Sonntag, 15. November 2015

Im Krieg und in der Liebe


Da soll alles erlaubt sein, sagt man. Ich finde diese Aussage als eine der am wenigsten zutreffendsten, die es gibt. Als eine der geschmacklosesten und widerlichsten, wenn man mal genauer darüber nachdenkt, was man da eigentlich sagt.
Als ich gestern über die neue Brille schrieb und in diesem Zusammenhang über den sinnbildlichen Durchblick über Hintergründe und Wahrheiten über Ereignisse, da vermochte ich noch gar nicht in Worte zu fassen, was dann Ken (der leider - wie ich finde - viel zu selten schreibt) "für mich" übernahm.
Treffender kann man es wirklich nicht mehr bezeichnen. Schon als es im Januar überall hieß "Wir sind Charlie", Profilfotos in FB, whatsapp & Co. geändert wurden, hat es mir irgendwie... die Augenbrauen hochgezogen. Und wiederhole an dieser Stelle die Frage, die Ken so treffend gestellt hat:
"Warum sind wir nicht Syrien? Warum sind wir nicht Palästina, Lybien, Ukraine, Irak, Turkmenistan oder Afghanistan? Ist es zweitrangig, dass dort jeden Tag Kinder, Frauen und Männer sterben? Sind das Menschen zweiter Klasse?"
Ja, es hat mich entsetzt und schockiert, was Freitagnacht in Paris passiert ist. Aber eins verstehe ich eben nicht: Was macht das Leben der Pariser anders als das Leben in all den anderen Staaten, in denen einfach keine Ruhe einkehrt?
Die National-Elf war in Paris. Übernachtete im Stadion und ließ am Morgen ihre persönlichen Sachen aus dem Hotel holen. Sie ließen sie holen. Sie holten sie nicht selbst. Aus Angst vor einem weiteren Anschlag? Ist ihr Leben mehr wert als das derjenigen, die sie vorschickten? Nur weil für die Elfer Millionen bezahlt wurden, die man ja nicht in den Sand gesetzt haben will? Geht es noch menschenverachtender?
Ist ein Anschlag in Frankreich näher als der in Syrien? Als in Afghanistan? Weil es hier neben uns stattfindet - und wir uns spätestens jetzt beginnen zu fragen: "Und wann kommt es zu uns?" Weil Krieg, Not und Elend immer noch weit genug weg waren? Und jetzt erneut und mit Nachdruck die Urängste befeuert werden, die um die Kinder, Familie, um die Menschen, die wir lieben? Um uns selbst?
Denn ehrlich: Ich lebe in einer Stadt, in der nicht abwegig wäre, wenn wie vor Jahren in Madrid Sprengsätze in der U-Bahn explodieren. Oder der Weihnachtsmarkt... Tausende von Menschen im Stadtinneren - vielleicht auch ein Ziel? Ängste zulassen, sich aber nicht beherrschen lassen...
Manchmal sagt sich das so leicht. Angesichts der Ereignisse, von denen wir tagtäglich hören und lesen. Wenn der Mann und ich Bundeswehr- und Polizeihubschrauber beobachten, wie sie unweit vor uns am Himmel kreisen, am Tag und auch in der Nacht. "Sie suchen wieder jemanden", sagte der Mann. "Kommt so zweimal im Jahr vor, dass sie nachts mit Wärmebildkameras den Fluss absuchen."
Und ich stehe da und frage mich beklommen: Suchen sie tatsächlich nach jemandem, der vermisst wird? Oder nach was suchen sie wirklich?
Schlagen wir die Geschichtsbücher auf, gab es wohl keine einzige Epoche, in der die Menschen nicht miteinander gekämpft haben. Es hat sich "nur" ihre Technik verändert. Beängstigend verändert, dass mit einem Schlag Tausende Menschen ihr Leben verlieren, Menschen wie Du und ich, die mit diesem verdammten scheiß Krieg genauso wenig zu tun haben wie wir.
Beängstigend verändert, dass mit einem Schlag Millionen von Menschen ihr Leben verlieren könnten, wenn nur einer den falschen Knopf drückt. Grausam und brutal war der Mensch schon immer, so, wie er immer schon nach mehr Macht und Geld gegiert hat; nach Besitz, der nicht seiner war.
Und der, der nicht danach giert, diese Gier aber unterstützt, indem er Waffen verkauft, Sprengsätze, Kampfmittel aller Art und damit die eigene Wirtschaft stützt - ist der weniger schuldig als der, der die Waffe in die Hand genommen hat?? Nein, ist er nicht! WIR sind nicht weniger schuldig. Und warum stehen wir dann nicht auf? Schauen wir so lange zu, bis es uns eines Tages selber trifft?
Die Arroganz der Ami's kotzt mich an; die, mit der sie sich für die Weltpolizei halten und glauben, unter diesem Deckmantel dürften sie alles und hätten auch alle Freiheiten der Welt, für oder gegen etwas zu sein. Und allen anderen zu diktieren, was sie zu tun und zu lassen haben.
Sehr bezeichnend übrigens in einer Folge "Castle", dass der Schriftsteller, der den Stoff seiner Romane aus dem Begleiten "echter" Fälle zieht, sich das Bein verletzt, zu Hause bleiben muss und sich langweilt. Bis er dank Fernglas und so feststellt, dass im Haus gegenüber ein Mann seine Verlobte umbringt. Inklusive Blutspritzer an der weißen Wand, die man erfolglos versucht hatte zu übertünchen. Fünfundvierzig Minuten lang Spurensuche, bis sich im Finale herausstellt: War ja gar kein Mordfall - war alles nur inszeniert, um dem gelangweilten Geliebten etwas Ablenkung zu verschaffen und die Laune aufzubessern: "Surprise!! And Happy Birthday to you!" Und er sagt: "Das ist das schönste Geburtstagsgeschenk, das ich je bekommen habe!"
Sorry, aber bei sowas muss ich einfach nur noch kotzen.
Wenn sowas die schönsten Geschenke definiert, dann will ich überhaupt nicht mehr beschenkt werden.

