Vor kurzem gab es eine Doku über eine Frau irgendwo in Deutschland, die bereits ihren einhundertundsiebten Geburtstag gefeiert hatte. Einhundertundsieben... Ein unfassbares Alter. Eine unfassbare Frau. Eine unfassbare Lebensgeschichte.
Ein Leben ohne Liebe als Kind.
Ein Leben mit Liebe nur von der Großmutter, für die sie mit sieben Jahren vier Kilometer Fußweg auf sich nahm, nur um ein einziges Mal in den Arm genommen zu werden.
Ein Leben mit einem Ehemann, der sie nicht liebte oder ihr dies zumindest nicht zu zeigen vermochte.
Ein Leben mit diesem Mann, das sie bis zu seinem Tod führt, ohne sich je zu beklagen oder gar von ihm fortzugehen.
"Natürlich habe ich ihm nicht den Tod gewünscht", höre ich sie immer noch sagen, während sie auf der Schaukel hin und her schwingt, "aber ich kann sagen, dass es danach so viel leichter wurde."
Ein Leben ohne Beschränkungen, ein Leben nur noch nach ihren Wünschen und mit dem, das sie sich immer vorgestellt hat. Irgendwo in den Siebzigern muss sie gewesen sein, als sie begann zu leben. Mit ihrer Tochter sich den Teil der Welt anzusehen, den sie sich immer schon hatte anschauen wollte.
Niemanden mehr fragen zu müssen, sich niemandem mehr unterordnen zu müssen.
Wenn diese Frau mit ihren einhundertundsieben Jahren wachen Blickes in die Kamera schaut, Fragen beantwortet oder einfach so aus ihrem Leben erzählt, dann lacht sie manchmal. Und irgendwie erkenne ich mich darin wieder: Sie lacht in jenen Momenten, in denen vermutlich die schmerzhaftesten Erinnerungen heraufgeholt werden. Ein leises Lachen, so als würde sie sagen: "Ja.. So war es eben.. und es hat weh getan." Sie lacht, damit sie nicht weint.
Diese Dokumentation nehme ich für mich mit, sie brennt sich mir ein - und ich frage mich: Muss man wirklich erst siebzig, achtzig oder gar einhundertsieben Jahre alt werden, um sein Leben so führen zu können wie man es sich immer vorgestellt hat? Was ist mit jenen, die eben keine einhundertsieben Jahre alt werden konnten? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir überhaupt siebzig, achtzig Jahre alt werden - und wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir dann nicht einander in einem Pflegeheim sitzen und uns anstarren und uns fragen, wozu der Teller vor uns steht und was wir eigentlich damit anfangen sollen?
Ich habe nicht so ein Leben geführt wie diese alte Dame, nicht unter solchen Entbehrungen, nicht unter den Ängsten des Krieges und allem, das damit verbunden war.
Ich habe Zeit meines Lebens anders gelebt - und dennoch.. Aus Gründen habe ich heute Jahre alte Krankenberichte sortiert, darin gelesen wie in einer Dokumentation über die Jahre nach dem Ende meiner Ehe. Ich habe gelesen und mich wieder erinnert, wie sie gewesen sind. Die Jahre der Ehe, das Ende, die Jahre nach dem Ende der Ehe. Was hat das alles mit mir gemacht? Wie weit bin ich heute gekommen und wie sehr habe ich all das hinter mir lassen können? Wie sehr habe ich Menschen hinter mir gelassen, lassen müssen?
Heute habe ich einen Link zugeschickt bekommen "Wie entstehen Krankheiten? Was ist die Voraussetzung für Gesundheit und Wohlbefinden?" Den habe ich mir ziemlich genau angeschaut, zweimal, um genau zu sein, und ich habe mir weitere Videos bei youtube gesucht. Die Quintessenz allen Gelesenen: All der psychische Schmerz aus Erlebnissen und Erfahrungen sammelt sich in uns - und spiegelt uns in körperlich wahrgenommenen Schmerzen. Oder Schwindel. Oder allem sonst möglichen. Zumindest, wenn wir den erfahrenen Schmerz nicht erkennen, uns nicht mit ihm auseinandersetzen - und ihn nicht zulassen. Ihn nicht verarbeiten.
Ich habe gelesen, zugehört und alle unwillkürlich aufkommenden Gedanken zugelassen.
Und dann habe ich gelächelt. Irgendwie wehmütig, aber vor allem entspannt:
Der Kern meiner beiden früheren Therapien: Vergangenes aufarbeiten und sich "aussöhnen" mit dem, was war. Weil man es nicht mehr ändern, aber lernen kann, damit umzugehen und damit zu leben. Betrachte ich heute mein Leben... Dann denke ich schon, dass mir das auch gelungen ist. Das, was war, belastet mich heute nicht mehr. Weder die Zeit des Rosenkriegs noch die Zeit der Trennung von einem Menschen, der mir alles bedeutete noch die Umstände des Unfalls 2006. So viele Jahre habe ich mich damit auseinandergesetzt, mich selbst immer wieder reflektiert, versucht, mich selbst zu sehen, mich selbst zu verstehen. Natürlich denke ich auch heute hin und wieder daran - aber es belastet mich nicht mehr. Inzwischen kann ich Dinge wieder zurücklegen in diese imaginäre Kiste. Ich kann die Erlebnisse betrachten, wenn sie aufkommen, aber ich kann sie auch wieder zurücklegen. Ich habe gelernt, Nein zu sagen (na gut, das klappt noch nicht immer zuverlässig, aber ich bin dran), und ich habe gelernt, meine eigenen Wünsche nicht nur wahrzunehmen, sondern sie auch durchzusetzen. Auch dann, wenn es meinem Umfeld nicht immer gefällt.
2003 habe ich einen für mich sehr großen Sprung gewagt.
2014 habe ich diesem Sprung einen weiteren großen Schritt hinzugefügt.
2018 zu Beginn des Jahres habe ich verstanden, dass mein Weg noch nicht zuende ist. Und was soll ich sagen... Eine unfassbare Ruhe hat sich in mir ausgebreitet, mehr und mehr hat diese Besitz von mir ergriffen, sich in jeden Zentimeter von mir ausgestreckt und mir jenes Gefühl geschenkt, das dem sanften Wippen in einem Schaukelstuhl gleichkommt... Ich habe keine Angst vor Veränderung und ich habe zugleich auch keine Angst vor einem Stillstand. Denn als Stillstand empfinde ich nicht, warten zu können. Nicht auf einen Menschen, nicht auf den richtigen Moment - sondern einfach nur für die Gewissheit in mir: Jetzt.
2018 lebe ich ein so ganz anderes Leben als in den Jahren bis 2003. Es hat mich leichter werden lassen mit der Zeit. Es hat mich glücklicher werden lassen mit der Zeit. Es hat mir vor Augen geführt, wie viel Kraft wirklich in mir steckt - und dieses Wissen tut so unfassbar gut. Und es hat mich in meiner Zuversicht bestärkt: Ich muss nicht erst einhundertundsieben Jahre alt werden, um zu leben.
Die Psyche ist die Antwort auf so unendlich vieles. Aber nicht immer auf alles.
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