Montag, 18. Juni 2018

Wer bist du und was hast du?

"Es ist schwer, in einer Stadt wie M zu leben", hat vor Jahren mal jemand zu mir gesagt. "M verändert die Menschen. Es ist schwer, man selbst zu bleiben."
Damals lebte ich noch nicht hier, damals war maximal der Hauch eines Gedanken daran verschwendet, in einer Stadt wie M zu leben.

Vor vier Jahren zog ich hierher - und ich denke, es ist schon etwas dran an den einstigen Worten. Es ist nicht nur so, dass man gemustert wird, so diese typischen Blicke von oben nach unten; wie siehst du aus, was hast du an und vor allem: Wie teuer ist das, was du trägst?
Es ist eher, dass man gar nicht erst wirklich wahrgenommen wird. Außer von älteren Menschen. Die lächeln dich dankbar an, wenn du ihnen Platz machst, wenn du sie selber anlächelst, einfach so, wenn ihr Blick gerade deinen erhascht.
Die jüngeren jedoch, insbesondere die weiblichen, die nehmen dich nicht wahr. Die gehen zu zweit, zu dritt, zu viert nebeneinander, die Handtasche in dieser grässlichen Manier in der Armbeuge, der Blick irgendwo, meist zu sich selbst - und so gehen sie einfach davon aus, dass du ihnen aus dem Weg zu gehen hast - und nicht sie dir. Oder gar noch die Front auseinanderzerren, na wo kommen wir denn da hin?
"Ich habe es mir angewöhnt, inzwischen gehe ich drauf zu oder latsche ihnen auch mal in die Hacken", sagt unbekümmert der Mann. Meine Art ist das so nicht und ich will das auch gar nicht erst zu meiner Methodik machen. Aber es nervt mich - diese Arroganz, davon auszugehen, dass man jemandem Platz zu machen hat oder dergleichen.

So wie es mich schon ein Stück weit betroffen und auch nachdenklich macht, wenn Vorschulkinder keine Freunde mit nach Hause einladen möchten, weil ihrer Meinung nach die Wohnung nicht groß und nicht schön genug ist, während ihre Freunde mit deren Eltern in Häusern wohnen. Platz ohne Ende. Wenn Vorschulkinder meinen, sie hätten kein schönes Spielzeug, obschon sie alles bekommen haben, das sie sich selbst wünschten.
Ich denke darüber nach und frage mich, ob das nur hier in M so ist oder anderswo nicht auch? Wie war das in L? Wie war das, als meine Kinder noch kleiner waren? Ich konnte ihnen nicht immer alle Wünsche erfüllen (auch wenn mein Jüngster das vor einer Weile anders bezeichnete, und man kann wohl kaum ein größeres Kompliment bekommen, wenn ein Kind sagt, dass es eine schöne Kindheit hatte und alles hatte, was es brauchte, und alles bekam, was es wünschte) und ich habe ihnen auch keine Klamotten gekauft, die ein bestimmtes Label spazieren führten. Ich habs nicht gemacht, weil ich es finanziell nicht konnte - und weil aber auch kein Bedarf danach entstand. Nicht alles, was teuer ist, ist schön. Oder ist es wert, dass man 200 Euro dafür ausgibt. Vor allem dann nicht, wenn, wie man inzwischen weiß, die teuren Klamotten auch nur in Billiglohnländern produziert werden.
Wir haben uns jedenfalls angezogen, was uns gefiel, fertig. Und natürlich haben die Kinder gesehen, was andere Kinder haben. Und wenn es ihnen gefiel, dann wollten sie es auch. Meistens aber, so hab ichs in Erinnerung, haben sie sich von der Werbung inspirieren lassen.
Ob sie sich für ihr Zuhause schämten? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, weil sich diese Frage nie stellte. Weil ich persönlich der Auffassung war, dass Platz in der kleinsten Hütte ist, wenn es nur darauf ankommt, dass man sich mag und etwas zusammen machen möchte.
Ob sie sich für ihre Kleidung schämten? Ehrlich gesagt, weiß ich auch das nicht, weil auch hier sich diese Frage nie gestellt hatte. Aber klar ist es schon so, dass ich heute Fotos von früher betrachte und denke: "Hm. Das würde ich die Jungs so heute aber echt nie anziehen lassen!" Aber okay, das denkt man ja auch von sich selbst, wenn man ältere Fotos betrachtet ;)

