aber mir fehlte nicht nur das Geld für einen Tisch, sondern schlichtweg auch der Platz. 
Platzgründe verhinderten auch in der dritten eigenen und auch in der Wohnung des Mannes hier einen solchen Tisch. 

Es hat mich einiges an Überredungskünsten gekostet, den Mann von einem solchen Tisch in der neuen Wohnung zu überzeugen. Doch dann haben wir gemeinsam einen solchen ausgesucht und eingekauft. Im Mai wird er zu uns gebracht - und in meinem Kopf formten sich schon vor dem Kauf die Bilder, die Vorstellungen, wie das dann sein würde - die Familie und ich. Der Mann und ich. Die Jungen und wir. 
Mir wurde da echt ganz warm von.

Als mein Jüngster geboren wurde, war der Älteste sechs Jahre alt. Ich sehe es heute noch vor mir, wie er in das Klinikzimmer gelaufen kam, die dicke Jacke noch an, die Mütze noch auf, keine Zeit, Hauptsache, das Baby sehen, den Bruder betrachten, der da friedlich im Glasbettchen schlief, die winzigen Fäuste rechts und links an den Wangen. 
"Oooaarrrhh ist der niedlich! Können wir den mit nach Hause nehmen? Versprich mir, dass wir den mit nach Hause nehmen!"
Und ich lachte und entgegnete: "Was denkst du, sollen wir denn sonst mit ihm machen?"
Ich sehe diese Szene vor mir, als wäre es gestern gewesen. Ich durchlebe sie, als wäre es erst gestern gewesen.

In all den folgenden Jahren haben die beiden sehr viel miteinander gespielt und mindestens genauso viel gestritten, wer was aufzuräumen hatte und wem was gehörte.
Je älter sie wurden, desto rauher wurde der Ton zuweilen.
Ich habe mich so lange aus allem herausgehalten, wie die Kraftausdrücke in ihrem Zimmer blieben und es auch nicht handgreiflich wurde. Es wurde auch nie handgreiflich, abgesehen von einigen Matchbox-Autos, die dann und wann hin und her flogen. Wirklich wehgetan haben sie einander nie.

Dann kam die Zeit die Trennung. In dieser Zeit, so empfinde ich das vor allem heute, die dieses Netz aus Sicherheit und Geborgenheit zerriss, da hatten die Jungen vor allem einander. Möglicherweise vermittelte kaum etwas anderes mehr Sicherheit und Verlässlichkeit wie der jeweilige Bruder.
Ich weiß, dass sie viele Dinge miteinander beredet haben, von denen wir nichts wissen. Es hat sie noch mehr zusammengeschweißt, nahm ich an.

All das veränderte sich, sobald der Jüngere begann, sich für Mädchen zu interessieren. Sich mit Mädchen zu verabreden oder abends mit Kumpels auszugehen. Der Ältere war noch nicht so weit zu jener Zeit, der wartete zu Hause, bis der Bruder wieder zurückkehrte und man den Rest der freien Zeit miteinander verbrachte.
Doch der Jüngere wollte mehr. Mehr leben, mehr sehen, mehr erkunden. Er war jung, die Welt stand ihm offen - und warum sollte er sich genau diese nicht anschauen und erleben wollen? Ihm fiel irgendwie immer all das in den Schoß, wofür der Ältere Zeit seines Lebens zu kämpfen hatte. Und je mehr der Jüngere sich löste, desto mehr wartete der Ältere. Ließ sich vertrösten auf "später". Nur dass dieses "Später" nie wirklich eintrat.
Es hatte schon irgendwie etwas Schmerzhaftes zu sehen, wie bemüht der Ältere war, es dem Jüngeren so angenehm wie möglich zu machen - und ihn an das Miteinander zu binden.

Ich habe mich früher oft gefragt, wie die Freundin sein würde, die die Jungs eines Tages mit nach Hause bringen würden. Ich habe mich hin und wieder gefragt, ob sie jemand sein würde, die den anderen derart beanspruchen würde, dass keine Zeit mehr für die Familie sein würde. Kein gemeinsames Käffchen nach Feierabend, kein gemeinsames Bier am Küchentisch, keine hochgelegten Beine, während man zufrieden auf dem Sofa lümmelte oder gemeinsam irgendein Spiel zockte. 
In meinem Kopf malte ich mir so einige Szenarien aus und dachte immer: "Mal gucken."

Aber auf die Idee, dass die Jungs einander entzweien könnten, darauf bin ich nie niemals gekommen.
Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass einer so rigoros mit dem anderen brechen würde.

