Samstag, 25. Mai 2013

Über den Tellerrand hinaus



In meiner Familie habe ich oft den Satz gehört: "Was kümmert mich fremdes Leid?" In so mancherlei, aber insbesondere in dieser Hinsicht bin ich froh, dass ich hier wie meine Mama bin: Anteil nehmen an Menschen, die ich kenne und auch gar nicht kenne. Anteil nehme an Schicksalen. Ich spende für ein warmes Mittagessen für Kinder hier in meiner Stadt, deren Eltern teilweise nur zu faul sind zum Arbeiten. Aber was können die Kinder dafür? Einem Bettler legte ich heute ein paar Geldstücke in den schmutzigen Becher. Ich weiß, wahrscheinlich wird ers nur versaufen oder verkiffen. Vielleicht aber auch nicht - denn etwas essen muss irgendwann ja mal jeder. Und wenn ich noch so sehr weiß, dass ein Film nur ein Film ist, so heule ich dennoch mitunter hemmungslos, wenn jemand stirbt. Ein Film spiegelt ja letztlich auch nur das wahre Leben. Okay, abgesehen von SciFi oder so einem geistigen Dünnschiss wie "Stirb langsam".
Ich nehme ebenso auch Anteil an dem Leben, das vor meinen Augen präsentiert wird.
Letzte Woche fuhr ich mit der Bahn durch die City, einmal quer durch - und ich liebe es, Menschen zuzusehen. Sie zu betrachten, wie sie miteinander reden, lachen. Nein, nicht aus voyeuristischen Gründen. Einfach nur... um teilzuhaben am Leben.
Und dann steigt ein Vater mit zwei kleinen Töchtern ein, vielleicht vier und sechs Jahre alt. Die Mädchen stehen vor Schmutz. Im Gesicht, auf den Haaren, auf der Kleidung. Die Große trägt Sachen, aus denen sie sichtbar herausgewachsen ist. Das Shirt, aber vor allem die Hose. Sie ist nicht nur zu kurz, sie ist auch so dermaßen zu eng, dass sich beim Hinsetzen die Hose von selbst herunterzieht - und der Po freiliegt. Sie zuppelt daran herum, doch sobald sie sich wieder hinsetzt, rutscht ihr die Hose immer wieder über den Po. Ich schaue dieses Mädchen an - und in mir strömt spontan das Bedürfnis hoch, diese zwei Süßen in die Badewanne zu stecken, ihnen das Haar zu waschen und zu kämmen, ihnen saubere Sachen anzuziehen. Sachen, die ihnen auch passen. Ich versuche mir einzureden, dass sie womöglich nur vom Spielplatz kommen; hey, da sahen meine Jungs auch oft lecker aus. Aber mit Sachen, die viel zu klein, viel zu eng geworden sind?
Armut in Deutschland ist und bleibt wohl auch ein brandaktuelles Thema; wohl dem, der jung und gesund ist und Arbeit hat. Dennoch - der Blick auf den Vater sagt alles. Einfach alles. Der sieht nicht, dass seine Tochter mit blankem Po auf dem Sitz hängt. Nein, er kann es nicht sehen, weil er ein Smartphone aus der Tasche holt und darauf herumspielt. Ein neues, teures Modell; zufällig weiß ich das, weil Junior II aktuell danach begehrt. Und der Vater surft im Internet, nur ein kurzes: "Renne hier nisch rum, Schackeline!"-Geraunze an die Jüngere ist von ihm zu hören, dazu guckt er nicht mal hoch.
Mich geht das im Grunde nichts an. Oder?  Erst als die Bahn hält, begegnen sich unsere Blicke und sein Blick folgt dem meinen zu seiner Tochter. "Ziehste ma de Hosen ordentlich hoch oder was?" Mich würgt es. Mir klopft das Blut in den Ohren: "Wie wärs mit einer neuen Hose in ihrer Größe?"
"Das gäht disch een Scheißdreck an", kriege ich - na klar - zur Antwort. Was soll er auch sagen. Rot ist er geworden, die Leute gucken, ich steige aus. Ich denke, die Tochter wird keine neue Hose bekommen.
Sowas macht mich echt krank. Wieso kriegen Leute Kinder, wenn ihnen alles zuviel ist? Es gibt Kleiderkammern, auch bei uns. Dann kann man eben nicht das neueste Smartphone mit Internetflat haben, wenns für die Kinder nicht reicht! Verdammt noch mal!
Und dann wiederum gibt es Menschen, die sich so sehnlichst ein Kind wünschen - und bekommen es nicht. Die ein Haus gekauft haben, die alles für ein Kind vorbereitet haben - und dann vom Arzt gesagt bekommen, dass die Wahrscheinlichkeit bei ein bis drei Prozent liegt! Ich weiß nicht genau, wie lange sie sich schon nach einem Kind sehnt. Sechs Jahre? Acht Jahre? "Ich bin eigentlich schon fast zu alt", sagt sie mit ihren vierunddreißig Jahren - und mir dreht sich das Herz um, wenn ich an sie denke. Und an die zwei Mädels aus der Bahn. Ein Beispiel von Tausenden und noch mehr.
Ein Beispiel von vielen, das mir immer und immer wieder unter die Haut geht. Und Spuren hinterlässt, mehr oder weniger.
"Du kannst die Welt nicht besser machen", ist mir schon früher oft gesagt worden. Nein, das kann ich nicht. Aber jeder für sich selbst kann sie jeden Tag ein bisschen besser machen. Wenn er denn wollte.