Als ich vor Jahren in einer Zeit, in der ich noch nicht hier wohnte, meinen Sohn über das Wochenende mit nach M genommen hatte, da sagte er am Ende jener Tage zu mir: "Also die Mädels hier sehen schon richtig gut aus. Aber die gucken einen mit dem Arsch nicht an."
Damals war er 14 oder 15 und gerade erst in der Phase, seinen eigenen Stil zu finden, dies und jenes auszuprobieren.
Ich bin nicht sicher, ob es schwer geworden wäre für ihn, sich in diese Stadt einzuleben, wenn man hier nicht geboren wurde und auch die halbe Kindheit lang woanders groß geworden ist.
Ähnliches erzählt (erst heute) der Sohn des Mannes, der es in den Jahren der Schule nicht leicht hatte und späterhin vieles dann über die stattliche Größe von inzwischen rund zwei Metern richtete.
Ich glaube, dass der Mensch nicht nur hier in M, aber vor allem auch hier Statussymbole braucht - und ich frage mich: Wofür? Um etwas zu zeigen, das ich in Wahrheit gar nicht bin? Um zu zeigen, ich bin wer, ich hab was, ich bin toll? Es geht mir super, ich bin super glücklich trallala?

“Man will nicht nur glücklich sein, sondern glücklicher als die anderen. Und das ist deshalb so schwer, weil wir die anderen für glücklicher halten als sie sind.” Charles Louis de Montesquieu

An all das dachte ich, als ich letztens vom Neurologen kam und auf dem Weg zur U-Bahn dachte: "Ne, also einen Kaffee brauche ich jetzt erst mal, bevor ich in die Bahn steige." Zum Hinsetzen und Verweilen hatte ich leider keine Zeit, doch weil ich mich kenne und auf meine Gelüste meistens auch vorbereitet bin, trug ich einen jener Mehrwegbecher in meiner Tasche, die mein Ältester mir letztes Jahr zum Geburtstag schenkte.
Den reichte ich über den Tresen, als mich eine genervte Verkäuferin fragte: "Bitte?"
Ist Euch eigentlich schon mal aufgefallen, dass sich kaum noch jemand die Zeit nimmt, in vollständigen, ganzen Sätzen zu sprechen? Es ist nicht immer nur fehlendes Bitte oder Danke, es ist insbesondere auch die Art der Kommunikation. Alles muss schnell und zack-zack gehen (auch der Mann hat da so diesen Hang, aber dann werde ich nur noch entspannter: "Ich lasse mich nicht hetzen, auch nicht von dir, du Hektiker.")
Sie schaute pikiert auf meinen Becher, dann auf mich - da war er wieder, dieser taxierende Blick -  und ich begegnete ihrem Blick gerade und direkt. "Ich hätte gern einen großen Latte Macchiato, bitte" sagte ich und lächelte. Sie lächelte nicht zurück, füllte mir den Kaffeebecher ab und wechselte den 10-Euro-Schein in ein paar Münzen zurück, die sie mürrisch klirrend auf dem Teller ablegte.

Das ist nicht nur M und auch nicht jeder ist hier so. Aber es ist vor allem M.
Ich habe mich hier erstaunlicherweise besser und schneller eingelebt als damals in L. Mir ist es dort wesentlich schwerer gefallen und ich hatte deutlich länger gebraucht.
Aber ich weiß auch, dass ich hier nicht bleiben werde.
M ist einfach nicht meine Welt. Es hat ja sowieso auch kein Meer.


4 Kommentare:

Herr MiM hat gesagt…

"Man will nicht nur glücklich sein, sondern glücklicher als die anderen."

Ich habe 12 Jahre in M gelebt. Ich würde auch sagen, dass es eine sehr gute Zeit war. Vor allem hat sie mich beruflich weit nach vorne gebracht. Zu dem glücklicher sein als andere, fällt mir eine Spruch eines dänischen Philosophen ein. Søren Aabye Kierkegaard

"Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit."

Und recht hat er damit.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Wie es beruflich wäre, kann ich nicht sagen - ich arbeite ja nicht in M (zum großen Leidwesen des Mannes ;)). Aber wenn ich Ihr Zitat so betrachte... Dann, glaube ich, ahne ich, warum ich so viel "ruhiger" lebe als der Mann.

castagiro hat gesagt…

Schlechte Nachricht: Wenn Du (wie Freud weiter oben) "von Arschlöchern umgeben bist", dann muss ich Dir sagen, das Meer alleine reisst es nicht raus - ich würde Dir viel lieber bessere Nachrichten überbringen ;)

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Hm, das wär echt schade - aber es wär mir den Versuch wert ;) Bis jetzt bin ich fast immer geplatzt vor Glück, wenn ich wieder zu Hause am Meer war. Ich hoffe nur, dass mir dann nicht auch eines Tages die Kiemen aus dem Allerwertesten wachsen :D