Doch dass genau das aktuell geschieht, belastet mich enorm. Vor allem, wenn ich an den letzten Geburtstag denke, an dem der Ältere wortlos aufstand und den Raum  verließ, sobald der Jüngere durch die Tür trat -  und der Jüngere anschließend mit mir in der Küche blieb, bis er begann zu weinen. So ein Weinen ganz aus der Tiefe heraus. 

Ich fühle mich so unfassbar hilflos.. Weil ich nicht weiß, ob ich vermitteln kann. Ob ich überhaupt vermitteln soll. Sollten sie das nicht untereinander regeln - so wie früher, als noch die Matchbox hin und her flogen?
Nur.. Es sind doch meine Jungen, meine beiden Jungen, die eigentlich einander lieben. Nur dass der eine zutiefst enttäuscht worden ist - und das vermutlich einfach einmal zuviel. Und der andere sich und mich fragt: "Wie konnte das nur passieren? Wie konnte das nur so entgleiten?"
Ich habe darauf keine Antwort, ich habe ihn einfach nur an mich gedrückt und ganz sehr festgehalten.

Das Geburtstagsgeschenk vom Jüngeren hat der Ältere bis heute nicht geöffnet und das gemeinsame Geschenk lehnt der Ältere ab, solange der Jüngere dabei sei. Mir ist bewusst, dass er nicht nur Mauern um sich herum hochgezogen, sondern diese inzwischen auch mit Schlössern und Riegeln gesichert hat. Mir ist auch bewusst, dass dies sein Schutzmechanismus ist. Aber es tut weh.. Es tut unfassbar weh, beide so zu sehen und beide so zu erleben. 

Meine beiden Hasen.. Kann denn nicht alles wieder so sein wie früher? Die Bindung aneinander so wie früher, auch wenn sie heute eigene Wege gehen? Könnten sie sich nicht lieber einfach mit Matchbox bewerfen und es auf diese Weise regeln, als in kompletter Funkstille zu enden, in der der eine dem anderen konsequent aus dem Weg geht, damit ihm der andere nicht wieder zu nah kommt?
Diese frühere Welt mit zwei Brüdern, die vor allem eins hatten: sich?

Ich hatte immer diese Hoffnung, dass es möglich sein würde, beide einander wieder näher zu bringen, wenn wir wieder in L wohnen. In mir lebte der Gedanke, dass es vermutlich gerade noch so rechtzeitig sein würde. Doch nach dem heutigen Telefonat mit dem Älteren treibt mich die Sorge, dass es möglicherweise doch nicht mehr rechtzeitig sein wird. Und die Frage, was dieser Bruch mit beiden Jungen machen wird. 
Und mit mir. 
Im Moment jedenfalls.. zerreißt es mich.

Montag, 27. Februar 2023

Etikette, Contenance und Anstand

Als ich mich 2014 umzugsbedingt überwiegend ins Home Office begab, jauchzte die Seele: Endlich wieder sowas wie ein pünktlicher Feierabend. Man schiebt Stift und Block zur Seite, knipst den Laptop aus und ist in Sekundenbruchteilen im Feierabend. Was im realen Leben oft bedeutete, anschließend in ein paar Sandalen zu schlüpfen, die Korbtasche galant auf der Schulter und die Sonnenbrille auf der Nase zu balancieren und im naheliegenden kleinen, aber feinen Cafe einen Milchkaffee zu ordern, ein Buch aufzuschlagen und dort zu warten, bis der Mann aus dem Büro heimkehrte. 

Was mir insbesondere in M auffiel: Menschen schauen der Bedienung erschreckend selten in deren Gesicht. Gern auch gepaart mit dieser Kombi: "Ich bekomm dann einen Milchkaffee und das Croissant."
Noch schlimmer (finde ich): "Milchkaffee und Croissant."
Was ist mit Bitte und Danke? Was ist mit vollständigen Sätzen? Und was ist mit "Schau mich an, wenn du mit mir sprichst?"