5 Kommentare:

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Bei solchen Sätzen "Ich spende für ein warmes Mittagessen für Kinder hier in meiner Stadt, deren Eltern teilweise nur zu faul sind zum Arbeiten" bin ich sehr allergisch. Wie viele dieser Schicksale kennst du wirklich persönlich?
Mein Westchef 1990 hat auch mal gesagt: "Wenn alle so wären wie Sie, dann könnte ich mich mit den Leuten aus der DDR arrangieren." Darauf ich prompt und gleich und obwohl noch in der Probezeit: "Wie viele aus der DDR kennen Sie denn überhaupt wirklich?"

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Der vorhergehende Kommentar ist versehentlich abgeschickt worden, weil das Händeln von Kommentaren bei Blogspot wirklich komplizierter ist als bei WP.
Ich weiß nicht, wie ich mich im Fall der beiden Mädchen mit ihrem desinteressierten Vater verhalten hätte. Vielleicht hat er die beiden sogar nur zu seinem Vaterwochenende, wo sie ihm im Grunde genommen lästig sind. Ich hätte vielleicht auch was gesagt, was "ungehört" geblieben wäre.
Liebe Grüße zu dir von mir

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Clara, persönlich kenne ich kaum deren Schicksale, aber machen wir uns auch nichts vor: Ich selbst habe schon mehrmals im Jobcenter gesessen, aus verschiedenen Gründen - und mir sind immer wieder Leute begegnet, die nur ihren Schein, ihre Unterschrift, ihren Stempel wollen; alles, aber bitte keinen Job mit geregelten Zeiten und das auch noch 8 Stunden pro Tag.
Ich denke, meine Freundin bei der ARGE könnte da genug Geschichten auf den Tisch legen.
Natürlich ist mir bewusst, dass das nicht für alle Menschen und nicht für alle Eltern gilt. Das war auch nicht das, was ich sagen wollte.
Und der Vater der Mädels.. Auch wenn er seine Töchter nur teilweise sehen sollte, ist er nicht aus seiner Verantwortung heraus. Ebenso wenig wie die Mutter der Kinder, die nicht dabei war.
Von diesem Punkt bin ich persönlich betroffen: Der Vater meiner Söhne hat es nie für nötig gehalten, Unterhalt zu zahlen oder sich wenigstens an Klassenfahrten etc. zu beteiligen. Er hat mir stattdessen wahlweise gedroht; anfangs damit, mir was antun zu lassen, wenn ich versuche, Unterhalt zu kriegen, und später dann damit, dass er seinen Job hinschmeißt oder sich wenigstens in den Stunden runtersetzen lässt. Er musste sich nämlich einen nagelneuen Audi kaufen mit den fettesten Reifen & Alufelgen - und er muss zweimal im Jahr in Urlaub fahren. Während ich zehn Jahre nicht im Urlaub war, zwei Jobs betreibe und mein Körper mir nicht nur durch die unlängst zwei überstandenen Magengeschwüre zeigt, dass ich endlich mal halblang machen soll.
Ich hatte aber auch viel Glück im Leben und habe auch viel Hilfe und Unterstützung erfahren. Das hat nicht jeder, das ist mir auch bewusst. Darum spende ich an Organisationen wie diese hier, die sich um Mittagessen für Kinder kümmern.

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Du magst ja im einzelnen mit der Be- und Verurteilung von Arbeitslosen durchaus Recht haben. Aber ich selbst war 6 Jahre lang Hartz-IV-Empfänger und bin auf dem Amt oft Amok gelaufen, weil sie nichts hatten, weil 100 Bewerbungen nichts brachten, weil ich viel zu alt war. Deswegen bin ich da sehr allergisch. Im Blog die Gudrun bei mir tut auch alles, um da rauszukommen - sie ist 57, will sich selbständig machen. Ich kenne eben immer nur die aktiven, die arbeiten woll(t)en.
Also, Vorsicht bei Pauschalverurteilungen.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Hey, auch ich kenne Menschen, die verzweifelt versuchen, aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen. Würde ich pauschalieren, hätte ich dann aber doch gesagt: "Ich spende für Kinder, weil ihre Eltern zu faul zum Arbeiten sind." Das tu ich nicht, Clara.
Ich sagte "teilweise", denn auf einen Teil der Hartz IV-Empfänger trifft es einfach zu. Ehrlich gesagt, habe ich manchmal Angst davor, älter zu werden und dann im Job "ausgemustert" zu sein, weil man heutzutage schon mit 35 gesagt bekommt, dass man zu alt ist. Vollkommen bekloppt.
Mir ist ebenso bewusst, dass Menschen, die sich äußerlich gehenlassen, oftmals nur noch resigniert sind - eben weil sie hundertfach abgewiesen wurden und irgendwann die Energie ausgeht und auch die Hoffnung darauf, dass sie eines Tages noch mal Glück haben.
Ich verurteile und beurteile niemanden, der Hartz IV bezieht, denn heutzutage kann man schneller dahin kommen, als man bis 10 gezählt hat. Das gilt für alle, auch für die, die glauben, sie säßen in einem festen Sattel.
Was ich nicht nachvollziehen kann und will, sind die 20 - 30jährigen, die Unterstützung kassieren und der Meinung sind, von Stütze und Kindergeld lebt es sich auch ganz gut - und stressfrei.
Alles in allem ist das ein Thema, das immer schon heftigste Debatten ausgelöst hat.
In diesem Post ging es mir jedoch weniger um die Hartz IV Empfänger als solches, sondern darum, dass Eltern Kinder bekommen, um die sie sich nicht kümmern können oder wollen - während andere wiederum sehnlichst ein Baby wünschen und deren Chance bei Null oder maximal 3 Prozent liegt. Ausgelöst durch eine Unterhaltung, die ich gestern mit einer Betroffenen darüber hatte - und mit dieser Begegnung in der Bahn im Hinterkopf.