Heute Nachmittag schaute der Mann "Die Tribute von Panem". Und ich sage: "Verstehe ich nicht, sowas. Da bescheißen sie sich sonst immer wegen FSK, und jetzt bringen sie Mord und Totschlag schon am Sonntagnachmittag. Für die ganze Familie." Ich habe mich da lieber an meinen Schreibtisch gesetzt, die Kopfhörer aufgesetzt, weil ich alles, das mit Gewalt und Töten von Grund auf verabscheue, weil ich gespielte Gewalt und Töten nicht mehr sehen will und auch das gespielte Schreien von irgendwelchen Darstellern mir gehörig auf den Sack geht. Gibt es nicht schon genug Brutalität im wahren Leben?
Ja, ich schaue dann und wann gerne Shopping Queen. Nicht, weil ich mich nicht für das reale Leben interessiere. Sondern weil es - ausgenommen vom Musikantenstadl oder von Kochshows, die ich alle nicht schaue - eine Sendung ist, die ohne jegliche Gewalt und auch ohne jegliche fäkalen und sonstige Kraftausdrücke auskommt. Ich empfinde das insbesondere momentan als unglaublich wohltuend! Als irgendwie bereinigend!
Ganz im Gegensatz zum Beispiel auch zu gewissen anderen Shows, die einfach nicht ohne Beleidigungen auskommt, bei denen sich das Publikum begeistert auf die Schenkel schlägt und kreischend klatscht. Selbstdarstellungen vom Feinsten auf Kosten anderer.
"Dann schau doch einfach keinen TV mehr", könnte man jetzt sagen. Aber ist das die Lösung? Auf alles nach und nach verzichten, weil "das einfach nicht mehr geht"? Ist DAS die Lösung? Verzicht statt besser machen? Wegschauen statt besser machen?

7 Kommentare:

Goldi hat gesagt…

Danke für Deine Gedanken :-*

Auf all Deine Fragen: Nein es ist nicht die Lösung, aber manchmal ist für mich wegschauen, woanders hinschauen die einzige Möglichkeit abzuschalten.

Clara Himmelhoch hat gesagt…

99,9 % deiner Worte, Sätze und Bemerkungen unterschreibe ich, sehe ich auch so - nur schaue ich nicht die Shoping Queen, sondern "In aller Freundschaft", weil es dort zwar auch Blut gibt, aber nur im medizinischen Sinne, keine Gewalt, ein wenig menschliche Intrigen schon, aber alles viel erträglicher als im echten Leben. -
Deutschland ist zu einem großen Teil mit Schuld, dass die Flüchtlinge vor Krieg und Terror in ihren Ländern fliehen - unsere Waffen waren es zum Teil auch, die dort eingesetzt wurden.

Gute Nacht sagt Clara

Anonym hat gesagt…

Warum wir Charlie oder Paris sind und nicht Syrien, Lybien o.ä.? Weil "der Rest" zu weit weg ist und man sich das mit einem "sollen die da unten mal machen" vom Hals hält. Vielleicht sind wir auch schon so abgestumpft, dass es [Achtung zynisch] "Knalleffekte" braucht, um unsere Aufmerksamkeit zu bekommen. Darüber hinaus schockt ein Anschlag, der theoretisch auch jederzeit hier geschehen könnte viel mehr, während ein "größenwahnsinniges Zensiert", das sein eigenes Volk niedermetzelt, hier eher unwahrscheinlich ist - also betrifft es uns nicht.

@Dann schau doch einfach kein TV mehr: So ähnlich handhabe ich das tatsächlich. Ich zappe mich grundsätzlich nicht mehr durch die Kanäle, schaue nur sehr wenige u. ausgewählte Sendungen [alles, was vom Fremdschämen lebt oder Selbstdarstellern ein Forum bietet, gehört nicht dazu. Vor Gewalt strotzende und mit einer extremen Anhäufung von Kraftausdrücken durchzogene Filme/Bücher meide ich auch]und baue stattdessen meine DVD-Sammlung aus. Momentan stehen Audrey Hepburn und Marilyn Monroe hoch im Kurs. Und um die Weihnachtszeit rum natürlich Märchenfilme. Habe nur Schiss, dass das komplett nach hinten losgeht, denn derzeit kann ich nicht mal einen Tatort sehen, ohne dass mich das komplett runterzieht, also steht dann gelegentlich bewusstes Abhärten auf dem Programm.