"Sie mag es immer noch, in Cafes zu sitzen und durch das Fenster den Blick nach draußen auf die Menschen zu führen. Manchmal ist sie nicht sicher, ob die dabei in ihr ausgelösten Empfindungen misanthropische Züge angenommen hatten oder sie einfach nur genervt ist vom Umgang der Menschen miteinander.
„Guten Tag“ oder „Auf Wiedersehen“, ein „Bitte“ oder „Danke“ gehören für sie ebenso zum Elementaren wie Essen, Trinken, Schlafen oder Sex.
Wenn sie sich einen Kaffee bestellt, dann sagt sie nicht: „Einen Espresso, bitte“, während sie den Blick nicht von ihrem Handy löst und intensiv weitertippt. Wenn sie sich einen Kaffee bestellt, schaut sie der Bedienung in das Gesicht, lächelt freundlich und sagt: „Ich möchte einen Espresso, bitte.“ So viel Zeit muss sein, und so viel Respekt dem anderen Menschen gegenüber, der dir den Weg und die Aufwendung abnimmt, dich selber um deinen Espresso zu kümmern.
Als Kind wird einem beigebracht, in ganzen Sätzen zu sprechen, und sie missbilligt den Hang der heutigen Zeit, Sätze auf das größtmögliche Minimum zu reduzieren und auf diese Weise nicht nur zu zerhackstücken, sondern auch jegliche Umgangsformen vermissen zu lassen. Sie liebt ihre Sprache und sie empfindet es als ausgesprochen schade, wie sehr ihre Sprache versinkt in einem Mix aus Deutsch und Englisch, so dass sie mitunter nicht mal mehr weiß, wie das eigentliche Wort auf Deutsch lautet oder das deutsche Wort fremd und falsch in ihren Ohren klingt."

Ich habe mich auch deshalb daran gewöhnt, von zu Hause aus arbeiten zu können. Empfinde immer noch Erstaunen über mich selbst, wie diszipliniert ich sein kann. Dass ich meinen Tag strukturieren kann auch dann, wenn mir niemand dabei zusieht. Ich liebe die Ruhe, mit der so ein Tag bereits beginnt. Niemand, der den ganzen Tag lang deinen Namen ruft, nur um dich zu sich zu rufen (anstatt zu dir zu kommen); keine drei Telefone, die gern gleichzeitig klingeln und gern auch gleichzeitig von verschiedenen Menschen bedient werden.
Wenn ich abends nach Hause kam, war ich so oft müde und erschöpft - und das nicht davon, wie viel Arbeit auf dem eigenen Tisch lag. Es war die Summe des Ganzen. Im Home Office ist das anders. 

Home Office bringt jedoch insbesondere mit sich, dass man viel telefoniert. Sehr viel. Noch mehr als sonst, denn man ist zwangsläufig physisch nicht erreichbar. Alles wird am Telefon besprochen, dienstliche Belange, private Sorgen, Frust, Kummer - die ganze Bandbreite des menschlichen Seins. Manchmal über eine Stunde lang, während du nebenbei verzweifelt versuchst, Zahlen sinnvoll auf dem Papier zu ordnen, E-Mails zu beantworten und Ausgaben korrekt zu kontieren. 
Für manche Menschen hat sich die Gewohnheit eingeschlichen, dass ich immer erreichbar bin. Dass ich zumindest in der Zeit von acht bis siebzehn Uhr erreichbar sein muss - ganz gleich, für welche Angelegenheiten. 

Obschon ich nach wie vor ein Mensch bin, der nicht gern telefoniert, weil ich mich einfach nicht an einen Ort, an einen Punkt, an eine Situation fesseln lassen möchte, in der ich nur zuhören und sonst nichts anderes tun kann, ohne dem anderen zu vermitteln, nicht hundertprozentig für ihn da zu sein, habe ich mich daran gewöhnt. An das Vieltelefonieren, an das Langtelefonieren, an das Zuhören und das Zeit-für-den-anderen-haben-und-nehmen.

Nur an eines gewöhnte ich mich in all den Jahren (auch des Telefonierens) nicht:
Dass Menschen in meiner Gegenwart wiederholt geräuschvoll die Nase hochziehen. 
Dass Menschen in meiner Gegenwart sich geräuschvoll mit offenem Mund räuspern. 
Dass Menschen Dich etwas fragen, Dir aber nicht zuhören, Dich dann auch nicht ausreden lassen und mit privatem Kram dazwischengrätschen.
Dass Menschen Dich anrufen und nach ein paar Sekunden wieder auflegen mit den Worten: "Warte mal, ich melde mich gleich noch mal, da kommt grad ein wichtiger Anruf." 
Dass Menschen während eines Telefonats mit dir ungeniert ihre Flatulenzen ausleben.

Menschen sind keine Selbstverständlichkeit.
Es ist nicht selbstverständlich, dass dich im Cafe jemand freundlich bedient.
Es ist nicht selbstverständlich, dass dir jemand zuhört, ganz gleich, ob am Telefon oder in der Realität. 
Es ist nicht selbstverständlich, dass sich jemand Zeit für dich nimmt.
Warum verhalten sich Menschen dann so, als sei der andere eine Selbstverständlichkeit?

Je älter ich werde, desto weniger verstehe ich es und desto weniger dulde ich es.

Freitag, 24. Februar 2023

Ein Junkie der besonderen Art

 Letzte Nacht konnte ich ewig lange nicht einschlafen. Wieder mal nicht. Erst quälte mich die letzten zehn Tage lang bevorzugt nachts der fiese trockene Corona-Husten, der anstandslos genug war, mich schätzungsweise aller fünf Minuten dahingehend erfolgreich zu reizen, dass an Schlaf gar nicht zu denken war - und nun bin ich wieder genesen, doch die schlaflosen Nächte gehen weiter.
(Hab ja mal gelesen, dass, wer nachts nicht schlafen könne, jener in den Träumen eines anderen wach sei. Los! Raus mit der Sprache: Wer ist das Schwein? *kreisch*)

Und weil ich ja schon seit vielen Jahren bevorzugt nachts munter durch die Gegend flirre (könnte aber auch rein erblich bedingt sein, die Mama hat da ja auch so Allüren von wegen nachts um zwei noch n Käffchen kochen, weil der Krimi grad so spannend wird), wurde ich irgendwann ein Fan von Medical Detectives. Mich fasziniert daran vor allem die forensische Aufklärung. Ist es nicht irre, wie die aus kleinsten Kleinstteilen den Täter  identifizieren und nachweisen können?
Letzte Nacht allerdings überkam mich irgendwie so ein Gedanke, ob dieses doch recht kontinuierliche Konsumieren dieser Sendung vor allem in der Nacht nicht doch einen eher unguten Einfluss auf meine  mentale Befindlichkeit hätte?
Ich meine... Angst vor der Dunkelheit habe ich, seit ich denken kann.
Da fühle ich mich auch heute noch äußerst unwohl, wenn der Weg vom Lichtschalter zum Bett größer als eine Schrittlänge ist. Wenn der Mann mal außerhäusig ist, gibts den schon auch immer noch mal, diesen beherzten Satz und Sprung aufs Federbrett. 
Es gab andererseits aber eben auch diese Zeiten, also gerade in meinen wilden Singlezeiten, da war ich - wenn ich das mal so rückblickend resümiere - absolut vertrauensvoll und ziemlich unbedarft im Umgang mit anderen  Männern. Bin in fremde Städte gereist, habe fremde Wohnungen besucht, bin in fremde Autos gestiegen. Wenn ich da heute so drüber nachdenke.. ist es eigentlich unfassbar, was für ein unglaubliches Glück ich all die Jahre hatte.
Grad wenn man sich eben so diese Sendungen in Erinnerung ruft! Es ist ja tatsächlich in den seltensten Fällen ein Zufallsopfer. Meistens kannte man sich - entweder Ex-Partner oder welche aus Deinem Umfeld, die gerne Dein Partner wären. Und wenn die Dich nicht haben können, soll Dich halt auch kein anderer haben. Oder die Dich (wie in einer Folge der letzten Nacht zu sehen) für irgendwas bestrafen wollen, was Du irgendwann mal gesagt hast und dem anderen nicht passte. Oder eben Datingfeinde, die auf diesem Weg so leicht wie sonst nie an ihre Opfer kommen. 

Mit dem nunmehr so nah gerückten Umzugstermin steigt zwar die Vorfreude, aber ich stelle auch fest, dass sich mulmige Gefühle einschleichen. Wer wohnt dort mit uns, wer wohnt im Umfeld, was sind das für Menschen? Können die in unsere Fenster schauen? (Also die Fassade hochklettern wie hier in M dank dieser Holzjalousien draußen am Balkon ist da schon mal nicht möglich. Obwohl... Kommt aufs Equipment an... eventuell...) Weckt man Begehrlichkeiten? Kann sich jemand in der Tiefgarage verstecken und mich dort hinterrücks abmurksen, ohne dass mich je ein Schwein hört? Leute, ich hab so gut wie nie Bargeld einstecken - dat lohnt nich! Zahngold habe ich auch nich. Nur den Ehering und den Verlobungsring - aber das sag ich Euch, Griffel weg, Ihr Klauschweine, sonst gibts Schmorze!  
Aber mag ich in der neuen Wohnung allein schlafen, wenn der Mann verreist? Oder quartiere ich mich bei Sohnemann mit ein, der immerhin sehr bestechlich ist, wenn ich ihm dafür etwas Leckeres zu essen zubereite? 
Letzte Nacht habe ich dann beispielsweise gegoogelt, was es so für technische Schutzraffinessen an Wohnungseingangstüren gibt. Habe mir Rezensionen durchgelesen, wo einer schrieb: "Vergesst den ganzen Scheiß, klemmt Euch einfach nen Keil von innen gegen die Tür, kommt auch keiner rein."
Ich las das und dachte so bei mir: Joar... Simpel, aber geil. Wenn es denn auch funktioniert! In meiner Phantasie ist ja aber leider... ach fragt bloß nicht, was DA alles möglich ist! Da werden sämtliche physikalischen Gesetze ausgehebelt, da ist alles, wirklich al-les möglich!