LG Frl.K

Anna hat gesagt…

Nachtrag: In diese Kategorie, "warum wir nicht Syrien, Lybien, Palästina o.ä. sind" passt es vielleicht auch, dass es Menschen gibt, die durch die Weltgeschichte gondeln,dabei aber gekonnt ausblenden, dass - während sie alle Annehmlichkeiten in ihrem 5*Ressort genießen - quasi nebenan Menschen verhungern. Und/oder keinen Zugang zu Trinkwasser u. medzinischer Versorgung haben. Und für die dieses Elend lediglich eine den Urlaubsspaß mindernde Belästigung darstellt. Ich glaube, dass diese Art der Gehirnakrobatik, bestimmte Dinge auszublenden, einfach menschlich ist... so erbärmlich es auch ist. Anderenfalls wäre uns ständig bewusst, dass unser Leben ebenso endlich ist. Und manchmal denke ich mir, dass vieles in dieser Gesellschaft nur funktioniert, weil man sich gar nicht bewusst macht, wie kostbar und begrenzt die Lebenszeit ist. ;)

Hedi hat gesagt…

Ja natürlich ist es JETZT auf einmal nahe, wenn in Paris Menschen ums Leben kommen. Syrien, wo bitte ist Syrien? Als ich vor 1 1/2 Jahren mit Freunden über einen Bekannten von mir sprach, der aus Syrien kommt und der mir erzählte, wie seine Familie dort noch lebt und das es dort nichts mehr gibt, erntete das nur Schulterzucken. Syrien? Krieg? Es interessierte in der Tat keine Sau. Er war in Ägypten hängengeblieben, wollte dort nur weg aber zu dem Zeitpunkt waren allerortens die Grenzen für Syrer zu. Im Juni letzen Jahre ist er dann doch ausgereist, wie er das geschafft hat, weiß ich bis heute nicht, ich weiß nur er lebt jetzt in Schweden. Jedenfalls, ich schließe mich da überhaupt nicht aus, es war bisher alles so "schön" weit weit weg. Und ganz tief in mir drin, bekenne ich: ich möchte jetzt doch nicht so gerne nach Hamburg fahren "müssen" oder gar Berlin....ich bin froh in der Pampa zu wohnen, weil ich dann hoffen kann, wir bleiben vor Anschlägen verschont....das klingt auch schräg, aber ich bin ehrlich...ich habe Angst..

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Da bin ich wieder...
Liebe Goldi, ja, das empfinde ich genauso: Wegschauen ist manchmal nur der Moment, um Luft holen zu können. Bevor es einem ganz den Hals zudrückt. So handhabe ich es ja auch, z. B. mit dem FB-Profil oder meinen "Fluchtsendungen".

Liebe Clara, als ich am Montag früh 6 Uhr im Auto Richtung L saß, habe ich mal nur Radio gehört. Die Wagenknecht war zumindest für mich die erste, die da sagte: "Solange wir die Waffen da und da hin verkaufen..." Ich weiß nicht, wie alleine sie mit dieser Aussage steht - und ob da in dieser Richtung endlich mal was in Bewegung käme. Jedoch bezweifle ich das.

Liebes Frl. K - und damit auch Shaz: Ja das ist es ja, Syrien und Afghanistan waren immer weit weg, wir wähnten uns wohl deshalb auch in einer Sicherheit, wähnten uns immer in diesem Gefühl "Bloß gut, dass wir hier leben und nicht dort". Zum ersten Mal näher kam der Krieg, als Serbien und Kroatien aufeinander losgingen und ich mich fragte: "Das ist doch auch ein Land wie wir, das war doch früher auch mal ein Sozialstaat, und wie knapp war es damals, 1989, bei uns?"
Momentan entziehe ich mich zum Teil der Berichterstattungen: Ich möchte mich informieren, aber mich auch nicht bekloppt machen lassen. Zu viele Spekulationen, zu viele Wiederholungen, die die Angst, die ohnehin da ist, nur noch schüren. Ich wohne nicht in der Pampa, meine Söhne auch nicht - und erst vor wenigen Tagen sagte ich zum Mann, dass es vielleicht sicherer wäre, wenn wir dort wohnen würden. Am 14.11. war in jeder U-Bahn die Polizei präsent, auch auf den Bahnsteigen. Gestern gar nicht. Und es macht keinen Unterschied: Die Angst, die Beklemmung fährt dennoch mit. Überall da, wo viele Menschen sind.
Die breite Masse ist träge, und sie beginnt dann, sich in Bewegung zu setzen, wenn der von Frl. K bezeichnete Knalleffekt eintritt. Allein die Richtung ist offen.

Anna hat gesagt…
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.