Der Mann lacht nur noch über mich und rügt: "Hör einfach auf, deine Detectives-Scheiße zu gucken!" und ich glaube, er hat echt recht. Sag ich nicht so gerne, ist vermutlich aber so. Wenn ich so drüber nachdenke, vor wem und vor was ich alles so Ängste entwickle... 
Als er gestern Abend also fragte, ob ich Lust auf nen schönen Film hätte, er hätte da mal was vorbereitet, da meinte ich "Au ja!" und er startete die Serie "Wednesday". Weiß ja nicht, ob das einer von Euch schon mal gesehen hat - aber auch wenn ich weiß, dass es im Real Life keine Monster mit langen spitzen Klauen gibt: Im nebelwadernden, dunklen, lediglich wolkenverhangen-mondbeschienenem Wald damit den Bauch rasiert zu bekommen - na ich weiß ja nicht, ob DAS nun schön(er) ist!?

Vielleicht fange ich ja doch mal mit Guidos Deko-Queen an. Inspiration kann man schließlich immer gebrauchen - und bei Guido scheint die Welt immer irgendwie so in Ordnung. 

Samstag, 18. Februar 2023

Und die Spiele dauern an

 Das Lager ist zweigeteilt: Die einen verstehen, dass wir etwa acht Wochen vor dem Umzugstermin begonnen haben zu packen. Andere verstehens nicht. Immerhin hat es ja nicht lange gedauert, ehe dieser Effekt einsetzte von wegen: "Weißt du zufällig, in welche Kiste...?"
Wir haben die Umzugskartons ja gebraucht gekauft, ist ja irgendwie sonst auch schade - nur einmal benutzen und dann entsorgen. Das hatte freilich zur Folge, dass die Kartons mitunter schon ein-, zweimal beschriftet worden waren. "Reste Küche" wurde beispielsweise durchgestrichen und stattdessen "Hosen Kai" angebracht. Aus dieser hatte ich dann "Kreativ" gemacht - weils eine schöne große Kiste war, die auch schwer beladen werden darf. Und glaubt mir, Farben haben ein ganz schönes Gewicht. Grad wenn man nicht nur zehn, zwölf Tuben hat ;)
Dann aber kam der Mann, beäugte das Ganze misstrauisch und meinte dann: "Ne! Hätteste mich mal vorher gefragt, die Schwerebox hatte ich für was anderes gedacht."
Also hat er alles aus- und umgepackt und jetzt steht neben der Resteküche, dem Hosenkai und dem Kreativ "Arbeitszimmer/ LPs" *kreisch*

Inzwischen haben wir beschlossen, gar nichts mehr auf die Kartons zu schreiben. Wir werden einfach alles umziehen und dann in der neuen Wohnung die Kartons sortieren. Zumal mittlerweile in einer Box mehrere Dinge einsortiert sind: Küche, Arbeitszimmer, Schuhe.
Ich sach da schon lange nix mehr dazu - ich lass dem Stapelmonster einfach seinen Einpackmechanismus und begnügte mich inzwischen damit, mir Säcke zu kaufen und die Klamotten einzusortieren und zu beschriften. Einmal zugeschnürt, bleiben die Säcke schließlich, wie sie sind. Nebenher surfte ich ein wenig im Netz und schlich wochenlang um ein Reinigungsset herum, elektrisch und mit verschiedenen Bürstenköpfen ausgestattet, das mir insbesondere das Reinigen der Fliesenfugen und -ecken erleichtern sollte. Das ganze Bad immer nur rein manuell zu schrubben war mir auf Dauer einfach zu nervig und zu anstrengend. Könnte mich ja jetzt herausreden mit körperlichen Gebrechen und so - aber die Wahrheit ist: Wenn etwas zu lange dauert, verliere ich die Lust. Bei mir muss es in den allermeisten Fällen immer zack-zack gehen, jedenfalls dann, wenn ICH mir was in den Kopf gesetzt hab :)
Als vor vielen Jahren die Zwillinge-Geborenen mal damit beschrieben wurden, dass es ihnen zu langweilig sei, ein ganzes Haus zu bauen, sie würden stattdessen lieber drei Baugruben ausheben, da habe ich zustimmend gelacht.
Gestern dann hat der Mann gemeckert, von wegen, wir wollten uns doch immer abstimmen und so, bevor einer was kauft. Fairerweise müsste er aber wissen: ER hat das gesagt und gefordert. ICH hab darauf aber gar nix geantwortet, sondern geschwiegen und gedacht: "Öhm... nö..." ;)
Ist übrigens auch so einer der Gründe, warum ich kein gemeinsames Konto will: Wir verdienen beide unser Geld, wir wirtschaften gemeinsam, wir legen gemeinsam zur Seite - und was jeder mit dem Rest macht, will ich weder wissen noch rechtfertigen. 

Jedenfalls sind wir inzwischen eigentlich ganz gut vorangekommen. Leichte zerbrechliche und wertvolle Dinge habe ich Stück für Stück bzw. Fahrt für Fahrt mit in meine kleine Wohnung nach L genommen, das holen wir dann alles später ab, wenn wir in unsere große Wohnung in L gezogen sind. Rund 35 gepackte Kisten stapeln sich mittlerweile um meinen Home Office-Arbeitsplatz (ich errichte sozusagen Mauern um mich herum ;)), im Schlafzimmer ist auch schon einiges abgebaut - aber irgendwie... So wirklich Land in Sicht sehe ich da noch nicht. Auch empfand ich es als anstrengend, dass der Mann kleine Häufchen zu sortieren begann, die überall auf den Kisten herumlagen: "Das kommt mal in die Kiste, wenn wir das und das packen; das kommt in die andere.." usw.
Das machte mich wahnsinnig. Das machte mich nervös. Der Monk kreischt schon gar nicht mehr, der hängt demonstrativ mit den Füßen nach oben in der Ecke und heult jeden Tag ein bisschen leise vor sich hin.
Und weil der Mann gestern eh schon scheiße drauf war, habsch noch einen draufgesetzt und ihn dazu gebracht, dieses kleine Krimskrams-Zeug alles in eine oder auch zwei neue Kisten zu verpacken. Und dann hab ich mein Bürstenset rausgeholt und im Bad begonnen zu testen.
Erst hat er ja ein bisschen rumgemeckert von wegen abstimmen und so, aber dann stand er doch ganz interessiert neben mir, schaute mir über die Schultern, sprach irgendwann nur: "Hm na ja" und ging dann. 

Das Bürstenset ist jetzt vielleicht nicht ganz so wie erwartet, Fliesen zu polieren geht beispielsweise nicht so wie gedacht (wie man damit also Fenster putzen soll, ist mir echt ein Rätsel). Nachwischen mit einem trockenen weichen Lappen ist also immer noch ein Muss. Aber Seifenreste bekommt man damit super aus den Fugen geputzt, ohne sich großartig anzustrengen. Fetzt mir. Gefällt mir. Und weil der Mann und ich aktuell wieder an Corona erkrankt sind (also er erstmals, ich ein zweites Mal innerhalb von zwei Monaten - erst brachte es im Dezember der Sohn mit heim, dieses Mal der Mann), gefällt mir der Gedanke, alles ohne große Kraftanstrengung reinigen zu können, umso mehr.

Meine Mama jedenfalls lacht nur noch und sagt: "Ihr werdet das schon machen."
Das denke ich auch. Aber ich werde auch nicht drei, sondern mindestens zehn Kreuze setzen, wenn wir das hier alles hinter uns haben.

Mittwoch, 8. Februar 2023

33

 


Als ich Dir heute morgen um Null Uhr Fünf gratulierte, weil wir beide um diese Zeit noch nicht schlafen konnten, da erzählte ich Dir, dass ich vor genau 33 Jahren nachts um diese Zeit mit Deinem Vater den Klinikgang auf und ab ging und es trotzdem noch bis 9.29 Uhr dauerte, bis Du endlich auf dieser Welt warst. Ich weiß noch, wie sie Dich das allererste Mal noch im Kreißsaal in meinen Arm legten und ich spontan dachte, dass Du die winzige Miniaturausgabe Deines Opas seist :)

Ich fragte Dich letzte Nacht, ob ich die Kerzen auf Deinem Geburtstagstisch anzünden sollte, damit Du Dir etwas wünschen könntest, bevor Du sie auspusten würdest. 
Aber Du hattest keinen Bock mehr aufzustehen nach der langen Schicht in der Klinik. Überhaupt bist Du heute der Meinung, dass Du keine Feier, keine Geschenke, keine Gratulanten und auch überhaupt nix brauchst. 
Aus Deiner Sicht ist Dein Geburtstag nichts Besonderes - für alle anderen um Dich herum aber, die Dich lieben, ist er etwas Besonderes: Weil DU besonders bist. 
Ich kenne kaum jemanden, der so feinfühlig ist wie Du. Du spürst immer und immer sofort, wenn irgendetwas nicht stimmt. Meist noch bevor überhaupt jemand etwas gesagt hat. 
An Dir jedoch erlebe ich jeden Tag, was es mit einem Menschen macht, wenn er zuviel allein ist. 
"Er hat ein Herz aus Gold", hat Dein Bruder früher öfter über Dich gesagt - und absolut Recht damit.
Du selbst empfindest es überhaupt nicht mehr so, willst es auch nicht mehr so sehen und sobald Dir jemand zu  nah kommt, fährst Du sofort Dein ruppiges Schutzschild hoch. Du willst an nichts mehr glauben und willst auch nicht mehr vertrauen. 
Auch meinen Worten und meinen Gedanken und meiner tiefen inneren Überzeugung willst Du nicht glauben, dass das Leben auch für Dich noch ganz viel Wundervolles vorbereitet hat. Weil das Glück zu jedem Menschen kommt, der es auch verdient. Und Du bist einer dieser wunderbaren Menschen, die (leider) zu sehr an sich selbst zweifeln. 
Weißt Du, in Norwegen sagen die Menschen: "Alles kommt zur rechten Zeit für den, der warten kann." Mich selbst hat ja dieser Gedanke, dieses Lebensgefühl durch ganz viele schwierige Zeiten getragen, die alles andere als gut und schön waren.
Und genau das wünschen wir Dir so sehr von Herzen: dass Du das bekommst, was Dich glücklich macht - und dass wir dann bei Dir sein und das miterleben dürfen. Und auch wenn Du noch so die Augen verdrehst, abwinkst oder schroff reagierst: Ich empfinde wirklich tiefe Zuversicht darin, dass auch Du Dein Glück findest. Bei Dir hat alles immer länger gedauert als bei anderen - also was solls? :)

Heute, rückblickend, kann man doch eins sagen: 
Über das Leben hast DU mich das Grundlegendste gelernt. Wie man sich durchsetzt. Wie man sich widersetzt.
In der 4. Klasse sollte ich Dich ausschulen und auf eine Sonderschule oder wenigstens eine Sprachheilschule bringen. 
Weil Dein Geist so wendig und beweglich war, dass Du schneller dachtest als Du sprechen konntest - und Dich damit oft verhaspelt und zu oft zu viele Dinge gleichzeitig erzählen wolltest. Für mein damaliges Empfinden rechtfertigte das weder eine Sonderschule noch eine Sprachheilschule. Also habe ich Dich auch da gelassen, wo Du warst - und alles war gut und richtig so!
Deine Noten bewegten sich zwar eher immer im mäßigen Bereich - außer in den Fächern, die Dich interessierten: Astronomie und Geografie. 
Aber so war es eigentlich immer: Was Dich nicht interessierte, fiel komplett "hinten runter". Und Du sagtest selber mal: "Wär ich nicht so verspielt gewesen, ich hätte viel mehr erreichen können."
So war es auch in Deiner ersten Ausbildung zum Elektroniker. Jahre später sagtest Du mal zu mir, dass Du in der Zeit der Ausbildung noch viel zu verträumt gewesen warst - und deshalb den Bogen nicht mehr spannen konntest, um die Ausbildung nicht nur abzuschließen, sondern anschließend auch in diesem Beruf arbeiten zu können.
Deine Berufsschule bestellte Deinen Vater und mich ein und legte uns nahe, auf Dich einzuwirken, die Ausbildung abzubrechen - ein halbes Jahr vor dem Abschluss. Sie waren der Meinung, Du würdest das Ziel sowieso nicht erreichen.
Aber Du hast es erreicht. Du hast Deinen Abschluss bekommen - und im selben Jahr die Ausbildung im medizinischen Bereich begonnen. 
Nebenbei hast Du Deinen Führerschein gemacht - selbst vom eigenen knappen Geld abgespart. Und Dir von Deinem eigenen Geld ein erstes, wenn auch altes, gebrauchtes Auto gekauft. Ganz ehrlich? Menschen wie Dich liebe ich: Die brauchen keine Statussymbole, die wollen auch keine. Natürlich haben Menschen wie Du Träume - aber sie müssen sich kein Leben auf Pump und Protz und Gloria aufbauen, nur um der Welt zu zeigen: Ey, ich bin wer, ich kann was, ich hab was.
Dir war immer wichtig, dass Du Dir DEINE Träume erfüllen kannst - und nicht die anderer. 
Ich erinnere mich noch so gut an diese Jahre. Wie oft ich geflucht und mir das Haar gerauft hatte ob Deiner Unbefangenheit und Verträumtheit - aber auch unfassbar stolz auf Dich war. 
Du hast allen immer und immer wieder das Gegenteil ihrer pessimistischen Prognose bewiesen. Und auch dafür liebe ich Dich sehr!
In jeder Deiner Entwicklungsphasen erkannte und erkenne ich mich selbst immer wieder. 
Nach Deiner zweiten Ausbildung hat es Jahre gedauert, ehe Du im medizinischen Sektor Fuß fassen konntest. Zwar bist Du über etliche Umwege heute im Klinikalltag gelandet und auch in einem ganz anderen Bereich als dem, den Du gelernt hast. Aber nach zwei Jahren "Probezeit" haben sie Dich ohne Wenn und Aber übernommen - und Dein vorheriger Arbeitgeber hat monatelang um Dich gekämpft. Dass Du bleibst. Dass Du zurückkommst. 
Ich bin so, so froh, dass Du Dich nicht überreden lassen hast, weil das Vorherige einfach keine Perspektive für Dich bot. Inzwischen scheint die Zeit zu beweisen, dass ich damit auch ziemlich richtig lag.
Gleichwohl hat es mich wirklich sehr gefreut, dass da endlich mal Arbeitgeber waren, die unbedingt DICH wollten. Du hast endlich eine Wertschätzung erfahren, die Dir schon so lange gebührte. 
Und dass Du mal eines Tages mit dem Rauchen aufhörst, daran hat auch keiner geglaubt. Wenn ich ehrlich sein soll: Auch ich nicht ;) Du hast so unfassbar viel geraucht, dass es selbst für mich als Nichtraucher schwer vorstellbar war, dass Du so einen Willen auch nur ansatzweise aufbringen könntest. 
Und auch hier hast Du uns alle, wirklich ALLE überrascht: Seit dem 5. September hast Du keine Zigarette mehr angefasst - das sind allein bei diesem ersten Versuch immerhin schon fünf stolze Monate. Und ich bin auch hier wirklich wahnsinnig stolz auf Dich, mein Hase. 

Dass wir wieder nach L zurückkommen nächsten Monat, hat auch etwas mit Dir zu tun. Ich weiß, dass ich kein Ersatz bin für das, was Du eigentlich brauchst - und das versuche ich auch gar nicht zu sein. Denn ich weiß auch, dass man immer noch für jemanden da sein kann. Dass man jemanden auf zurückhaltende Weise begleiten kann. Und sei es nur, indem man sich Zeit für den anderen nimmt, wann immer der andere es braucht. Dass man an einem Tisch sitzt, dem anderen etwas zu essen bereitet oder einfach nur gemeinsam auf dem Sofa lümmelt. Dass wir miteinander sprechen oder auch einfach nur miteinander zocken können. Dass Du mit dem Mann zum Fußball gehst oder zu dritt mit dem Bruder durch die Kneipenmeile ziehst. Dass Du wieder mehr unter die Menschen kommst, wieder mehr in das Leben zurückfindest, an dem Du zu gern teilhaben möchtest, solange man keine Hoffnungen in Dir schürt, die dann gedankenloserweise wieder enttäuscht werden. 

Natürlich denkst Du, dass niemand auch nur ansatzweise nachvollziehen kann, wie Du Dich fühlst. Du siehst den Mann und mich, Du siehst Deinen Bruder mit seiner Freundin, Du siehst die Menschen in ihren Beziehungen um Dich herum. Aber weißt Du,  nicht jeder ist eben auch glücklich bzw. hat es für ganz viele auch ein halbes Leben gedauert, ehe sie sagen konnten: "Ich bin jetzt genau da, wo ich sein wollte."
Und dieses Gefühl, mein Junge, das beginnt im Kopf. Das beginnt bei einem selbst. 
Wenn man mir genau sowas früher sagte, wusste ich überhaupt nicht, was man mir da eigentlich erzählte. Ich konnte es auch dem Gefühl nach nicht "greifen". Und mir ist bewusst, dass Du Dich genauso fühlst, wenn Du das hier liest oder wenn ich es Dir sage. 
Aber eines Tages wirst Du erfahren, was ich damit meine.. Früher oder später wirst Du es wissen. Vielleicht später, weil bei Dir ja alles immer irgendwie etwas später kam als bei anderen. Auch in diesem Punkt kommst Du haargenau nach mir :) Später heißt aber nicht nie. Egal wie Du jetzt rumfauchen wirst, wenn Du das hier hörst oder liest. Mein stachliger, ruppiger, liebenswerter, empfindsamer Wassermann :) 
Ich lieb Dich wirklich sehr und bin sehr dankbar, dass wir Dich haben. Und selbst wenn Du eines Tages einhundert Jahre alt bist, bist Du immer noch mein Junge und ich..

..Deine Mama